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Andriessen und Cage
Orgelstücke abseits der Kirchenmusik

Die Orgel hat enormes klangliches Potenzial, weswegen sich Komponisten des 20. Jahrhunderts diesem imposanten Instrument widmen. Zwei neue Platten bieten Orgelmusik abseits von Kirchenmusik - von dem niederländischen Komponisten Hendrik Andriessen und dem US-amerikaner John Cage.

Von Hanno Ehrler | 21.02.2016
    Der amerikanische Komponist und Schriftsteller John Cage am 29. April 1982 im Frankfurter Theater am Turm. Cage, einer der bedeutensten Avantgardisten des 20. Jahrhunderts, wurde am 5. September 1912 in Los Angeles geboren und ist am 12. August 1992 in New York gestorben.
    Der amerikanische Komponist und Schriftsteller John Cage (picture alliance / dpa / Jörg Schmitt)
    In dieser Sendung werden zwei CDs mit Orgelmusik von Komponisten des 20. Jahrhunderts vorgestellt. Bei Orgel denkt man unwillkürlich an Kirchenmusik, aber auch an das enorme klangliche Potenzial dieses Instruments. Deshalb haben auch viele zeitgenössische Komponisten für Orgel geschrieben – unter ihnen der niederländische Musiker Hendrik Andriessen. Hören sie den Beginn seines "Chorals Nr. 1".
    //Hendrik Andriessen: Choral Nr. 1 für Orgel
    Benjamin Saunders, Orgel
    Hendrik Andriessen: The Four Chorals an Other Organ Music, Brlliant Classics 94958, EAN 5028421949581, LC 09421//
    Hendrik Andriessen, 1892 an der Schwelle zum 20. Jahrhundert geboren, orientierte sich zunächst am spätromantischen Komponisten Cesar Franck und dessen symphonischen Herangehen an die Orgel. Das hört man dem 1913 geschriebenen "Choral Nr. 1" deutlich an. Leise beginnt das Stück und schwingt sich nach und nach zu klanggewaltigen Höhen auf. Mit der dynamischen Steigerung entfaltet sich ein Spiel vielschichtig irisierender Farben.
    Britischer Organist Benjamin Saunders
    Das Instrument, auf dem der britische Organist Benjamin Saunders Werke von Hendrik Andriessen eingespielt hat, erlaubt eine solch farbige Registrierung der Musik. Es ist die 1904 gebaute und kürzlich im Stil der Entstehungszeit restaurierte Orgel der Kathedrale von Leeds. Saunders nutzt die Klangfarbenvielfalt des Instruments auch für die viel schlichter gehaltene Komposition "Thema und Variationen" von 1949. Im wahren Sinne des Wortes zieht er hier alle möglichen Register und verleiht dem neoklassizistisch wirkenden Stück ein sensibel ausgehörtes Klanggewand.
    //Hendrik Andriessen: Theme and Variations für Orgel
    Benjamin Saunders, Orgel
    Hendrik Andriessen: The Four Chorals an Other Organ Music, Brlliant Classics 94958, EAN 5028421949581, LC 09421//
    Bei der Aufnahme dieser 2014 produzierten Einspielung wünschte man sich ein wenig mehr Klarheit und Durchhörbarkeit, gerade wegen der klanglichen Differenzierung dieser Musik, und bei leisen Passagen ist mehr als das übliche Rauschen zu hören. Das ist schade, denn die CD präsentiert einen weniger bekannten Komponisten, dessen Werk am Übergang von der Romantik zur Moderne angesiedelt ist.
    John Cages "Organ2/ASLSP"
    Die Entwicklung der Moderne maßgeblich mitgestaltet hat Hendrik Andriessens 1939 geborener Sohn Louis, der wohl bedeutendste niederländische Komponist seiner Generation. Das gilt ebenso für den 1912 geborenen und 1992 verstorbenen John Cage, dessen künstlerische Konzepte bis heute das Komponieren beeinflussen.
    Das US-amerikanische Label mode records bietet eine umfassende Edition mit der Musik von John Cage an. 50 Alben sind bisher erschienen, darunter als Nummer 47 die Stücke für Orgel. Eines der Orgelwerke hat wegen der Aufführung in Halberstadt Berühmtheit erlangt. Es ist die 1985 entstandene Komposition "Organ2/ASLSP", wobei aslsp "as slow as possible", so langsam wie möglich heißt. Denn John Cage hat die Aufführungsdauer des Stücks nicht vorgeschrieben, und in Halberstadt konzipierte man sie auf 639 Jahre; seit 2001 kann man das Werk dort hören. Für die CD interpretierte der US-amerikanische Organist Gary Verkade das Stück in etwa 33 Minuten.
