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Anden-Republik im Umbruch

Der bolivianische Präsident Evo Morales genießt in der Bevölkerung hohe Zustimmungswerte. Dabei stößt er mit seiner Politik, die insbesondere den Status der indigenen Volksgrupppen aufwerten möchte, ebenso auf heftigen Widerstand. Das ehrgeizigste Projekt des Präsidenten, eine neue Verfassung, droht vorerst zu scheitern.

Von Victoria Eglau | 26.07.2007
    El Alto – bolivianische Großstadt im Andenhochland, Magnet für Zuwanderer vom Lande, rasant anwachsend und inzwischen so groß wie die benachbarte Millionenmetropole La Paz. Vor allem Indígenas und Menschen indianischer Abstammung leben in El Alto. Die meisten von ihnen sind Aymaras, so wie Boliviens Präsident Evo Morales. Auf einem Platz der Stadt arbeitet Luís Machicado Quispe als Schuhputzer, ein alter Mann mit runzligem Gesicht und freundlichen Augen:
    "Evo Morales ist ein Indio-Präsident. Er ist Indígena. Er gehört zu unserer Rasse. Meiner Meinung nach ist er der absolute Besitzer des Landes. Wir sind jetzt die Hausbesitzer. Die früheren Präsidenten waren nur Mieter. Deshalb haben sie auch nie daran gedacht, mein Land voranzubringen, etwas für seine Entwicklung zu tun. Sie haben sich nur bereichert, das Land verschuldet. Aber dieser Indígena Evo Morales macht seine Sache gut. Es gibt jetzt viele Wohltaten für die Armen. Wir sind stolz darauf, dass jetzt der Besitzer des Hauses regiert."

    "Evo Morales denkt sich wirklich als ein Präsident, der die größten Veränderungen des Landes durchbringen will. Und das hat er wirklich ernst genommen. Und viele seiner Versprechungen aus dem Wahlkampf sind jetzt wirklich eine Realität. Zum Beispiel die Verstaatlichung der Reserven von Gas und Erdöl. Nach Umfragen hat er immer noch mindestens sechzig Prozent der Bevölkerung hinter sich. Und das ist wirklich sehr, sehr stark in den bolivianischen Verhältnissen, wo wirklich in den letzten fünf Jahren kein politischer Führer eine so stabile und grundsätzliche Mehrheit gehabt hat."

    Rafael Archondo, bolivianischer Journalist, Analyst und Mitarbeiter der Weltbank in La Paz.

    18 Monate sind ins Land gegangen, seit der Gewerkschaftsführer Evo Morales sein Amt als Präsident Boliviens angetreten hat. Die Verstaatlichung der Öl- und Gasvorkommen ist wohl die Maßnahme, die international am meisten Aufsehen erregte und der neuen Regierung im eigenen Land den größten Zuspruch bescherte. Santos Ramirez, Vorsitzender der Politischen Kommission von Evo Morales’ Partei MAS, Bewegung zum Sozialismus:

    "Die Nationalisierung erlaubt es uns Bolivianern, unsere natürlichen Ressourcen auf vernünftige Weise zu nutzen, so wie es jeder andere souveräne Staat der Welt auch tut. Unsere Bodenschätze zu kontrollieren, zu verwalten und daraus Vorteil zu ziehen. Früher behielt der bolivianische Staat von den 1,5 Milliarden Dollar, die durch Erdgas und Erdöl erwirtschaftet wurden, nur 300 Millionen Dollar. Mehr als 1,2 Milliarden Dollar flossen ins Ausland. Heute ist es andersherum. Mehr als 1,5 Milliarden Dollar bleiben beim Staat: in den Präfekturen, den Rathäusern, den Universitäten. Die Nationalisierung ist nicht nur eine wirtschaftliche Maßnahme, sondern hat dem bolivianischen Volk auch Würde und Souveränität zurückgegeben."

    Was der Senator Santos Ramirez von der Regierungspartei MAS nicht sagt: Die Nationalisierung von Öl und Gas war keine wirkliche Verstaatlichung, sondern lediglich eine Änderung der Verträge mit den in Bolivien tätigen internationalen Konzernen. Rafael Archondo:

    "Das war keine Enteignung der Firmen. Die Firmen sind geblieben. Die Firmen haben unterschrieben. Früher hatten wir zwei Nationalisierungsprozesse, und die beiden waren mit Enteignung, also die Firmen mussten raus. Und diese dritte Nationalisierung ist ganz anders. Sie wurde als Nationalisierung verkauft und viele Leute haben dran geglaubt. Das war die eigentlich klügste Maßnahme der Regierung, weil sie hat alle Vorteile einer Nationalisierung, einen großen Popularitätszuwachs, die Leute sind total freudig und begeistert mit der Maßnahme, und gleichzeitig hat sie keinen Konflikt mit den privaten Firmen. Zum ersten Mal nach 36 Jahren ungefähr hat der bolivianische Staat jetzt Geld, um zum Beispiel die Löhne der Beamten zu bezahlen."

