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Andere Kulturen denken anders

Wie arbeitet der menschliche Geist? Hirnforscher beanspruchen zunehmend, diese Frage beantworten zu können, wobei sie vor allem auf exakte Laborexperimente pochen. Eine Initiative deutscher Psychologen und Ethnologen kritisiert diese Vorgehensweise.

Von Martin Hubert | 24.02.2011
    Eigentlich führen es Fernsehen, Internet und Urlaubsreisen nach Tibet oder Mexiko ständig vor Augen. Der menschliche Geist zeigt sich je nach Kultur in anderer Gestalt. Die Kognitionswissenschaftler scheinen das aber noch nicht richtig ernst zu nehmen. Denn sie bitten zwar ständig Versuchspersonen in die Labore, um empirisch genau zu analysieren, wie ihr Fühlen, Denken und Handeln funktioniert. Bei der Auswahl der Versuchspersonen gehen sie jedoch äußerst einseitig vor. Eine im vergangenen Jahr von amerikanischen Psychologen vorgelegte Studie hat das mit Zahlen belegt.

    "95 Prozent aller Studien sind einfach mit westlichen Personen gemacht."
    Offensichtlich behandeln die meisten experimentellen Studien zum menschlichen Geist ausschließlich dessen westlich geprägte Version. Nicht nur die Versuchspersonen, auch die Studienleiter stammen hauptsächlich aus der europäischen und amerikanischen Kultur. Für Sieghart Beller vom Psychologischen Institut der Universität Freiburg stellt sich daher die Frage, ob das nicht zu einseitig ist:

    "Woher wissen wir, ob diese Personen, die eine sehr spezielle Gruppe darstellen im Vergleich zur gesamten Weltbevölkerung, woher wissen wir denn, ob diese Dinge, die wir hier finden auch Gültigkeit haben für andere Personen, für andere Kulturkreise und so weiter?"

    Mancher experimentell arbeitende Psychologe versucht, die gängige Praxis mit folgendem Argument zu rechtfertigen: es gäbe zwar kulturelle Prägungen des menschlichen Geistes, aber seine fundamentalen Eigenschaften seien davon ausgenommen. Sie würden universell gelten - zum Beispiel, wenn es um Wahrnehmung geht.

    Zwei Linien a und b liegen links und rechts nebeneinander. Auf Linie a sind jeweils am Anfang und Ende zwei Pfeilspitzen angebracht. Sie weisen nach außen, scheinen die Linie a daher zu dehnen. Auf Linie b sind ebenfalls an beiden Enden Pfeilspitzen angebracht, aber in umgekehrter Richtung. Sie weisen nach innen, scheinen die Linie b also zu verkürzen. Versuchspersonen in westlichen Ländern sagen normalerweise sofort, die gedehnt wirkende Linie a sei länger als Linie b. In Wahrheit jedoch sind beide Linien gleich lang. Diese Wahrnehmungstäuschung ist als Müller-Lyer-Illusion bekannt und allgemein anerkannt.

    Kulturvergleichende Studien zeigen jedoch, dass der menschliche Wahrnehmungsapparat nicht überall gleich auf diese Täuschung reagiert. Bei Europäern und Amerikanern muss die kürzer erscheinende Linie um 12 bis 19 Prozent ihrer Strecke verlängert werden, damit die Versuchspersonen die beiden Linien auch subjektiv als gleich lang einschätzen. Bei einer Jäger-und Sammler-Gruppe aus der südafrikanischen Kalahariregion dagegen reichten mickrige 1 Prozent. Für Sieghart Beller zeigt das,

    "...dass manche Personen aus anderen Kulturen dieser Täuschung eben nicht unterliegen und das ist etwas sehr Wahrnehmungnahes, wo man bisher geglaubt hat diese Dinge kann man nicht beeinflussen eigentlich. Für mich war das sehr eindrücklich zu sehen, dass bei selbst so basalen Dingen es offensichtlich einen Unterschied macht, welchen Umgang Personen offenbar mit Wahrnehmungsaufgaben generell haben."

    Wie stark Wahrnehmung kulturell geprägt sein kann belegte kürzlich auch eine Studie des Pekinger Hirnforschers Shihui Han.

