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Analyse des deutschen Verhängnisses

Während die "Buddenbrooks" und der "Zauberberg" unangefochtene Jahrhundertromane sind, wird über den erstmals 1947 erschienenen "Doktor Faustus" bis heute gestritten. Für die einen ist die fiktive Biographie des Komponisten Adrian Leverkühn Thomas Manns Gipfelwerk.

Von Wolfgang Schneider | 09.12.2007
    Andere bemängeln - bei allem Lob einzelner Passagen - die forcierte, nicht immer ganz schlüssige Komposition. Eine gewisse Wackligkeit war bei der atemberaubenden Übereinanderschichtung von Musikerroman, Deutschlandroman, Nietzscheroman, Münchner Gesellschaftsroman und "radikaler Autobiographie" allerdings nicht zu vermeiden.

    Der argumentative Clou des "Faustus" besteht darin, dass Deutschland nicht im Widerspruch zu seiner hohen Musikkultur den Weg in die Barbarei gegangen sei, sondern geradezu in Berufung auf sie. Und dies nicht bloß deshalb, weil Hitler Wagnerianer war und weil die Musik der hochkulturellen Verbrämung der Nazi-Herrschaft diente. Thomas Mann geht der Frage nach, ob der deutschen Kultur nicht von langer Hand her die Fatalität eingeschrieben war. Die deutsche Musik, die deutsche Romantik - sie erscheinen als "Seelenzauber" mit womöglich finsteren Konsequenzen.

    Seit etwa 1800 avancierte die Musik in Deutschland zur nationalen Leitkultur. Deutsch sein hieß, zum Volk von Bach, Beethoven und Wagner gehören. Zugleich herrschte seit der Romantik die Überzeugung, dass die Musik wie nichts anderes die "deutsche Seele" auszudrücken vermöge. Auf dieser Grundlage wurde der "Doktor Faustus" entworfen. Der Roman enthält die größten Musikbeschreibungen der deutschen Literatur. Zumeist sind es dunkle, dämonische Klanggebilde, wie das akustische Höllengebräu von Leverkühns apokalyptischem Oratorium. Musik als Seelenlandschaft:

    "Wie entsetzlich wirken an der Stelle, wo die vier Stimmen des Altars das Loslassen der vier Würgeengel verordnen, welche Kaiser und Papst und ein Drittel der Menschheit hinmähen, die Posaunen-Glissandi, das zerstörerische Durchfahren der sieben Zugordnungen oder Lagen des Instruments! Und welche akustische Panik geht aus von den wiederholt vorgeschriebenen Pauken-Glissandi, einer Ton- oder Schallwirkung, ermöglicht durch die - hier während des Wirbels manipulierte - Verstellbarkeit der Maschinenpauke auf verschiedene Tonstufen. Die Wirkung ist äußerst unheimlich. Aber das Markerschütterndste ist die Anwendung des Glissando auf die menschliche Stimme, (...) wie der Chor der "Apokalypse" sie bei Lösung des siebenten Siegels, dem Schwarzwerden der Sonne, dem Verbluten des Mondes, dem Kentern der Schiffe in der Rolle schreiender Menschen grausig vollzieht."

    "Finis musicae" - dieses Schlagwort zu Beginn des 20. Jahrhunderts drückte die Sorge aus, es könnte die große deutsche Musiktradition an ihr Ende gelangt sein. Wann und wie sollte je wieder ein Innovationsschub von der Größenordnung des Wagnerschen "Tristan" möglich sein? Leverkühn will die "lähmenden Schwierigkeiten der Zeit" durchbrechen, und sei es mit Hilfe des Teufels und des seelenkältenden Liebesverbots. Er ist ein Meister aus Deutschland, der das musikalische Superioritätsideal verkörpert, ganz im Sinn Arnold Schönbergs, des wahren Erfinders der von Leverkühn praktizierten Zwölftontechnik. Mit gewissermaßen faustischer Hybris hatte Schönberg einmal bemerkt: "Ich habe eine Entdeckung gemacht, durch welche die Vorherrschaft der deutschen Musik für die nächsten hundert Jahre gesichert ist."

