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Anatols Chaosleben

Anatol, die Titelfigur in Arthur Schnitzlers Episodenstück, legt Schnitzlers Nähe zu Sigmund Freud offen. Tief wienerisch steigt der Anatol empor aus dem Wiener Fin-de-Siècle – und landet jetzt in Berlin. In der Inszenierung an der Schaubühne geht es um Gefühlschaos: Vorwürfe, Eifersucht, Abhängigkeit.

Von Eberhard Spreng | 02.11.2008
    Zahllose silbern glänzende Girlanden hängen von der Decke herab. In einen Wald aus Lichtreflexen blickt der Zuschauer, in einen glitzernden Dschungel, der entfernt ans Variété erinnert, an die leichte Unterhaltung und den unbeschwerten Zeitvertreib. Aber durch diese Hölle des Scheins schleichen triste Gestalten, drei Männer und eine junge Frau, die durch eine schwer erkennbare Verstrickung von Vorwurf, Eifersucht, Abhängigkeit aneinander gebunden sind, kaum aber durch so etwas wie Liebe oder Glückseligkeit.

    Was auch immer in dem Frühwerk von Arthur Schnitzler, in dieser losen Szenenfolge um den unsteten Liebhaber Anatol, diesen melancholischen Fin-de-Siècle-Hallodri an Champagner, ans Separee bei Sacher oder sonstiges Dolce Vita erinnern könnte, ist hier zu einem kalten Bild gefroren, und was an selbstmitleidiger Seelenpein und Liebesleidwehwehchen aus Schnitzlers locker dahingetupften Dialogen zum Vorschein kommt, in bleierne Minen und Karikaturen der Verzweiflung erstarrt. Katrin Bracks Bühnenbild ist auch dieses Mal wieder eine einzige mutwillige Metapher und Luk Percevals Regie eine ruppige Reduktion aufs Wesentliche. Shakespeare und Racine, die Orestie und Kleists Penthesilea hat der Spezialist für die Schwergewichte im Reich der Emotionen so inszeniert. Ein zartes dramatisches Pflänzchen wie der Anatol wird unter dem kräftigen ästhetischen Zugriff von Brack und Perceval fast völlig zerdrückt.

    Der Regisseur lässt die Hauptrolle zudem von einer Frau spielen. Jule Böwe macht den unentschiedenen Liebessüchtigen zu einer ziemlich nördlichen, etwas kindlichen und immer nölenden Figur.

    "- Wie geht's denn der Frau Gemahlin? Was machen denn die lieben Kleinen?
    - Die Frage können Sie sich sparen, ich weiß doch, dass sie das ganz wenig interessiert.
    - Das ist ja so unheimlich, wenn man auf einen solchen Menschenkenner trifft.
    - Das ist er nicht.
    - Bin schon wieder ganz brav. Ganz ruhig bin ich, ganz brav."

    Es sind lediglich einzelne Bruchstücke aus den Anatol-Szenen, die hier zu dem nur gut einstündigen Theaterabend kollagiert wurden. Die Damenbekanntschaften, die Cora, Gabriele, Bianca, und all die anderen haben sich dabei in zwei Männer verwandelt; den einen gibt Andre Szymanski als naiven Jüngling, der bei Gelegenheit durch den glitzernden Wald stürmt wie Tarzan, und sich an die natürlich sofort abreißenden Lianen hängt wie sein Vorbild aus der unberührten Natur, während Bruno Cathomas die Karikatur eines weinerlichen Verlassenen spielt, der von rätselhaften Gefühlsattacken geplagt wird. Thomas Bading ist in der Rolle des Freundes Max zu sehen, ein mal gelangweilter, mal niedergeschlagener Arrangeur im Chaosleben des Anatol. Plötzlich verknäulen sich alle Drei, Jule Böwes weiblicher Anatol und die beiden Liebhaber, zu einem Körperbündel mit verzweifelten Umarmungen und krampfhaften Befreiungsversuchen; einem der wenigen starken Bilder, mit denen Perceval etwas von dem Liebesleid des Stücks zu fassen bekommt. Und dann wiederholt sich auf sprachlicher Ebene die Verstrickung noch einmal.

    Am Ende will jeder nur noch Recht gehabt haben auf dem Scherbenhaufen der falschen Gefühle, auf der Suche nach einer Liebe, die vielleicht nur Abwechslung sein sollte. Anatols Einsamkeit, in die Liebe nur wie ein flüchtiger Reiz hinein irrlichtert, wird in Percevals formalisierender Regie von der erspielten Erfahrung zum Konzept, und logischerweise ist dabei einerlei, ob man oder frau sie erlebt. Der Perceval-Mensch ist geradezu vernarrt in seine enttäuschte Liebe und summt, säuselt oder grölt dann ein Paar Takte aus der "Traviata". Vielleicht ist Kunst ja der beste Panzer gegen überraschende Gefühle. Dass die diesmal nicht vorkommen können, dafür haben Katrin Brack und Luk Perceval mit einer eindimensionalen Installation gesorgt.