    Han verglich Chinesen, die sich viel stärker an der Gruppe und deren Wirgefühl als am eigenen Ich orientieren mit westlichen Versuchspersonen, für die das einzelne Individuum im Vordergrund steht. Während sich die Probanden Bilder anschauten, zeichnete Han ihre elektrische Hirnaktivität auf. Seit Langem ist bekannt, dass kollektiv orientierte Asiaten sich eher für den Gesamtaufbau einer Szene interessieren. Sie nehmen ein Bild global wahr und sehen zum Beispiel zwei Straßen, die sich kreuzen, Gebäude, Autos, Bäume, eine Ampel und davor einen Menschen. Ichorientierte Westler dagegen interessieren sich beim selben Bild eher für das zentrale, individuelle Detail. Sie nehmen lokal wahr und sehen einen braungebrannten jungen Mann im gepflegten Anzug vor einer Ampel an einer Straßenkreuzung stehen.

    Vor manchen Versuchsdurchgängen gab Han seinen Testpersonen jedoch Texte zu lesen, in denen sie auf die jeweils andere Kultur konditioniert wurden. Die westlichen Versuchspersonen lasen Texte, in denen ausschließlich von "Wir" gesprochen wurde. Die wir-orientierten Chinesen dagegen lasen ich-dominierte Texte. Allein dadurch veränderte sich bereits im Gehirn der Versuchspersonen eine Komponente, die mit der Wahrnehmung zu tun hatte. Das Gehirn der Chinesen reagierte nun plötzlich aufmerksamer auf lokale Details, das der westlichen Testpersonen auf globale Zusammenhänge.

    Auch wenn diese Veränderung nur kurzfristig war - solche Forschungsansätze machen insgesamt deutlich, wie tief sich Kultur im Gehirn niederschlagen kann. Sieghart Beller meint daher: der Blick der Kognitionswissenschaftler muss sich weiten:

    "Ein kulturvergleichender Blick kann uns diese größere Bandbreite im Erleben und Verhalten von Personen eben eröffnen und die Ethnologie bietet einen Zugang dazu."

    Mit Andrea Bender, einer Psychologin an der Freiburger Universität mit ethnologischem Hintergrund, setzt sich Sieghart Beller daher für ein neue Zusammenarbeit zwischen Kognitionswissenschaftlern und Ethnologen ein. Diese Zusammenarbeit hatte früher in Form einer sogenannten "Kognitionsethnologie" bereits existiert, wurde dann aber zunehmend vernachlässigt. Um neue Impulse dafür zu geben, untersucht Andrea Bender zum Beispiel in ethnologischen Feldstudien, inwieweit Gefühle universell oder kulturell geprägt sind. Könnte es sein, fragt sie sich, dass bestimmte Emotionen in manchen Kulturen überhaupt nicht existieren – zum Beispiel Ärger?

    Die ozeanische Bevölkerung von Tonga, die nach den vormodernen Regeln eines uralten Königreichs zusammen lebt, zeigt bis heute kaum aggressives Verhalten. Seit dem 18. Jahrhundert existiert daher über Tonga das Klischee von den "freundlichen Inseln".

    Andrea Bender wollte genauer wissen, was dahintersteckt. In einer mehrjährigen Studie untersuchte sie mit einem Team, ob die Menschen in Tonga wirklich nichts kennen, was unserem Ärger ähnelt.

    "Also um das Ähnliche herauszufinden, haben wir Leute gefragt, wie sich denn Ärger für sie anfühlt, also auch von den körperlichen Symptomen, und die waren sehr ähnlich, also sie wurden beschrieben sehr ähnlich wie bei uns."

    Puls- und Herzschlag steigen, in Bauch und Brust gärt es, der Hals wird dick, der Kopf siedend heiß.

    "Und auch wie Personen sich verhalten, gerne verhalten würden wenn sie sich ärgern. Also in Tonga gibt es diese Regel, dass man den Ärger nicht zeigt. Aber wenn man jemanden fragt: wenn Du dich jetzt ärgerst, was würdest du dann gerne tun, dann kriegt man sehr ähnliche Beschreibungen zu dem, was man bekommt, wenn man das Gleiche in Deutschland fragt."

    In Tonga wird Ärger vor allem deshalb so wenig gezeigt, weil die Gesellschaft sehr feine hierarchische Unterschiede kennt. Schwestern zum Beispiel sind ranghöher als Brüder, Ältere stehen über Jüngeren. Personen mit höherem Status hat man Respekt zu erweisen, also ihnen gegenüber auch keinen Ärger oder keine Wut zu zeigen.