    Der bolivianische Wirtschaftswissenschaftler Carlos Toranzo, Mitarbeiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in La Paz, verweist darauf, dass die so genannte Nationalisierung der Bodenschätze durchaus positive Folgen hat, andererseits aber auch negative:

    "Sie ist total erfolgreich, weil sie für höhere Steuereinnahmen sorgt. Aber sie ist nicht erfolgreich, was die geplante Industrialisierung angeht. Denn die staatliche Öl- und Gasgesellschaft soll den Kern der Industrialisierung Boliviens bilden, die die Achse des neuen Staates sein soll. Die Gesellschaft verfügt aber gerade mal über vier Ingenieure, ist voller Mitglieder der Regierungspartei MAS und hat kein qualifiziertes Personal. Insofern haben wir jetzt zwar mehr Einnahmen, aber wenn man nach vorne schaut, hat man den Eindruck, dass das Geld nicht gut verwendet wird, und dass im Bereich der Öl- und Gasressourcen keine starke Institution geschaffen wird."

    19. September 2006: Evo Morales Ayma, Präsident Boliviens, spricht vor der UN-Vollversammlung in New York:

    "Wir wollen in meinem Land tiefgreifende Veränderungen vornehmen – demokratische und friedliche Veränderungen. Wir sind dabei, Bolivien neu zu gründen. Um die Bolivianer zu einen. Um uns, alle Sektoren und Regionen meines Landes, besser zu integrieren. Wir wollen Bolivien neu gründen, aber nicht, um Rache zu nehmen, obwohl wir ja diskriminiert worden sind. Sondern vor allem, damit dieser Hass gegenüber den eingeborenen Völkern ein Ende hat."

    Das neue Bolivien soll auch eine neue Verfassung bekommen – eines der wichtigsten Vorhaben der Regierung Morales. Anfang August 2006 nahm in der Hauptstadt Sucre die Verfassungsgebende Versammlung ihre Arbeit auf, ein Jahr Zeit bekam sie dafür. Doch schon vor Monaten zeichnete sich ab, dass die Delegierten es nicht schaffen werden, bis zum Stichtag 6. August den Text einer neuen Verfassung vorzulegen. Sie haben daher das Parlament aufgefordert, ihr Mandat bis Mitte Dezember zu verlängern. Grund für die Zeitnot: Wegen eines Streits über das Abstimmungsverfahren begann die Versammlung erst nach mehr als einem halben Jahr mit der eigentlichen Arbeit. Armando de la Parra ist Präsident der bolivianischen Stiftung FUNDAPAC, die den Verfassungsprozess in Sucre unterstützt. Er sieht die Verantwortung bei der Regierungspartei MAS:

    "Das Gesetz zur Einberufung der Verfassungsgebenden Versammlung sagt ganz klar, dass der Verfassungstext mit Zweidrittelmehrheit angenommen werden muss. Aber die Regierungspartei MAS hat in der Versammlung keine Zweidrittelmehrheit. Sie verfügt zwar über eine große Mehrheit, aber nicht über zwei Drittel. Da die Regierung aber ihre Vorstellungen auf jeden Fall durchbringen wollte, versuchte sie, das Reglement zu ändern, damit die absolute Mehrheit ausreichen würde. Sie hatte sich vorgenommen, ihre Version der Verfassung durchzusetzen, und wenn es nur mit den eigenen Stimmen wäre."

    Dass die Partei von Evo Morales in der Verfassungsgebenden Versammlung nicht den Konsens suche, glaubt auch Carlos Toranzo von der Friedrich-Ebert-Stiftung in La Paz:

    "Ursprünglich war das Ziel der Verfassungsgebenden Versammlung, den unteren Schichten politische Einbindung und Teilhabe an der Macht zu ermöglichen. Aber das hat sich geändert. Heute ist das Ziel die Ratifizierung der Hegemonie des MAS. Die Regierungspartei will eine Verfassung mit vielen ethnisch-kulturellen Elementen, sie will die territoriale Geografie des Landes neu definieren und die Schlüsselelemente einer repräsentativen Demokratie zerschlagen. Es kann dem MAS zwar gelingen, seine Vorstellungen in die Verfassung hineinzuschreiben, aber in der Wirklichkeit stößt er auf Widerstand: in den Regionen, in der Mittelschicht. Wenn der MAS es schafft, eine Verfassung ohne Konsens, ohne Einklang durchzusetzen, glaube ich, dass diese Verfassung nicht angenommen wird."

