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Analyse des Scheiterns

Die Insolvenz des Handels- und Touristikkonzerns Arcandor war ein öffentlich inszeniertes Drama in vielen Akten. Der Journalist Hagen Seidel hat nun ein 300-seitiges Sachbuch vorgelegt, das sich teilweise wie ein Wirtschaftskrimi liest.

Von Andreas Kolbe | 13.09.2010
    10. Mai 2009:: Bis zum Auslaufen der Kredite am 12. Juni ist nur noch ein Monat Zeit. Inzwischen gilt als sicher, dass die Banken ohne staatliche Bürgschaft keine zusätzlichen Gelder geben werden.

    25. Mai: Noch im Mai soll sich der Bürgschaftsausschuss der Bundesregierung mit dem Arcandor-Antrag beschäftigen. Doch die Chancen [ ... ] schwinden.
    7. Juni: Karstadt-Mitarbeiter haben begonnen, die Schaufenster mit Papier zu bekleben. Das soll den Eindruck von Innenstädten vermitteln, in denen es keine Warenhäuser mehr gibt.

    8. Juni: Ab sofort müssen Arcandors Vorstandsmitglieder ständig erreichbar sein und schnell in der Konzernzentrale eintreffen können – damit sie im Fall des Falles, den Insolvenzantrag unterschreiben können.
    9. Juni: Arcandor ist pleite. Kurz nach 14 Uhr eröffnet das Amtsgericht Essen das vorläufige Insolvenzverfahren für den Konzern samt seiner Warenhaustochter Karstadt und der Versandhandelssparte um Quelle. Es beginnt die größte Unternehmenspleite der deutschen Nachkriegsgeschichte; das tragische Ende eines Traditionskonzerns, mit einst mehr als 15 Milliarden Euro Umsatz und über 100.000 Mitarbeitern.

    Diese Zahlen sind das eine. Wer die Folgen von Arcandors Absturz sinnlich erfahren möchte, sollte sich die riesigen, bereits jetzt heruntergekommenen Gebäude von Quelle in Nürnberg und Fürth anschauen. Oder eines der geschlossenen, leer geräumten Karstadt-Häuser besichtigen: Ödnis auf tausenden Quadratmetern, wo sich einst jeden Tag Tausende Menschen tummelten. Und in der Mitte, wie eingefroren, die Rolltreppen, die sich nicht mehr bewegen, weil sie niemanden mehr in die Spielwarenabteilung, die 'Damenoberbekleidung' oder ins Restaurant befördern. Bonjour tristesse statt 'Schöner shoppen in der Stadt'.
    Wie konnte es nur soweit kommen? Dieser Frage geht der Springer-Journalist und Wirtschaftsautor Hagen Seidel nach, der seit sieben Jahren er im Düsseldorfer Büro der Tageszeitung "Die Welt" arbeitet.

    "Karstadt-Arcandor war sozusagen mein journalistischer Hauptkunde. Das war das Unternehmen, über das ich am meisten geschrieben habe – mit Abstand."
    Und so ist es wohl kein Zufall, dass die genauere Betrachtung der Unternehmensgeschichte des damaligen KarstadtQuelle-Konzerns auch vor sieben Jahren beginnt, im Juli 2003. Von diesem Zeitpunkt an zeichnet der Autor die Chronologie der Ereignisse nach; präsentiert aufgereiht wie Perlen an einer Nylonschnur einschneidende Weichenstellungen wie beiläufige Begebenheiten. Mal ist ein Jahr Arcandor-Geschichte auf zehn Seiten abgehandelt, mal füllen ein paar kritische Tage ganze Kapitel. Das Buch liest sich über weite Strecken wie ein Blick ins Pressearchiv, wo man unter dem Suchwort Karstadt immer dann viele Einträge findet, wenn das Unternehmen gerade wieder droht, gegen die Wand zu fahren, oder aber dessen endgültige Rettung wieder einmal unmittelbar bevorsteht. Doch Hagen Seidel begnügt sich nicht damit, den Niedergang des Unternehmens nur zu beschreiben. In zehn sogenannten Schlaglichtern, welche die Chronologie der Ereignisse durchschneiden, bündelt, analysiert und wertet er die Ereignisse, stellt Protagonisten, Entscheidungen und Konzepte in den Fokus, auf den Prüfstand. Eines dieser eingestreuten Kapitel beschreibt, wie die Probleme des Handelsriesen KarstadtQuelle schon viel früher begannen, als von der Öffentlichkeit wahrgenommen – nämlich schon bei der Fusion. Ein angeschlagener Versandhandel und ein Warenhausimperium ohne Konzept, die wie ein Blinder und ein Lahmer ihre Rettung in der gemeinsamen Zukunft sahen.