    Was passiert, wenn jemand zu spät zu einer Verabredung kommt? Und was passiert, wenn jemand einer statushöheren Person nicht genügend Achtung erweist? Ein Team um Andrea Bender beobachtete zwei völlig verschiedene Gruppen in solchen Situationen : Menschen in Tonga und in Deutschland. Das Ergebnis: Bewohner von Tonga ärgern sich vor allem dann, wenn jemand gegen eine Regel ihres Verwandtschaftssystems verstößt – ist jemand unpünktlich, rührt sie das dagegen kaum. Bei deutschen Vergleichspersonen ist es umgekehrt.

    Andrea Benders Erklärung dieses Kulturunterschieds bezieht sich auf das sogenannte appraisal-Modell der Emotionen. Es besagt, dass bei Emotionen immer sowohl allgemeinmenschliche Empfindungen als auch kulturelle Deutungen eine Rolle spielen.

    "Unsere Ausgangsüberlegung war: ganz zentrale Emotionen im Leben eines Menschen, wie zum Beispiel Ärger, Wut, werden ausgelöst durch die kognitive Einschätzung eines Ereignisses. Also beispielsweise: es passiert etwas, was ich als negativ empfinde, weil es mir schadet oder meine Ziele blockiert oder mir nicht in den Kram passt, platt ausgedrückt. Und ich stelle fest, jemand hat dieses Ereignis verursacht und ich glaube auch noch, dass derjenige das vielleicht in böser Absicht getan hat, dann ist das eine Kombination von Merkmalen dieser Situation, die dazu führt, dass ich mich über ihn ärgere oder wütend bin und zwar wahrscheinlich überall auf der Welt gleich, dass es also so eine universelle Komponente hat.

    Ob man aber jetzt in dieser Situation tatsächlich glaubt, dass es mir schadet oder dass der andere in böser Absicht gehandelt hat oder dass es überhaupt durch eine Person verursacht wurde und nicht beispielsweise durch eine unglückliche Verkettung von Umständen, wie ich diese Situation also einschätze, das kann sehr wohl kulturell verschieden sein."

    Deutsche Versuchspersonen ärgern sich über unpünktliche Leute, weil diese dafür verantwortlich sind, dass sie umsonst warten müssen und Zeit verlieren. Menschen aus Tonga dagegen glauben eher, dass immer auch äußere Umstände mitspielen, wenn jemand zu spät kommt. Wer sich in Tonga aber einem ranghöheren Verwandten widersetzt, der schadet einer wichtigen sozialen Norm. Und man nimmt es persönlich, weil jeder diese Norm kennt. Nach ersten Beobachtungen von Andrea Bender beeinflusst das offenbar auch das innere Erleben: Personen in Tonga, die sich eigentlich einer ranghöheren Person gegenüber ärgern müssten, scheinen diesen Ärger tatsächlich weniger stark zu empfinden, als wenn sie sich einem Gleichrangigen gegenüber ärgern. Es gibt also zwar Ärger in Tonga, aber man ärgert sich anders.

    Wie stark emotionales Empfinden und kulturelle Prägung beim Ärger zusammenwirken, zeigen auch Studien der Ethnologin Birgitt Röttger-Rössler, die an der FU Berlin im Rahmen des Exzellenz-Clusters "Languages of Emotion" forscht. Ihr Team fand beim Volk der Bara, das auf Madagaskar lebt, etwa zwanzig verschiedene Wörter für Ärger, Wut oder Zorn. Sie regeln auch sehr genau, wie mit Ärger gegenüber einer ranghöheren Person umzugehen ist.

    "Die Bara haben für diesen dicken Hals oder diesen Ärger, den man nicht heraus lassen kann, weil der andere statushöher ist, sie haben dafür nicht nur ein Sprachkonzept, sondern sie haben auch ein Handlungskonzept. Weil man kann diesen Ärger zeigen, man darf dann nicht zuschlagen, aber man kann ihn ganz deutlich ausdrücken, einmal durch einen Gesichtsausdruck, der ein ganz besonders komisches Stirnrunzeln ist, was wir nicht als Ärger erkennen, sondern als Stirnrunzeln, das könnte auch nachdenklich sein. Und das andere ist Schweigen und Weggehen, aber tagelanges Schweigen, was dann irgendwann auch dann der Statushöhere mitbekommt. Und das heißt, sie haben schon einen Raum. "