    //John Cage: Organ2/ASLSP für Orgel
    Gary Verkade, Orgel
    John Cage: The Organ Works, Cage 47, mode 253/4, EAN 764593025320, LC 29022//
    Bei "Organ2/ASLSP" liegt nicht nur die Aufführungsdauer, sondern auch Anderes vollständig in der Hand des Interpreten. So gibt es keinerlei Angaben zur Lautstärke und zu den Klangfarben beziehungsweise der Registrierung.
    Gary Verkade lebt in Schweden und spielt auf dem Instrument der Nederlulea Kirche in Gammelstadt. Gammelstadt ist ein kleines Dorf in der nördlichsten Provinz Schwedens nahe der finnischen Grenze. 1971 erhielt die Kirche eine fünf-manualige Orgel von der in Gammelstadt ansässigen Orgelbaufirma Grönlund. Das Instrument ist modern konstruiert und hat, anders als die romantische Orgel in Leeds, ein für viele musikalische Stile geeignetes Pfeifenwerk.
    Flirrende Farbenspiele
    Bei seiner Interpretation von "Organ2/ASLSP" verwendet Gary Verkade flirrende Farbenspiele, indem er rauschende mit schillernden Registern kombiniert. Das 1983 geschriebene Stück "Souvenir" hingegen spielt er in einer, man könnte sagen barocken Weise. Einzelne, scharf konturierte Klangfarben stehen im Vordergrund, und klare Kontraste zwischen ihnen verleihen den kurzgliedrigen Tonfolgen Leben. Dabei nutzt Gary Verkade auch das An- und Abschwellen der Lautstärke, das moderne Orgeln erlauben.
    //John Cage: Souvenir für Orgel
    Gary Verkade, Orgel
    John Cage: The Organ Works, Cage 47, mode 253/4, EAN 764593025320, LC 29022//
    Ähnlich schlicht, klar und kontrastreich klingt der 1978 entstandene 13-teilige Zyklus "Some of ´The Harmony of Maine´". Hier ist die Registrierung vom Komponisten vorgeschrieben, der sogar wegen der Komplexität der Registerwechsel sechs Registranten bei einer Aufführung haben möchte.
    //John Cage: Some of "The Harmony of Maine" für Orgel, Invitation L.M.
    Gary Verkade, Orgel
    John Cage: The Organ Works, Cage 47, mode 253/4, EAN 764593025320, LC 29022//
    "The Harmony of Maine" ist eine 1794 erschienene Notenausgabe vom US-amerikanischen Komponisten Supply Belcher. Sie versammelt 75 Lieder in kirchenmusikalischer Tradition. Schon früher hatte John Cage auf solch originale amerikanische Musik zurückgegriffen. In diesem Fall wählte er 13 Lieder aus dem Zyklus als Material für seine Kompositionen.
    Einfluss von Zufall beim Komponieren
    Wie häufig arbeitete Cage auch hier mit Zufallsoperationen, um die Parameter der Musik festzulegen. Das betrifft die Registrierung, aber auch die Noten selbst. Solche Zufallsoperationen sahen bei Cage ganz unterschiedlich aus; er würfelte, oder er zerknüllte ein Notenblatt und wählte als Töne diejenigen, die an den Knickstellen lagen und so weiter. In "Some of ´The Harmony of Maine´" entschied er mit solchen Verfahren, welche Töne der originalen Lieder erscheinen, welche nicht, und wie lange die Töne erklingen.
    Die ursprüngliche Struktur der Lieder geht dabei verloren, und etwas völlig Neues entsteht. Auf dieses Neue und weg vom Vertrauten möchte John Cage die Aufmerksamkeit des Hörers lenken. Dem Komponisten geht es um den Wert des einzelnen Tons und seine klangliche Ausgestaltung. Gary Verkade spielt das fantasievoll und mit feinem Gespür fürs klangliche Detail.
    //John Cage: Some of "The Harmony of Maine" für Orgel, The Lilly P.M.
    Gary Verkade, Orgel
    John Cage: The Organ Works, Cage 47, mode 253/4, EAN 764593025320, LC 29022//
    Sie hörten das letzte Stück aus John Cages Zyklus "Some of ´The Harmony of Maine´". Die von Gary Verkade eingespielte Doppel-CD mit den Orgelwerken des Komponisten ist im Rahmen der John Cage-Edition der US-amerikanischen Firma mode records in HI-Definition erschienen. Die Werke von Hendrik Andriessen, interpretiert von Benjamin Saunders, publizierte das niederländische Label Brilliant Classics.