    Heute liest man die im "Doktor Faustus" geleistete Analyse des deutschen Verhängnisses mit neuen Augen. Ökonomische, politische oder sozialgeschichtliche Faktoren des deutschen Sonderwegs in den Nationalsozialismus interessieren Thomas Mann allenfalls am Rand, was lange Zeit bemängelt wurde. Sein Zugang ist vielmehr kultur- und mentalitätsgeschichtlich. Eine Perspektive, mit der er einen heutigen Nerv trifft.

    Aus leidender Distanz stellt sich der Emigrant eine Frage, die in Zeiten der Globalisierung und des Multikulturalismus zugleich obsolet wie von neuem faszinierend erscheint: Was ist deutsch? Es gibt keinen anderen Roman, der sich mit gleicher Intensität in dieses Thema hineinbohrt. Wenn da immer wieder historische Tiefenschichten bis hin zum Mittelalter berührt werden, hat das wenig zu tun mit jenen historiografischen Bocksprüngen, nach denen von Luther oder Preußen ein zwingender Weg zu Hitler führte. Nicht mit Thesen, sondern mit Leitmotiven arbeitet Thomas Mann, mit subtilen Resonanzen, aus denen sich ein komplexes quasimusikalisches Geflecht ergibt. Dass die Ideen- und Motivarbeit nicht zum abstraktem Glasperlenspiel gerät - dies verhindert die bisweilen geradezu aberwitzige Genauigkeit und Anschaulichkeit der Beschreibungskunst. Ewa bei dem Stotterleiden, das die hochgescheiten Vorträge von Leverkühns Mentor Wendell Kretzschmar beeinträchtigt:

    "Es war ein besonders schwer und exemplarisch ausgebildetes Stottern, dem er unterlag, - tragisch, weil er ein Mann von großem, drängenden Gedankenreichtum war, der mitteilenden Rede leidenschaftlich zugetan. Auch glitt sein Schifflein streckenweise geschwind und tänzelnd, mit der unheimlichen Leichtigkeit, die das Leiden verleugnen und in Vergessenheit bringen möchte, auf den Wassern dahin; aber unfehlbar von Zeit zu Zeit, mit Recht von jedermann fortwährend gewärtigt, kam der Augenblick des Auffahrens, und auf die Folter gespannt, mit rot anschwellendem Gesicht, stand er da: sei es, dass ein Zischlaut ihn hemmte, den er mit in die Breite gezerrtem Munde, das Geräusch einer dampflassenden Lokomotive nachahmend, aushielt, oder dass im Ringen mit einem Labiallaut seine Wangen sich aufblähten, seine Lippen sich im platzenden Schnellfeuer kurzer, lautloser Explosionen ergingen; oder endlich auch einfach, dass plötzlich seine Atmung in heillos hapernde Unordnung geriet und er trichterförmigen Mundes nach Luft schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen - mit den gefeuchteten Augen dazu lachend, das ist wahr, er selbst schien die Sache heiter zu nehmen, aber nicht für jedermann war das ein Trost.
    "

    Die Entwicklung zum Hitler-Staat, gespiegelt in der Biographie eines genialen Künstlers mit seinen subtilen Gefährdungen - in dieser Konzeption sei zuviel Romantik, kritisierte jüngst erst wieder Rüdiger Safranski. Da werde den Nazis ein Kompliment gemacht und das krude Geschehen allzu tiefsinnig ausgedeutet. Abgesehen davon, dass gerade die Verbindung von Tiefsinn und Krudität bei der nationalsozialistischen Vereinnahmung des Kulturbürgertums eine wichtige Rolle spielte: Zu diesem Einwand gelangt man vor allem dann, wenn man die Interpretation ganz auf eine plakativ verstandene Parallelität von Künstler- und Deutschlandroman ausrichtet. Aber Leverkühn hat mit der Gesinnung der Nazis nichts zu tun. Als nüchterner Intellektueller steht er dem nationalen Schwärmertum auffallend kritisch gegenüber. Und kein Zweifel: Seine Musik hätte ihm den Vorwurf der "Entartung" und des "Kulturbolschewismus" eingetragen.