    Die Schaffung eines Karstadt-Quelle-Wir-Gefühls scheiterte – bewusst oder unbewusst – am passiven Widerstand der Mitarbeiter, denen das Management weder den Ernst der Lage noch die Chancen des neuen Doppelkonzerns vermitteln konnte. Die Karstädter waren die Karstädter, die Quelle-Leute blieben Quelle-Leute, und die Neckermänner verstanden sich weiterhin als Neckermänner und auf keinen Fall als Brüder oder Schwestern der Quelle.
    Daran änderte auch Thomas Middelhoff nichts, der als Hoffnungsfigur nach Essen kam zunächst als Aufsichtsrat und kurz darauf als Vorstandschef. Nach seinem Rauswurf bei Bertelsmann wollte er mit der Rettung des Traditionskonzerns seine Reputation als Manager wieder herstellen – was gründlich misslang.

    Für viele Deutsche ist Middelhoff eine der liebsten Hassfiguren aus der Wirtschaft und wird es wohl auch bleiben, schreibt Hagen Seidel über den Strahlemann, dem er als Journalist mehrfach begegnet ist. Wie auf jener denkwürdigen Pressekonferenz im Dezember 2005, als Middelhoff den Milliardenverkauf aller Karstadt-Immobilien ankündigte.

    "Diese Transaktion, die wir erwägen und wofür wir Goldman Sachs als Berater mandatiert haben, wird dazu führen, dass der Konzern Ende 2006 schuldenfrei sein wird. Das heißt für all die unter Ihnen, die immer so dieses Attribut 'angeschlagen' lieben, müssten sie es irgendwann dann doch mal in die Schublade zurückschieben."

    Seidel: "Das Ergebnis war natürlich, dass am nächsten Tag drei Viertel der Zeitungen wieder vom angeschlagenen Unternehmen Arcandor geschrieben hat. Das war ganz treffend: Die eigene Wahrnehmung seiner Leistung und die der Außenwelt, die war noch ziemlich unterschiedlich."
    Die Ära Middelhoff nimmt Seidel auf fast 40-Schlaglicht-Seiten differenziert auseinander – eine starke Passage, die von der Nähe zum Protagonisten lebt. Das gelingt nur an wenigen Stellen des Manuskripts, denn viele der Gesprächspartner bleiben im Ungefähren. Es seien zum größten Teil die wesentlichen Entscheidungsträger der vergangenen Jahre gewesen, sagt Seidel, mit denen er für das Buch gesprochen habe. Nur Ross und Reiter nennt er selten, sodass der Text oft klingt wie Reuters-Meldungen mit den berühmten, viel zitierten "gut informierten Kreisen".

    "Das war der Kompromiss, der notwendig war, damit die ehemals Verantwortlichen denn wirklich offen geredet haben. Weil die meisten dieser Menschen bei ihrem Ausscheiden Erklärungen unterschrieben haben, dass sie halt keine Interna ausplaudern. Natürlich haben sie auch mit mir geredet, um ihre eigene Position ein bisschen zu schönen im Nachhinein."
    Die Quellenlage ist der einzig auffällige Schwachpunkt des Buches. Nur ganz sparsam fügt der Autor Fußnoten an, wie in diesem Beispiel:

    "Schaut man sich den Aktienkurs an, ist Thomas Middelhoff eigentlich reif zum Abschuss. In solchen Situationen sind schon Vorstandschefs gefeuert worden, die weniger Geld verbrannt hatten. Die Entzauberung hat begonnen", schreibt eine Zeitung.
    Folgt man hier dem Verweis auf den Zeitungsartikel bis ins Pressearchiv, stößt man dann aber auf einen Bericht, den der Autor selbst verfasst hat. Ein Schönheitsfehler, der jedoch die Leistung nicht schmälert, dass Hagen Seidel mit diesem Buch eine kompakte und fundierte Analyse des Scheiterns geschrieben hat. Mit der Insolvenz im Juni 2009 endet das Buch schließlich. Es kommen noch ein paar Seiten zur Abwicklung von Quelle und zu den Versuchen des Insolvenzverwalters, Karstadt zu verkaufen. Das vorläufige "happy end" – der Verkauf an den Investor Nicolas Berggruen, der erst vor wenigen Tagen endgültig bestätigt wurde – hat es nicht mehr in das Buch geschafft. Das ist der Preis für einen Erscheinungstermin frühzeitig nach den Ereignissen. Und es ist kein Mangel. Denn um den Niedergang des Milliardenkonzerns Arcandor zu verstehen, braucht es die Rettung von Karstadt nicht. Es wäre dies vielmehr der Grundstein für eine sinnvolle Fortsetzung der Story.

    Hagen Seidel: "Arcandors Absturz. Wie man einen Milliardenkonzern ruiniert: Madeleine Schickedanz, Thomas Middelhoff, Sal. Oppenheim und KarstadtQuelle". Das Buch ist erschienen im Campus Verlag, hat 300 Seiten und kostet 24,90 Euro, ISBN 978-3-593-39249-3. Unser Rezensent war Andreas Kolbe.