    "Es lebe unsere Autonomie, es lebe unsere Freiheit" – skandieren Universitätsdozenten und Studenten am bolivianischen Regierungssitz La Paz. Der Protest richtet sich gegen den in der Verfassungsgebenden Versammlung eingebrachten Vorschlag der Regierung, eine soziale Kontrolle der Universitäten einzuführen. Diese sehen ihre Autonomie gefährdet und ihre Mitglieder gehen landesweit auf die Straße. Der MAS muss schließlich zurückrudern. Ein Beispiel für die starke Resonanz der Verfassungsgebenden Versammlung in der Öffentlichkeit. Ihre Beratungen finden nicht hinter verschlossenen Türen statt, sondern werden ständig von den Forderungen und Protesten gesellschaftlicher Gruppen begleitet sowie vom erbitterten Streit zwischen Regierung und Opposition. In der Versammlung stoßen politische Visionen aufeinander, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Eines der umstrittensten Themen: die künftige Definition des Staates. Die Regierungspartei MAS will einen plurinationalen Staat Bolivien, in dessen Verfassung 36 Nationen anerkannt werden. Die Quechua und Aymara stellen mit 3,2 bzw. 2,5 Millionen Angehörigen die größten ethnischen Gruppen dar, aber es gibt auch indigene Völker, die nur aus einigen Tausend oder Hundert oder sogar nur aus ein paar Dutzend Menschen bestehen. Armando de la Parra von der Stiftung FUNDAPAC hält das Modell des plurinationalen Staates für absurd, schließlich sei eine große Mehrheit der Bolivianer Mestizen. Lourdes Millares ist Fraktionschefin der rechten Oppositionspartei "Demokratische und soziale Macht", kurz "Podemos", in der Abgeordnetenkammer. Sie fühlt sich keiner der 36 Nationen zugehörig:

    "Als politische Kraft setzen wir darauf, dass das Land eine neue Verfassung bekommen wird. Aber eine Verfassung, die unser Land moderner macht. Nicht eine Verfassung, durch die wir in der Zeit zurückgehen und die das Fundament für einen widerspenstigen Indigenismus in Bolivien bildet. Wir werden auf keinen Fall erlauben, dass unser Land zwischen 36 Nationen zerrissen wird. Diese Nationen sollen ja auch über gesetzgebende Instanzen verfügen. Was wird dann noch die Rolle des Präfekten eines Departements sein, wenn es in diesem Departement vier oder sechs Nationen gibt?"

    Die Regierung hat in der Verfassungsgebenden Versammlung ein Konzept vorgelegt, das autonome Gebiete der indigenen Nationen vorsieht. Dort sollen ursprüngliche Selbstverwaltungsformen parallel zu den bestehenden Strukturen des Staates existieren. Die Regierung erfüllt damit eine Forderung der Indígena-Verbände. Den Indígena-Organisationen geht es um die konstitutionelle Anerkennung und die Ausübung traditioneller Regierungsformen, die trotz Kolonisierung und jahrhundertelanger Unterdrückung bis heute überlebt haben. Die Opposition dagegen ist überzeugt, dass sich die Regierung die indigenen Autonomien auf die Fahnen geschrieben hat, um dadurch die Autonomie-Forderungen einiger Departements zu schwächen. Bolivien ist in neun Departements unterteilt, von denen sich vier bei einer Volksabstimmung vor einem Jahr für die Autonomie aussprachen. Es sind die Tiefland-Departements Santa Cruz, Beni, Pando und Tarija, die mehr Unabhängigkeit vom starken Zentralstaat fordern.

    "Autonomie, Autonomie”, "Freiheit, Freiheit” skandiert die Menge, die an diesem Junivormittag im alten Präfektur-Gebäude von Santa Cruz zusammengekommen ist. Es tagt die selbsternannte Autonomie-Junta der vier Tiefland-Departements, der Präfekten, Parlamentarier, Bürgermeister, Indígena-Vertreter und Delegierte der Verfassungsgebenden Versammlung angehören. Mario Cossio, Präfekt von Tarija, rechtfertigt die Dezentralisierungs-Forderungen der vier Departements, denen die Regierung Morales mehrfach Separatismus vorgeworfen hat.

    "Die Autonomie der Departements ist ein weiterer Schritt in Richtung der Vertiefung der Demokratie, ein weiterer Schritt in Richtung einer Auflösung des zentralistischen Modells, das unser Land jahrzehntelang, seit der Geburt der Republik, geprägt hat. Aus diesem Grund wird die Autonomie der Departements mit solcher Macht bekämpft, wie es zur Zeit geschieht."