    Nur die Rahmenhandlung des Buches spielt während des Dritten Reichs; wichtiger sind die Jahrzehnte zuvor, die lange Inkubationsphase des Nationalsozialismus. Vor allem nach 1918 macht sich die kollektive Anfälligkeit für Rückkehrsehnsüchte aus der Moderne geltend. Der Überdruss an den komplizierten Entscheidungsfindungen des liberalen Staates wuchs; man wollte weg von der vermeintlichen Überreflexivität, zurück zu den klaren Anweisungen und den elementaren Gefühlen. Der Reiz des Archaischen, Gewaltsamen hatte damals auch und gerade die Bildungsbürger gepackt. Das illustriert der Roman an vielen Nebenfiguren, etwa dem Kunstprofessor Helmut Institoris, einem schwächlichen Mann, der sich als Ästhet für die Blut- und Mordtaten der Renaissance begeistert.

    Ein Einwand gegen den Roman ist allerdings triftig: Warum braucht Leverkühn die Inspiration durch den Teufel und die syphilitische Enthemmung, wenn er doch Adorno hat? Leverkühns Musik entsteht ja nicht aus Rausch und Barbarei; sie ist konstruktives Raffinement, Ergebnis höchster musikalischer Reflexion. Das passt nicht recht zu den Verheißungen des Teufels:

    "Und wir bieten Beßres, wir bieten erst das Rechte und Wahre... Wer weiß heute noch, wer wusste auch nur in klassischen Zeiten, was Inspiration, was echte, alte urtümliche Begeisterung ist, von Kritik, lahmer Besonnenheit, tötender Verstandeskontrolle ganz unangekränkelte Begeisterung, die heilige Verzuckung? Ich glaube gar, der Teufel gilt für den Mann zersetzender Kritik? Verleumdung. Eine wahrhaft beglückende, entrückende, zweifellose und gläubige Inspiration, eine Inspiration, bei der es keine Wahl, kein Bessern und Basteln gibt, bei der alles als seliges Diktat empfangen wird, sublime Schauer den Heimgesuchten, vom Scheitel zu den Fußspitzen überrieseln, ein Tränenstrom des Glücks ihm aus den Augen bricht, - die ist nur mit dem Teufel, dem Herrn des wahren Enthusiasmus möglich."

    Musik aus dem Geist der Kritik, verstanden als jenes übersensible Organ für die verbrauchten Kunstmittel - das ist dagegen genau die Devise Adornos. Sie prägt denn auch sichtlich die Musikreflexionen und die Beschreibungen der Leverkühnschen Kompositionen, die Adorno nach Anregungen Thomas Manns für den Roman ersonnen hat. An einigen Stellen hört man den Adorno-Sound wie eine Störfrequenz und fragt sich bisweilen, ob Thomas Mann da nicht schon in Richtung Parodie gegangen ist - was ja nicht ganz ohne Plausibilität wäre, nachdem er Adornos Physiognomie schon für die Beschreibung des Teufels in zweiter Gestalt verwendet hatte.

    Mit dem Kerl vor mir war unterdes, während seiner letzten Reden, weylinger Weis was andres vorgegangen: Sah ich recht hin, kam er mir verschieden vor gegen früher; saß da nicht länger als Ludewig und Mannsluder, sondern, bitte doch sehr, als etwas Besseres, hatt einen weißen Kragen um und einen Schleifenschlips, auf der gebogenen Nase eine Brille mit Hornrahmen, hinter dem feucht-dunkle, etwas gerötete Augen schimmern, - eine Mischung von Schärfe und Weichheit das Gesicht... - ein Intelligenzler, der über Kunst, über Musik, für die gemeinen Zeitungen schreibt, ein Theoretiker und Kritiker, der selbst komponiert, soweit eben das Denken es ihm erlaubt.

