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Anekdotische Abgeklärtheit

Als Zehnjähriger hatte György Konrád enormes aber ambivalentes Glück. Ein Verwandtenbesuch rettete dem 1933 geborenen ungarisch-jüdische Schriftsteller das Leben. Seine Eltern hingegen starben im KZ. In "Sonnenfinsternis auf dem Berg" blickt er nun mit einer anekdotischen Abgeklärtheitauf auf sein Leben zurück.

Von Dorothea Dieckmann | 07.04.2005
    Vielleicht kann nur ein Entkommener so gelassen aus seinem Leben erzählen. Die Eröffnung seines neuen autobiographischen Romans zeigt György Konrád auf einer Gartenbank in seiner Sommerresidenz unweit des Plattensees. Sein Leben verdankt der 1933 geborene ungarisch-jüdische Romancier, Essayist und engagierte Intellektuelle einem Umstand, von dem schon sein letzter Roman "Glück" erzählte: Der Zehnjährige war auf Verwandtenbesuch in Budapest, als seine Eltern in ein österreichisches KZ deportiert wurden, aus dem sie jedoch wie durch ein Wunder zurückkehrten. Noch einmal reflektiert er dieses ambivalente Glück:

    "Immer wieder bekam ich zu hören, ich würde statt der anderen leben. Das erschreckte mich. Selbst in der Verwandtschaft spürte ich irgendein mit Anerkennung gemischtes Befremden angesichts des Glücks, dass wir alle am Leben geblieben waren und noch dazu, wie im Märchen, in das gleiche Nest zurückgekehrt waren und die Absicht hatten, dort wieder glücklich zu leben, bis wir sterben würden.

    Ich denke, dass eigentlich in meiner Generation nicht nur die Juden diese Erlebnisse haben; die Kriegskinder haben Todesgefahr gelernt, jüdische Kinder noch mehr. Sie hatten ein Schicksal, dass zum Beispiel alle Männer, Schulkameraden getötet wurden, und es war nur ein Zufall. Und die Zufälle haben eine allzu große Bedeutung in dieser Überlebensstrategie."

    Wenn Konrád nun in dem Roman "Sonnenfinsternis auf dem Berg" auf sein Leben nach 1945 zurückblickt, so geschieht das mit der zugleich summarischen und anekdotischen Abgeklärtheit eines Erzählers, der das Geschenk seines Überlebens genutzt und genossen hat. Und das, obwohl nach einer kurzen, unbeschwerten Zeit die kommunistische Eiszeit einsetzte, die der Gymnasiast hautnah zu spüren bekam. Es begann ein Leben der Bohème im Angesicht der Bedrohung, ein existentielles Gemisch, das groteske Zynismen zeitigte - wie etwa das Schicksal der alten Konditorei an der Budapester Andrássy-Straße: Die Glasziegel, die das alte Schaufenster ersetzen, verbergen die Tatsache,

    "dass jene Gefangenen, welche mit der Unterschrift unter das Verneh-mungsprotokoll ihr Schuldbekenntnis besiegelt hatten, in dieser Konditorei zusammen mit den anderen die ihnen im Prozess zugedachte Rolle einstudierten. Die Konditorei mit ihrer Art-déco-Einrichtung hatte sich in einen Klubraum für Offiziere des Staatssicherheitsdienstes verwandelt. Wenn die Verhafteten die vorgefertigten Antworten, die sie im Prozess geben sollten, auswendig herunterleierten, bekamen sie Kuchen."

    Konrád hat den Stoff seiner Vergangenheit in einer Weise angeordnet, die trotz des entspannten Plaudertons die tragikomischen Verwerfungen zwischen per-sönlicher Freiheit und politischer Repression betont. Nirgendwo wird das Nebeneinander von Normalität und Ausnahmezustand so deutlich wie im Winter 1956, als der junge Revolutionär mit seinem Maschinengewehr in Budapest patrouilliert. Die blutige Abrechnung mit den russischen Unterdrückern kontrastiert mit friedlichen Alltagsbildern. In verstörender Reihenfolge wechseln sich die Morde an den ungarischen Kollaborateuren mit den Nockerln ab, die Konráds erste Ehefrau so gut zu kochen versteht, und der Erschießung sowjetischer Sol-daten folgt der starke Kaffee in einer Espressobar.