    Die Autonomie-Junta beschließt an diesem Junitag ein so genanntes "Manifest für Bolivien". In ihm kündigt sie an, die Autonomie in den vier Departements durchzusetzen, in denen die Bürger dafür gestimmt haben, falls die Verfassungsgebende Versammlung dieses Votum ignorieren werde. Ruben Costas, der Präfekt von Santa Cruz:

    "”Die Verfassungsgebende Versammlung ist an das Referendum über die Autonomie der Departements, das vom Präsidenten Boliviens angesetzt wurde, gebunden. Das heißt, sie muss das Ergebnis umsetzen. Wenn sie das nicht tut, verletzt sie ein souveränes Mandat, das des Volkes. Sie verhält sich dann gesetzeswidrig. Denn sie erfüllt nicht den Auftrag einer demokratischen Volksabstimmung.""

    Welche Art von Autonomie streben die bolivianischen Tiefland-Departements an? Präfekt Ruben Costas verweist auf das Vorbild Spanien, das sich in so genannte autonome Gemeinschaften gliedert. Selbstverständlich fordern die nach Autonomie strebenden Departements, in denen sich ein Großteil der bolivianischen Bodenschätze befindet, nicht nur größere Kompetenzen und Entscheidungsspielräume, sondern auch mehr Geld. Der Wunsch, die Geschicke in die eigenen Hände zu nehmen und nicht mehr so stark von der ungeliebten Zentralregierung im Hochland abhängig zu sein, ist auch bei den Bürgern sehr ausgeprägt. Claudia Bern, eine deutschstämmige Bolivianerin aus Santa Cruz:

    "Wir wollen modernisiert werden, weitere Entwicklung, bessere Einkommen, also schneller modern sein."

    Das Streben nach Autonomie begann schon vor vielen Jahren. Doch seit die Regierung von Evo Morales an der Macht ist, kämpft das Tiefland besonders erbittert für die Dezentralisierung. Die überwiegend von Weißen und Mestizen bewohnten Departements fühlen sich von der indigen und links ausgerichteten Führung des Landes nicht repräsentiert, Skepsis und Abneigung sind groß. Im Manifest der Autonomie-Junta ist von dunklen und antidemokratischen Kräften die Rede, die Bolivien den Krieg erklärt hätten. Evo Morales wolle das Land zerstören. Claudia Bern, die mit einer Freundin auf dem Hauptplatz von Santa Cruz steht, fürchtet vor allem den Einfluss Kubas und Venezuelas:

    "Wir müssen auch sehen, dass viele Venezolaner und Kubaner hier schon in Bolivien rein sind."

    Ihre Freundin Amelia Dimetri: "”Wir hätten niemals gedacht, dass uns heute Fidel Castro und Hugo Chavez regieren. Denn wir werden nicht von Evo Morales regiert. Zu uns nach Santa Cruz, dem produktivsten Departement Boliviens, kommt er für eine Stunde. Dann springt er ins Flugzeug und fliegt nach Kuba, um Papa zu fragen, was er mit uns machen soll.""

    Bolivien – ein gespaltenes Land. Eine Spaltung, die ihren Ausdruck findet in den unüberbrückbar scheinenden Gegensätzen in der Verfassungsgebenden Versammlung. Zu den vielen umstrittenen Punkten gehört auch die vom MAS angestrebte unbegrenzte Wiederwahl des Präsidenten und die Forderung nach einer Verlegung von Regierung und Parlament aus La Paz in die Hauptstadt Sucre, die von Regierung und Bevölkerung im Andenhochland abgelehnt wird. Was tun, wenn ein Konsens unmöglich ist? Armando de la Parra, externer Berater der Verfassungsgebenden Versammlung:

    "In 80 Prozent der Themen wird es keine Einigung geben. Man merkt deutlich, dass das Kalkül der Regierung ist, in der Versammlung keinen Konsens zu erreichen, um dann die Bürger abstimmen zu lassen und das Referendum mit absoluter Mehrheit zu gewinnen."

    Dass dieses Kalkül aufgehen könnte, ist angesichts der hohen Umfragewerte der Regierung von Evo Morales durchaus möglich. Die Gefahr, die nicht nur Armando de la Parra sieht, ist jedoch, dass Bolivien eine Verfassung bekommen könnte, die in einem Teil des Landes nicht anerkannt und möglicherweise nicht befolgt wird – mit all den Konsequenzen, die das für die Anden-Republik haben könnte.