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Andrzej Stasiuk: "Der Osten"
Faszination des Verfalls

Für sein Buch "Der Osten" hat sich Andrzej Stasiuk von Polen aus auf eine Reise nach China gemacht. Er sucht dort nach den Wurzeln des Kommunismus. Unterwegs trifft er auf verfallene Dörfer und einsame Gebiete, die auf ihn eine große Faszination ausüben.

Von Christoph Schröder | 06.12.2016
    Der polnische Autor Andrzej Stasiuk
    Andrzej Stasiuk war in den entlegensten Gebieten unterwegs, in die sonst niemand kommt. (picture alliance / dpa / Andrzej Grygiel)
    Ein Haufen alter Regale, das alte Inventar aus einem untergegangenen LPG-Laden, "kommunistische Antiquitäten", wie es heißt – sie sind der Erinnerungsauslöser im neuen Buch von Andrzej Stasiuk. Und so profan der Anlass auch sein mag, so weit öffnet sich der Wahrnehmungsapparat des Erzählers zu einem dichten und intensiven Album aus Stimmungen, Beobachtungen, Farben, Geräuschen und Gerüchen, das Stasiuk nach und nach aufblättert.
    "Der Osten" ist ein faszinierendes Buch, in dem Stasiuk sein Lebensthema, das Unterwegssein in den entlegenen, vergessenen Gebieten, perfektioniert und auf die Spitze getrieben hat. Stasiuk geht auf verschlungenen Wegen und auf verschiedenen Ebenen den existenziellen Fragen nach: Wie wird eine Landschaft von Geschichte geprägt – und umgekehrt? Wo kommt er her, der Kommunismus, der seine Kindheit in den 60er- und 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts grundiert hat?
    Erkunder des Konkreten
    Stasiuk, dieser imposante, furchtlose, kräftige Abenteurer, ist ein großer Erkunder des Konkreten. Er macht sich auf den Weg. Er geht, wie man in der Fußballersprache sagen würde, dorthin, wo es weh tut, und verleiht mit seiner ungemein energiegeladenen Sprache noch dem ödesten mongolischen Kaff den Hauch des Transzendenten.
    Doch seine Erkundung dessen, was das sein könnte, der Osten, beginnt zunächst in den polnischen Dörfern östlich der Weichsel; in der Heraufbeschwörung jener Atmosphäre seiner Anfangszeit, die mit der Lebenssituation der Gegenwart immer wieder zusammen fällt.
    "Ich wache auf und höre das Klopfen von Vogelschnäbeln. Der auf der Veranda hängende Speck ist gefroren. Kohlmeisen, Blaumeisen und Dompfaffen versuchen ein Stück des versteinerten Fettes abzuhacken. Die Luft ist gläsern und unbewegt. Graublaues Morgenlicht erfüllt das Zimmer. Es ist das gleiche Licht wie in der Kindheit, an Sonntagen oder in den Ferien, wenn man länger im Bett blieb und allein war mit den Phantasien über alle zukünftigen Welten."
    Omnipräsenz des Zweiten Weltkrieges
    Ständig überlagern sich die Zeiten und die Orte. Im Polen, so wie Stasiuk es rekonstruiert, ist der Zweite Weltkrieg, sind die Demarkationslinien noch omnipräsent. Hier haben Stasiuks Eltern die russischen Soldaten zum ersten mal gesehen; heruntergekommene Gestalten, die nach Uhren suchten und die Hühner mitsamt Federkleid in den Kochtopf warfen. Und kurz davor noch die Deutschen.
    Das Konzentrationslager Treblinka ist nicht weit entfernt, 30 Kilometer Luftlinie. Die Eltern haben darüber nie ein Wort verloren. Höflich waren die Deutschen, reinlich, effizient, das weiß man noch. Der Osten, das ist auch ein großes Grab. Und ein Gebiet der territorialen Machtansprüche. "Der Osten gehört der SS", hat Heinrich Himmler gesagt. Verloren haben sie hier alle.
    "Ab dem Ural ist es nur flach, flach, flach. Keinerlei Hindernisse für das Wetter, keinerlei Hindernisse für Armeen. So hat Napoleon gedacht, so hat Hitler gedacht. Später traten sie wie begossene Pudel den Rückzug an. Dass es so etwas Großes wie diesen flachen Osten geben könnte, das konnten sie sich nicht vorstellen. Welche Strecke du auch zurücklegst, du kommst nicht an. Wie viele du auch losschickst, sie gehen unter."
