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Andreas Stichmann
Idealismus vom Sonnenhof

Schon mit seinem Debütroman "Das große Leuchten" hat der Autor Andreas Stichmann auf raffinierte Weise unterschiedlichste soziale Welten zusammen geführt. Nun ist sein zweiter Roman erschienen. In "Die Entführung des Optimisten Sydney Seapunk" demonstriert Stichmann erneut seine Sympathie für gestrandete Outcasts.

Von Christoph Schröder | 21.03.2017
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    Der Autor Andreas Stichmann. (dpa / picture-alliance )
    Eines Tages steht ein seltsamer Mann auf dem Sonnenhof, einem herunter gekommenen alternativen Wohnprojekt an der Peripherie von Hamburg. Der Mann ist dick und ganz in Türkis gekleidet. Und er macht dem Sozialarbeiter Ramafelene, dem Leiter des Sonnenhofs, ein Angebot, das dieser nicht ablehnen kann: 300 Euro pro Tag zahlt der neue Gast, um auf dem Sonnenhof wohnen zu dürfen. Noch dazu versorgt er die gesamte Kommune ab sofort großzügig mit Pizza vom Lieferdienst und politisch korrekten Kommunikationsgeräten. Ein sehr seltsamer Kauz. Doch was will er?
    Ramafelene, dessen etwas wunderliche Mutter Ingrid die Community vor Jahrzehnten gegründet hat, steht dem Fremden misstrauisch gegenüber. Mitbewohner Küwi dagegen, der seit langem vergeblich mit seinem Metalldetektor nach einem Schatz sucht, ist sofort begeistert vom neuen Sponsor. Und auch die 17-jährige Bianca, genannt Bibi, die auf dem Sonnenhof möglicherweise ein Praktikum macht, vielleicht aber auch ganz einfach auf der Flucht ist, ist angetan.
    Sydney Seapunk ruft sich zum Gründer einer revolutionären Bewegung aus
    Und es dauert nicht lange, bis der Neuankömmling mit seinen Plänen herausrückt. Er hat sich den Künstlernamen Sydney Seapunk gegeben und sich zum Gründer einer revolutionären Bewegung ausgerufen, die kein geringeres Ziel hat, als die Welt zu einem besseren Ort mit gerecht verteilten Vermögen und Chancen zu machen.
    "Und die Nachrichten mögen weiter apokalyptische Stimmungen verbreiten. Und die Ressourcen mögen schwinden, und alle Träume mögen ausgeträumt erscheinen. Aber es brennen immer noch und immer wieder Lichter im Dunkel. Das sind wir Seapunks. Die wir nicht aufgeben werden. Die wir behaupten: Etwas nie Dagewesenes ist auf dem Weg. Eine globale Bewegung gewaltigen Ausmaßes. Ein plötzlicher Frohsinn, der uns beflügelt."
    Andreas Stichmann ist ein gewitzter Autor. Er beherrscht perfekt die Balance zwischen einem erdgebundenen realistischen Erzählen und einem kalkuliert pathetisch überhöhten, deklamatorischen Stil. All seine Figuren in diesem prekären Milieu umhüllt er mit feiner Ironie, ohne sie dabei vorzuführen oder der Lächerlichkeit preiszugeben. Er nimmt sie sehr ernst, diese leicht herunter gekommenen Menschen, die mit geringen finanziellen Mitteln versuchen, eine Daseinsform aufrechtzuerhalten, in denen auch vermeintlich geistig Zurückgebliebene ein selbstbestimmtes Leben führen können. Und auch Sydney Seapunks Weltverbesserungsvisionen tut Stichmann nicht als hoffnungslose Spinnereien ab.
    Eine Gratwanderung zwischen Sehnsucht und Kitsch
    Stattdessen illustriert und ironisiert er Seapunks Ausführungen, in denen dieser den Herausforderungen der globalisierten Welt seinen uneingeschränkten Optimismus entgegen setzt, auf einer zweiten künstlerischen Ebene: In den Roman sind Collagen eingearbeitet; Illustrationen, die in kryptischen Bildern die Auferstehung der Menschheit in neuen Dimensionen postulieren. Doppelbödigkeit, wohin man auch schaut, mit Komik unterlegt und sprachlich durchdacht. Das gilt im Übrigen auch für die Liebesgeschichte zwischen Bibi und dem deutlich älteren Ramafelene, die Stichmann als eine Gratwanderung zwischen echter Sehnsucht und Kitsch inszeniert:
    "Seine Verbindung zu Bibi, die tiefe Empathie ist etwas Einzigartiges, das kann er jetzt deutlich spüren. Er spürt den langsamer werdenden Rhythmus ihres Atems, als wäre es sein eigener. Er spürt, wie sich ihre Muskeln entspannen; er spürt die Gänsehaut auf ihren Beinen, als ein kirschsüßer Wind vom Wasser kommt. Mit seinem nackten Fuß tappt er aus Versehen auf die Gitarre. Ein wunderschöner Klang erklingt. Ein Akkord, den es nicht gibt."
    Sydney Seapunk, das stellt sich schnell heraus, heißt mit richtigem Namen David van Geelen und ist der von seinem Bruder aufs Abstellgleis geschobene Erbe eines millionenschweren Unternehmens. Daraus hat David sich nie etwas gemacht. Während der Bruder die Firma geführt und ausgebaut hat, ist David durch die Welt gereist, um Gutes zu tun. Zum Beispiel als Krankenhausclown arbeiten. Mit Hilfe der Sonnenhof-Community will er nun einen verwegenen Plan in die Tat umsetzen: David alias Sydney will sich als Entführungsopfer ausgeben, um von seinem Bruder vier Millionen Euro zu erpressen. Mit der einen Hälfte des Geldes soll der Hof saniert werden; die andere Hälfte soll an wohltätige Organisationen gehen. Danach, so der Plan, will David freiwillig ins Gefängnis gehen, um ein Zeichen zu setzen. Sydneys Idealismus stößt überall an Grenzen. Auch bei Ingrid, der dunklen Herrscherin des Sonnenhofs, die ihm gehörig die Leviten liest:
    Solidarität und Hilfsbereitschaft werden praktisch gelebt
    "Sie erklärt ihm, dass es keinen Sinn hat, ein superemotionales Gespräch mit ihr zu führen. Manche Scheiße muss man einfach akzeptieren. Anstatt theatralisch, psychologisch oder vulgär zu werden. `Fragen Sie mal meinen Sohn, wie das ist, wenn man Menschen mit Visionen als Eltern hat. Er muss das schon sein leben lang ausbaden.´"
    Wie "Die Entführung des Optimisten Sydney Seapunk" und die Liebesgeschichte zwischen Ramafelene und Bibi ausgehen, wird selbstverständlich nicht verraten. Festzuhalten gilt aber: Andreas Stichmann ist erneut ein höchst unterhaltsames, komisches Buch gelungen, in das die Frage, wie Solidarität und Hilfsbereitschaft praktisch gelebt werden können, ohne sozialromantische und moralisierende Attitüde eingeschrieben ist.
    Andreas Stichmann: "Die Entführung des Optimisten Sydney Seapunk".
    Rowohlt Verlag, Reinbek 2017, 240 Seiten, 19,95 Euro