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Andreas Maier: "Der Kreis"
Wegkommen vom Anhimmeln der Kunst

Andreas Maier lässt in seinem neuen Roman wieder sein Alter ego auftreten, den Knaben Andy. Als Teil eines größeren Roman-Zyklus' verfolgt Maier dieses Mal das Thema Kunst. Andy verfällt den Literaturmysterien seiner Mutter, dann den Ergüssen von Metal- und Rockbands. Doch genau dieses Anhimmeln von Kunst sei der falsche Weg - sagt der Autor selbst.

Von Günter Kaindlstorfer | 25.01.2017
    Im Real Gabinete Português de Leitura in Rio de Janeiro, Brasilien
    Bücher, Bücher, Bücher? Für Autor Andreas Maier beruht das Prinzip Anbetung auf einem letztlich naiven Umgang mit kulturellen Hervorbringungen. (Steve McCurry / Magnum Photos / Agentur Focus)
    Es ist in der Tat ein ambitioniertes Projekt, das Andreas Maier da in Angriff genommen hat: ein volles, pralles Menschenleben – sein eigenes – romanhaft zu dekonstruieren. Standen in früheren Werken des Zyklus Themen wie "Kindheit", "Wohnen" und "Sex" im Mittelpunkt, geht es im aktuellen Band um das Thema "Kunst". Welche Bedeutung haben Literatur und Philosophie, Theater und Musik für das Leben des Menschen? Wie eignet man sich ästhetisches Differenzierungsvermögen an? Kunst und "gesteigertes Lebensgefühl" – hängt das zusammen? Das sind Fragen, die dieser Roman auf spielerische und unerhört kluge Weise reflektiert.
    Dass er sich den Tort eines elfbändigen Romanzyklus aufgebürdet hat, sieht Andreas Maier – inzwischen auf halber Strecke angelangt –, mit durchaus ambivalenten Gefühlen:
    "Das Arbeiten an dem Projekt der 'Ortsumgehung' ist für mich jeden Tag quälend. Jeden Tag aufs Neue, weil ich aus diesem Hamsterrad jetzt nicht mehr rauskomme. Andererseits hat es einen großen Vorteil: Ich schreibe kein langes Buch, sondern elf einzelne Bücher. Das gibt Freiheiten, zum einen, das nimmt mir die Angst zum anderen, aber zum dritten ist es so mein Leben durchstrukturierend, dass ich halt wirklich in diesem Hamsterrad bin. Aber dadurch entsteht wenigstens eine mir mögliche Form, etwas Größeres zu schreiben. Wie Proust hätte ich das nicht schreiben können. Das wäre nicht gegangen. An einem ganz dicken Ding zu schreiben, das hätte mich nur viel fertiger gemacht."
    Im Mittelpunkt des jüngsten Maier-Romans steht einmal mehr der Knabe Andy, Andreas Maiers Alter Ego aus den 70er und 80er-Jahren. Andy wächst als Sohn einer Anwaltsfamilie im Städtchen Friedberg in Hessen auf, "Grundschule", "Unterstufe", "Mittelstufe" und "Oberstufe" – in diese vier Kapitel ist der Roman unterteilt. Jedem Abschnitt ist eine andere Form des Umgangs mit Kunst und Kultur zugeordnet. Wesentlichen Einfluss auf Andys kulturelle Sozialisation übt seine Mutter aus – eine bürgerliche Bildungsschwärmerin, die sich, von ihrem Jüngsten ehrfürchtig beobachtet, immer wieder ins sogenannte Bücherzimmer des Familienhauses zurückzieht, um dort ihren "Studien" zu frönen.
    "Die Wände waren mit weißer Raufasertapete tapeziert und das Fenster durch eine Sichtschutzgardine verhängt." (Zitat aus dem Roman)
    Ein sakraler Raum. Die Mutter darf dort nicht gestört werden. Manchmal, wenn er allein zu Hause ist, schleicht sich Andy dennoch ins Bücherzimmer und versucht, dem Mysterium der mütterlichen Studien auf die Spur zu kommen. Er zieht ein gewichtiges Buch aus dem Regal. Der Name des Autors sagt ihm nichts: Teilhard de Chárdin.