    Solche Ironisierung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Thomas Mann mit der diffizilen Musikphilosophie Adornos nicht ganz so souverän "zaubern" konnte wie sonst mit den vielfältigsten Bildungsgütern - vielmehr musste er in diesem Fall wirklich Kompetenz abgeben. Als er Adorno zu Rate zog, konnte er auch noch nicht ahnen, dass der "Gehilfe" einmal zu den maßgeblichsten philosophischen Köpfen der zweiten Jahrhunderthälfte gehören würde. Während viele andere gelehrte Werke, die er für seine augenzwinkernde Technik des "höheren Abschreibens" benutzte, meist bald vergessen waren, wurde die Theorie Adornos immer wirkmächtiger, woraus sich ein merkwürdiger Rückkopplungseffekt auf den Roman ergibt. Einerseits gewinnt er an diskursiver Relevanz, andererseits wird der originäre Thomas Mann mit einer fremden Stimme überschrieben.

    So hadert man, um dann wieder hingerissen zu sein. Neben den Deutschland- und Musikroman tritt die "radikale Autobiographie". Auf dieser Linie hat das Buch viele plastisch ausgeführte Nebenfiguren und Episoden. Der Autor wollte mit ihnen nicht zuletzt ein Gegengewicht zur lebensblassen Hauptfigur schaffen. Man denke an die tragischen Schwestern Ines und Clarissa Rodde, bei denen Thomas Mann die Schicksale seiner eigenen Schwestern verarbeitet hat, an den leichtfertigen Geiger Rudi Schwerdtfeger, hinter dem sich eine homoerotische Jugendliebe Manns verbirgt, oder an die wunderbare Figur des ganz im Konjunktiv des "Man-müsste" lebenden Übersetzers Rüdiger Schildknapp, der Leverkühn mit seinen pessimistischen Späßen zuverlässig zu erheitern versteht. Mit diesen und anderen Figuren verbinden sich Kapitel, die zum Allerbesten gehören, was Thomas Mann geschrieben hat.

    Einmal mehr wird in diesem Zusammenhang auch die Abgründigkeit der Erzählerfigur deutlich. Nach der anfänglichen Konzeption ist Serenus Zeitblom nur ein braver Philologe und Humanist, ein forciert biederes Erzählmedium, durch das der dämonische Faust-Roman komische Brechungen erhalten sollte. Das funktionierte nicht, denn natürlich musste der Biograph schon aus erzähllogischen Gründen Verständnis für die Subtilitäten und Abgründe entwickeln, die er zu beschreiben hatte. Der schwerfällig parodierende Tonfall des Beginns wurde von Thomas Mann deshalb bald aufgegeben, was sich auch anhand einiger gestrichener Passagen bestätigt. Die Entdeckung, dass die Zeitblom-Figur es gewissermaßen selbst Faust-dick hinter den Ohren hat, dass sie in vielen Motivüberschneidungen sogar als Parallelfigur zu Leverkühn erscheint und also alles andere als ein harmloser Erzähler ist, gehört zu den größten Reizen einer fortgeschrittenen Lektüre des Romans. Ins Abgründige führt vor allem die Eifersucht und Rivalität, die Zeitblom gegenüber jedem anderen entwickelt, der den Kreisen seines geliebten Kindheitsfreundes Adrian zu nahe kommt, erst recht, wenn andere vom Meister sichtlich bevorzugt werden. Von geradezu kafkaesker Befremdlichkeit sind die Worte, die Zeitblom bei der Beschreibung des in der Trambahn sterbenden Rudi Schwertfeger findet:

    "Bei Rudolf standen mehrere Leute, darunter Dr. Kranich, der seine Hand hielt. "Was für eine entsetzliche, besinnungslose, unvernünftige Tat", sagte er, bleichen Angesichts, in seiner klaren, akademisch wohlartikulierten und dabei asthmatischen Sprechweise, indem er das Wort 'entsetzlich', wie man es öfter auch von Schauspielern hört, 'entzetzlich' aussprach. Er fügte hinzu, er habe nie mehr bedauert, nicht Mediziner, sondern nur Numismatiker zu sein, und wirklich erschien mir in diesem Augenblick die Münzenkunde als die müßigste der Wissenschaften, noch unnützer als die Philologie, was keineswegs aufrechtzuerhalten ist. (...) Ich beugte mich über Rudolf. Er gab Lebenszeichen, war aber gräßlich getroffen. Unter seinem einen Auge war ein blutender Einschuss. Andere Kugeln waren ihm, wie sich erwies, in den Hals, die Lunge, die Kranzgefäße des Herzens gegangen. Er hob den Kopf mit dem Versuche, etwas zu sagen, doch traten sogleich blutige Blasen zwischen seinen Lippen hervor, deren sanfte Dicke mir auf einmal rührend schön erschien."

    Der Roman wurde in den ersten Jahren nach Erscheinen vielfach angefeindet. All die Schriftsteller, die im Nazi-Land geblieben waren, dort ihr prekäres Arrangement mit den Verhältnissen gefunden hatten und sich nun gerne zur Inneren Emigration zählten, sahen sich von Thomas Mann unerwünscht belehrt. Dass da jemand von seiner kalifornischen Villen-Warte aus das Leben im Bombenhagel des untergehenden Dritten Reichs geschildert hatte, empfanden sie als krassen Fall von Unzuständigkeit. Solche Ressentiments sind verständlich. Sie ignorieren aber, dass Thomas Mann früh eine bemerkenswerte Intuition für die Gefahren und die Mentalität der Nationalsozialisten und ihrer Sympathisanten hatte, schon in den frühen zwanziger Jahren, als er die Anfänge der Hitler-Partei in München beobachten konnte. Die bürgerlichen Anfälligkeiten konnte Mann gerade in den ihm nahe stehenden Kreisen der Münchner Wagnerianer hautnah erleben. Diese Kreise waren es ja auch, die den Nobelpreisträger im Frühjahr 1933 aus Deutschland hinausmobbten - die Nazis sahen es mit hämischem Vergnügen.

    Von daher wusste Thomas Mann besser Bescheid als die meisten. Was allerdings das Alltagsleben im Dritten Reich betrifft, sind die Vorwürfe der Inneren Emigranten nicht ganz falsch. Hier gab es in der Tat Kenntnisdefizite, aus denen sich einige Blässen des Romans erklären. Zeitbloms Söhne etwa, an denen die von den liberalen Vätern entfremdete Hitlerjugend-Generation im Dritten Reich darzustellen gewesen wäre, bleiben nur Schemen. Mit gutem Grund endet die bewusste Biographie Leverkühns bereits 1930, mit dessen Zusammenbruch vor der versammelten Personage des Romans:

    "Dieser Mann", ließ sich da in der Stille die klar artikulierende, wenn auch asthmatische Stimme des Dr. Kranich vernehmen, "dieser Mann ist wahnsinnig. Daran kann längst kein Zweifel mehr bestehen, und es ist sehr zu bedauern, dass in unserem Kreise die irrenärztliche Wissenschaft nicht vertreten ist. Ich, als Numismatiker, fühle mich hier gänzlich unzuständig."

    Zur Verzögerung der mehrfach verschobenen Neuausgabe hat die komplizierte Editionslage beigetragen. Zur Handschrift des "Faustus" kommt das Typoskript, das der Autor nach einem Jahr von seiner Sekretärin parallel erstellen ließ - in beiden Fassungen brachte er Korrekturen an. Der Stockholmer Erstdruck von 1947 wurde dann mithilfe Erika Manns noch einmal für die zweite, heute maßgebliche Wiener Ausgabe gekürzt. Der Kommentator Ruprecht Wimmer sieht es als seine Aufgabe an, sämtliche Änderungen und Fehler, die sich auf jeder Überlieferungsstufe eingeschlichen haben, zu dokumentieren. Meist sind es Kleinigkeiten, über die man hinweggelesen hat, die aber doch ein bisschen sinnentstellend sein können. Ein peinlicher Lesefehler Thomas Manns ist das "Fugengewicht der Akkorde", von dem noch in der jüngsten Hörspielfassung des Romans so bedeutungsvoll die Rede ist. "Eigengewicht der Akkorde", heißt es in Adornos Vorlage.