    Faszination der Trostlosigkeit
    Im Jahr 2006 macht Stasiuk sich zum ersten Mal auf in Richtung Russland. Weiter, immer weiter. An Orte, an die sonst niemand fahren würde. Nach Kirgisistan, in die Mongolei. Fasziniert ist er vom Zerfall, von der endlosen Ödnis, von den windigen Weiten, den endlosen Straßen, die auf den flachen Horizont zulaufen, den deprimierenden Städten, von der Trostlosigkeit. Die Summe seiner Lebensreisen verschmilzt hier, in der extremen Weite des auseinandergefallenen Riesenreichs, zu einer einzigen Bewegung, zu einer historischen Tiefenbohrung und einer Selbsterkundung zugleich.
    Stasiuks Interesse zielt auf die Ränder, auf das Wilde, Anarchische. Die Sowjetunion musste erst untergehen, um für ihn zum Sehnsuchtsraum werden zu können. Er sucht nicht die distanzierte Beobachtung, nicht das Erhabene des Verfalls, sondern ist durchlässig für die überraschende Schönheit des Augenblicks. Gleichzeitig aber sind seine Erfahrungen im Unterwegssein auch immer wieder Anlass zum Innehalten. In diesem stetigen Wechselspiel zwischen Außenwahrnehmung und Selbstreflexion liegt der Reiz von Stasiuks Prosa. Blitzschnell kann er umschalten zwischen den Genres und Tonfällen, zwischen der melancholischen Stimmungslage, der genauen Landschaftsbeschreibung, der mit Derbheiten gesättigten Kneipenszene und den geschichtlichen Exkursen.
    All das gehört bei Stasiuk untrennbar zusammen: Der polnische Katholizismus und die neuen Shell-Tankstellen, die überall entstehen, der ausgelöschte Kommunismus und die neue Unordnung. Daraus entfalten sich die Geschichten. Und darunter, das vergisst der Erzähler zu keiner Sekunde, lauert stets der Tod:
    "Dies ist ein Land der Knochen, daran muss man sich gewöhnen. Überall liegen sie. In der Steppe, an der Straße, in Siedlungen, in Städten. Knochen. Auch an dutzenden von anderen Orten. Man konnte sich vorstellen, dass sie sich seit Jahrtausenden in der Erde ablagern, Schicht für Schicht, zusammen mit Gräsern, zusammen mit der Jahr um Jahr sterbenden Flora. Dass wir über einen großen Friedhof gehen. Über ein Gräberfeld alles Lebendigen."
    Weder Nostalgie noch Sentimentalität
    Bei Stasiuk gibt es weder Nostalgie noch Sentimentalität. Sein Blick ist so klar wie streng subjektiv. Er spricht nicht die Sprache der Politik, sondern die der Literatur. Ihn treibt der Wunsch nach der Erkenntnis an, woher das mächtige utopische Potenzial gekommen ist, das einen so ungeheuren geografischen Raum über Jahrzehnte hinweg ideologisch zusammen gehalten hat. Auf seiner Suche landet er schließlich in China:
    "Ich musste China sehen. Weil ich ein Kind des Kommunismus war. Russland war die Quelle, aber China war die Woge, die die Welt überschwemmen würde. Ich musste mich überzeugen, dass meine Geschichte Teil eines größeren Ganzen war."
    Der Kommunismus, der Osten – beides wird bei Stasiuk zur Metapher. Die gewaltigen, erstarrten Imperien, an deren ausfransenden Peripherien die zerlöcherten Straßen ins Nirgendwo führen, sind Stasiuks literarisches Hoheitsgebiet. Und auch endlich, im Jahr 2012, in China angekommen, bleibt sein Blick offen für Ambivalenzen und historische Kontinuitäten.
    Am Ende steht der Erzähler wieder dort, wo alles angefangen und sich doch auch alles verändert hat: auf einer alten Dorfstraße im südlichen Polen. Er stellt sich das frühere Leben vor, das Licht, die Geräusche. Erst wenn etwas zur Legende geworden sei, sagt Stasiuk, lohne es, sich daran zu erinnern. Diese Legenden kann kaum einer so brillant festhalten, wie er.
    Andrzej Stasiuk: "Der Osten"
    Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, 298 Seiten, 22,95 Euro.