    Die Mutter verharrt im Aggregatzustand der Anbetung
    "Der Name war ungewöhnlich, ja, mysteriös. Erst nach Jahren sollte ich verstehen, dass ich den Namen oft aus dem Mund meiner Mutter gehört hatte, aber sie hatte ihn immer ,Theo Düschadéng’ ausgesprochen ... Theo Düschadéng entzog sich jeder Einordnung. Er war sicherlich die rätselhafteste Figur im ganzen Bücherzimmer. Manchmal dachte ich: Das geheime Zentrum des Zimmers ist zwischen den Buchdeckeln des Buches von Theo Düschadéng verborgen, es musste so etwas sein wie die Erklärung von überhaupt allem, eine Erklärung der gesamten Welt." (Zitat)
    Die Mutter verharrt – nicht nur Theo Düschadéng, sondern der Welt des "Geistigen" insgesamt gegenüber – im Aggregatzustand der Anbetung. Es dauert bis zu seinem siebzehnten oder achtzehnten Lebensjahr, bis Andreas, der Romansohn, erkennt, dass die ernsthafte Auseinandersetzung mit Kunst nichts mit anbetendem Romantizismus und viel mit harter Arbeit zu tun hat. Andreas Maier:
    "Ich denke, dass der Roman tatsächlich davon handelt, dass man von diesem Sehnsuchtskomplex – dem Anhimmeln von Kunst – wegkommen muss, wenn man künstlerisch tätig sein will."
    Andreas Maiers Romanmutter ist eine Anhimmlerin wie nur je eine. Ihr höchstes Ziel: den großen Geistern dieser Welt auf Augenhöhe zu begegnen.
    "Wenn von Theo Düschadeng die Rede war, sagte sie etwa: Geist ist Materie. Oder sie sagte: Der Kosmos ist Geist. Ich versuchte mir dann immer so etwas wie Materie oder Geist vorzustellen, oder den Kosmos ... Theo Düschadeng war für meine Mutter eine Art von Held. Er hatte Großes geleistet: Geist ist Materie. Nun saß sie oben im Morgenrock in ihrem Zimmer und las und exzerpierte, um, ähnlich einem Alchemisten bei der Umwandlung von Blech in Gold, die Identität von Geist und Kosmos zu beweisen oder sie näher zu verstehen, sie zu durchleuchten oder zu durchdringen." (Zitat)
    "Ich kann nicht sagen, ob das etwas Wahrhaftiges oder Unwahrhaftiges hat, aber ich habe in meinem Leben erfahren, dass die allermeisten Leute diese Art des Zugangs haben zu Literatur, zu Kunst. Es hat etwas Schwärmerisches, Anbetendes. Mich hat das von Anfang an eher nervös gemacht, weil ich nie Sklave und Diener einer Sache sein wollte. Ich habe auch immer wieder Beispiele dafür kennengelernt, dass die Leute in diesem Sehnsuchtshaften so stecken geblieben sind, dass sie sogar tatsächliche Kunstbemühungen in ihrer Umwelt nicht gesehen und abgelehnt haben, weil: 'Das wird ja niemals so groß wie Thomas Mann'. Und da finde ich es dann abstoßend. Weil: Wenn diese Sehnsuchtsbemühungen in Richtung Kunst dazu dienen, dass man sich am Ende – ohne irgendetwas getan zu haben – auf die Seite von etwas ganz, ganz Großem stellt und damit für sich meint, eine gewissen Größe in Abgrenzung zu etwas anderem zu gewinnen, dann finde ich das nur blödsinnig." So Andreas Maier.
    Andreas Maiers Romanmutter beschäftigt sich nicht nur mit "Geistigem", wie sie es nennt, sie tritt auch in Korrespondenz mit Schriftstellern und Gelehrten, zum Beispiel mit dem Schriftsteller Fritz Usinger, Büchnerpreisträger des Jahres 1946, ebenfalls in Friedberg in der Wetterau wohnhaft. Jedesmal, wenn die Mutter Post von Usinger oder einem anderen Büchermenschen erhält, wirkt sie wie verwandelt: Ein Hauch von erotischer Erregung scheint die Anwaltsgattin dann zu umwehen.