    Keine historisch-kritischen, sondern kommentierte Leseausgaben will die Große Frankfurter Ausgabe bieten. Dass hat sich bei einigen der vorangegangenen Lieferungen ausgezeichnet bewährt - zu denken ist an "Königliche Hoheit", kommentiert von Heinrich Detering, und "Lotte in Weimar", kommentiert von Werner Frizen. Der Leser profitiert hier von den kompakt informierenden und zugleich essayistisch zu lesenden Ausführungen über Textentstehung, Quellenverwendung und Rezeptionsgeschichte. Belebt werden diese Kommentare vom Enthusiasmus der Herausgeber, die bei aller gebotenen Sachlichkeit doch auch Plädoyers für weniger beachtete oder gar unterschätzte Werke Thomas Manns bieten wollten.

    Vergleicht man damit die 1300 Seiten Kommentar zum "Doktor Faustus", fällt Ruprecht Wimmers trockene Darlegung der Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte ins Auge. Sie ist erstaunlicherweise sogar knapper geraten als bei den zuvor erwähnten Romanen. Die Passioniertheit, die bei Detering und Frizen zu erkennen ist, mag Wimmer entbehrlich erschienen sein angesichts eines Romans, der zweifellos zu den Hauptwerken des Autors gehört. Und man kann es bei allem Bedauern verstehen, dass angesichts der tendenziellen Uferlosigkeit des Projekts nicht auch noch große Interpretationslinien in den Kommentar gelegen werden sollten.

    Auf über siebenhundert Seiten ist dagegen der Stellenkommentar gewuchert. Interessant sind die Einzelnachweise der exzessiven Quellenverwendung Thomas Manns. Hier erfährt man gewissermaßen die Rezeptur des Beziehungszaubers. Am Ende des Bandes sind einige wichtige Quellentexte dokumentiert, darunter ein fünfundzwanzigseitiger Brief von Michael Mann. Der studierte Musiker erklärt seinem Vater hier die Grundlagen der Harmonielehre. Zum Interessantesten gehören schließlich die hundert Seiten mit längeren Passagen, die Thomas Mann überarbeitet oder gestrichen hat. Hier gewinnt man einen reizvollen Werkstatt-Blick - und meist ist gut nachzuvollziehen, warum der Text geändert wurde. Etwa in einer Passage, die die ländliche Herkunft Leverkühns vor Augen führt:

    "Ferner gedenke ich einer Stallmagd namens Hanne, einer Person mit Schlotterbusen und nackten, ewig mistigen Füßen (...), und der Verwalterin des Molkereiwesens, Frau Luder, einer haubentragenden Witwe, deren würdevoller Gesichtsausdruck auf die Tatsache zurückzuführen war, dass sie sich auf die Herstellung vorzüglicher Kümmelkäse verstand."

    Frau Luder - mit diesem Namen ist, sofern man Sinn für solche Komik hat, eigentlich alles über die Frau gesagt. Der Scherz mit dem Kümmelkäse ist nicht nur ein wenig platt, er ist vor allem überflüssig, und so hat Thomas Mann ihn mit dem ihm eigenen kritischen Kunstverstand gestrichen.

    Fast die Hälfte des Stellenkommentars besteht allerdings aus akribischen Auflistungen der meist minimalen Textänderungen in den diversen Fassungen. Ohne Zweifel ist da vom Herausgeber und vor allem von seinem verdienstvollen Mitarbeiter Stefan Stachorski eine ungeheure Kärrnerarbeit geleistet worden. Die meisten ihrer Ergebnisse sind jedoch allenfalls für die akademischen Kollegen von Dr. phil. Serenus Zeitblom von Interesse.

    Thomas Mann: Doktor Faustus. Das Leben des Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde. Herausgegeben und kommentiert von Ruprecht Wimmer und Stefan Stachorski. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Band 10.1 u. 10.2. S. Fischer 2007, zwei Bände in Kassette, 741 S. u. 1266 S., 80 Euro