    Natürlich zeigt man auch in Deutschland nicht ohne weiteres dem Chef seinen Ärger. Allerdings sind die Reaktionen bei den Bara viel genauer sprachlich und in ihrem Handlungsablauf geregelt. Es müsste noch viel genauer erforscht werden, wie sich diese kulturellen Festlegungen im Einzelnen auf das innere Erleben und die soziale Funktion einer Emotion auswirken. Die Beobachtungen von Andrea Bender und Birgitt Röttger-Rössler zeigen jedenfalls, dass es unterschiedlichste Feinabstufungen gibt, um mit dem universellen Gefühl "Ärger" umzugehen. Statt der alten Frage: "Ist eine Eigenschaft des menschlichen Geistes universell oder kulturspezifisch?” könnte daher folgende Forschungsfrage sinnvoller sein: " Unter welchen Bedingungen entsteht welche Vermischung genereller und kulturspezifischer Aspekte des menschlichen Geistes ?” Vielleicht gilt das auch für die Suche nach dem "Ich”.

    Bei einer ihrer ersten Feldforschungen in Indonesien bat Birgitt- Röttger-Rössler Mitglieder eines Volkstamms "Erzählt mir Eure Lebensgeschichte". Aber selbst Menschen, deren Vertrauen sie schon erworben hatte, wichen ihr aus. Birgittt Röttger- Rössler ging der Sache weiter nach und entdeckte schließlich, dass in dieser malayischen Kultur eine eigenartige Regel gilt:

    "Das Erzählen des eigenen Lebens sollte man anderen Zungen überlassen, weil man kann ja auch die eigene Nase nicht mit den eigenen Augen sehen. Was zumindest für malayische Nasen zutreffen mag, ja."

    In dieser Kultur ist das Ich in extremer Weise im Wir aufgehoben. Die persönliche Lebensgeschichte des Einzelnen wird nur aus der Perspektive anderer Menschen erzählt.

    "Was für uns eigentlich auf den ersten Blick auch sehr ungewöhnlich ist, dass man eine Frage nach einer anderen Person stellen kann und bekommt dann dieses Leben erzählt. Und häufig sind diese Personen sogar - können anwesend sein und sich trotzdem nicht zu ihrem Leben äußern, sondern das den anderen überlassen, den anderen Zungen, Man wird höchstens mal eingreifen, korrigierend oder bestätigend. Aber nur ein bisschen, in so kleinen, kurzen comments."

    Im ersten Moment verleitet eine solche Praxis zu dem Schluss, dass diese Menschen kein persönliches Ich-Gefühl besitzen können. Allerdings treffen auch die Mitglieder dieser Kultur eigene Entscheidungen und zeigen persönliche Gefühle wie Trauer. Birgitt Röttger-Rössler ist sich daher gar nicht so sicher, ob sich das Ich dieser Menschen wirklich radikal von dem unseren unterscheidet.

    "Denn de facto bilde und spiegele ich mich auch nur selber in sozialen Relationen, erfahre mich selber nur in der Kommunikation mit anderen und verfertige auch meine Lebenserzählungen eigentlich nur im Austausch mit anderen Personen. Und ich brauche doch in der Regel auch den Spiegel oder die Reaktion, das Feedback von anderen, um mir meiner selber gewiss zu sein oder auch um zu wissen, wie ich mich in bestimmten Situationen eigentlich einzuschätzen habe, mich sogar zu fühlen habe."

    Auch in westlichen Kulturen, sagen die Entwicklungspsychologen, wächst das Ich allmählich aus Interaktionen mit anderen Menschen heraus. Zuerst aus der Interaktion mit der Mutter oder anderen primären Bezugspersonen, dann kommen andere Menschen hinzu: Die Freunde, Partner, Berufskollegen, die einem Anerkennung oder Zurückweisung widerfahren lassen, einem gute oder schlechte Gefühle vermitteln. Eigentlich hat jede Kommunikation mit anderen Personen immer auch den Effekt, der eigenen Person ein Bild ihres eigenen Ichs zu vermitteln: bist du freundlich oder aggressiv, aktiv oder passiv, traurig oder wütend?

    Anstatt ein vorschnelles Urteil zu fällen, meint Birgitt Röttger-Rössler, sollte man daher lieber genauer erforschen, wie sich das Denken, Fühlen und Handeln dieser Menschen konkret von dem unseren unterscheidet. Den Kognitionswissenschaften könnte sich dadurch eine neue Perspektive eröffnen: das Ich ließe sich noch viel stärker als bisher vom Wir her verstehen. An Themen für eine weiterentwickelte Kognitions-Ethnologie, wie sie Sieghart Beller und Andrea Bender fordern, besteht also kein Mangel.