    "Es ist vielleicht zynisch, aber die Erlebnisse sind nebeneinander. Es ist so, dass man sieht eine Lynchszene nicht mir Freude, obwohl ich für diese Revolution war, aber ich mochte nicht, dass es so blutig war und ungefähr zehntausend Menschen von den beiden Seiten getötet wurden. Das heißt, das Nebeneinander der Erlebnisse, der dramatischen und nicht dramatischen, der banalen und der außergewöhnlichen, ist irgendwie surrealistisch, und diese Assoziierung ist sur-realistisch, aber das Leben ist so."

    Dennoch ist es weder das Prinzip der Assoziation noch die Logik eines Bildungs- und Entwicklungwegs, die Konráds Erinnerungsroman leiten, sondern eine Chronologie, die ihre eigene Kausalität begründet. So hat Konrád aus der Niederschlagung des 1956er Aufstands nicht die Konsequenz der Emigration gezogen, denn die biographischen überstimmten die politischen Motive.

    "Als ein Dorftrottel, der nach Budapest kam - es war ein Wunderland. Für die Budapester war es eine Banalität. Von meiner Schule sind meistens die Budapester nach 56 emigriert; sie wollten noch etwas anderes erleben. Und ich dachte: Budapest ist schon ein Dschungel; dort kann ich noch vieles erfahren. Ein Schriftsteller ist mehr eine Katze als ein Hund."

    György Konrád, die sesshafte Katze, ist nach einem Berufs- und Publikationsverbot in die innere Emigration gegangen, bevor ihn Stipendien und Gastprofes-suren ins Ausland brachten. Während er im Westen veröffentlichte, wurde in Ungarn aus dem Bürger ein Dissident, der sein Engagement mit vielerlei Schikanen bezahlte; erst mit der Wende konnte er die Funktionen wahrnehmen, die aus dem Künstler eine öffentliche moralisch-politische Instanz machten. Im "Rückspiegel", wie der 73-jährige seine biographischen Selbstbetrachtungen nennt, enthüllen die Bedingungen der sozialistischen Diktatur jedoch paradoxe utopische Potentiale:

    "Eine verrückte Welt, in der niedergeschriebene Worte eine so unglaubli-che Bedeutung zu haben scheinen, obwohl ihnen die Wirklichkeit nicht zukommt. Im Westen hätte ich wegen meiner Schriften keine Haussuchungen im Morgengrauen befürchten müssen. Ich tröstete mich damit, dass es ohne Gefahr keine gedankliche Schärfe gibt. Wenn du wegen deiner Wahrheit nicht angegriffen werden kannst, dann hat deine Wahrheit auch kein Gewicht."

    Was diese Erkenntnis für das Schreiben in den heutigen, politisch liberalen Ver-hältnissen des Kapitalismus bedeutet, erläutert Konrád lakonisch mit einer A-nekdote über den großen Kollegen Danilo Kis:

    "Mein Freund, der großartige Romancier aus Jugoslawien, lebte am Ende sei-nes Lebens in Paris. Und als wir einen Spaziergang machten, habe ich ihn ge-fragt: Was denkst du über die engeren Kollegen in Paris? Ach, ich finde sie mit-telmäßig oder grau, sagte er, denn sie haben nichts zu erzählen. Ihr einziges Erlebnis war, dass sie mit dem Hausmädchen ins Bett gegangen sind, und sie waren damit glücklich oder unglücklich, aber das interessiert uns nicht besonders."

    Etwas von diesem saturierten Frieden ist auch Konráds Erinnerungsroman im-mer dann anzumerken, wenn sich seine Reflexionen in einer allzu gemütlichen Allgemeinheit verlieren - vielleicht ein Tribut an die Ruhe nach den Stürmen seines Lebens. Abbruch tut dies dem Roman allerdings weniger als die vielen Ungeschicklichkeiten der Übersetzung, die von Ausdrücken wie "formgestaltete Behausung" oder "lokales Allgemeinbefinden" bis zu kruden Sprachschöpfun-gen wie "in Wonne sich badende pfiffige Mundwinkel" reichen. Man hätte der sanften, ironischen Erzählstimme des Ungarn lieber in einer reineren deutschen Version gelauscht.

    György Konrád: Sonnenfinsternis auf dem Berg
    Suhrkamp Verlag