    "Usinger war ganz früh ein Begriff für mich. Usinger hatte auch mit Geist und Kosmos zu tun ... Usinger musste meine eigenen Lehrer und den ganzen Schulstoff, mit dem ich als Grundschüler täglich umgeben war, nicht nur bei weitem übertreffen, er gehörte vielmehr zu einer ganz anderen Kategorie, einer viel größeren und wahreren Kategorie. Der Geist-Kosmos-Materie-Kategorie, die in meiner Grundschule gar nicht existierte." (Zitat)
    Die Ekstasen musikalischen Genusses
    Im zweiten Kapitel des Romans – "Unterstufe" – lernt Maiers Romanheld Andy die Ekstasen musikalischen Genusses kennen. Geist-Kosmos-Materie, die Unio Mystica, der seine Sehnsucht gilt, glaubt er jetzt nicht mehr in den Büchern seiner Mutter zu finden, sondern in den LPs von "Black Sabbath" und "Led Zeppelin":
    "Als ich zwölf Jahre alt war, lag ich jeden Nachmittag auf meinem Bett und hörte Platten. Diese Stunden waren ein neues Versenkungsritual und hatten etwas Purgatorisches. Ich verschwand, wie vormals im Bücherzimmer meiner Mutter, aus dem Tag und der Zeit und wurde zu einer solipsistischen Existenz auf meinem Bett ... Das Wesen, das ich lange Zeit im Bücherzimmer meiner Mutter vermutet hatte, jenes Wahrheits- und Eigentlichkeitswesen, schien jetzt jeden Tag zu mir zu kommen, wenn auch in anderer Gestalt als noch vor zwei, drei Jahren in der Bibliothek, nämlich als Rock- und Popmusik."
    Sich in kulturelle Verzückungszustände hineinzusteigern, ist ein Privileg juvenilen Gefühlsüberschwangs. Für Andreas Maier beruht das Prinzip Anbetung aber auf einem letztlich naiven Umgang mit kulturellen Hervorbringungen:
    "Bei mir war relativ früh klar, dass ich selbst Kunst machen wollte. Ich hatte überhaupt keine Ahnung, in welcher Form das dann sein sollte. Aber ich wusste schon früh, dass mein Leben das nicht hergibt, dass ich anderen hinterherrenne und sie vergöttere."
    Im Kapitel "Mittelstufe" beschreibt Andreas Maier, wie sein Roman-Alter-Ego in der Aula einer Friedberger Gesamtschule einer Schülertheater-Aufführung beiwohnt, die sein Verständnis von Kunst und Kultur vom Kopf auf die Füße stellt. Einer der Mitwirkenden ist der damals 19-jährige René Pollesch. Die Produktion, die Andreas im Gesamtschul-Foyer miterleben darf, wird für den Mittelstufen-Schüler zum Erweckungserlebnis. Er erkennt: Kunst kommt nicht von Können, sie hat nichts mit Genie zu tun – Kunst kommt von Machen. Man muss es einfach tun. Maier:
    "Thomas Mann sagt: Man muss erst ganz gestorben sein, um ein Dichter sein zu können. Wenn man das auf die Schriftstellerei überträgt, heißt das: Du kannst nie das schreiben, was du schreiben willst. Du musst das finden, was du schreiben kannst. Du gehst natürlich am Anfang in das Schreiben hinein, weil du dies und das willst. Du willst ja am Anfang tausende Sachen. Aber mit der Zeit wirst du immer kleiner, immer kleiner. Und dann findest du irgendetwas, was du kannst. Das musst du dann festhalten."
    In "Der Kreis" erzählt Andreas Maier, wie er vom Schwärmer zum Macher wurde. Wie alle bisher erschienen Bände des Zyklus ist auch dieser süffig und amüsant zu lesen. Maier erzählt gewitzt und unterhaltsam, ohne nostalgisches Pathos und fernab aller 70er- und 80er-Jahre-Klischees. Kunst kommt eben doch – auch – von Können.
    Andreas Maier: "Der Kreis". Roman,
    Suhrkamp-Verlag, 148 Seiten, 19,90 Euro (D), 20,60 Euro (A)