Dienstag, 16. April 2024

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Angela Davis löscht ihre Website. Listen, Refrains, Abbildungen

"Zurück zu den Sachthemen", heißt die unmissverständlich im Stil von Fahrschulbroschüren gemalte Parole, die auf ein Schild gemalt ist, das von einer freundlichen Hand in die Seite gehalten wird. Gleich zu Anfang des Buches eine Grafik und ein Imperativ. Der erinnert uns, die wir gerade Andreas Neumeisters neues Werk zu lesen beginnen, von fern an das Motto des Philosophen Edmund Husserl, der mit seinem Schlachtruf "Zu den Sachen selbst" das 20. Jahrhundert eingeläutet und unter damaligen Philosophiestudenten für Jubel und Aufbruchstimmung gesorgt hatte.

Thomas Palzer | 09.12.2002
    Inzwischen ist wieder ein Jahrhundert im Mülleimer der Geschichte gelandet, doch scheint sich die Wirklichkeit bzw. das, was wir für diese halten, wieder in einer ähnlich desaströsen Lage zu befinden wie zu Husserls Zeiten: Eine Kultur des Als-ob, die für uns heutige unter Begriffen wie "medialer Zirkus", "virtuelle Realität" oder "Simulacrum" firmieren - angesiedelt zwischen Sofies und Veronas Welt -, hat sich zwischen die Subjekte und deren Körper geschoben und verhängt uns in paradoxer Buntheit und Lautstärke den Horizont. Hinter den Oberflächen, die lange gelobt wurden, werden plötzlich wieder die Abgründe spürbar, die jene seit den frühen Achtzigern oft meisterhaft verdeckt hatten.

    "Gibt es die neue Weltordnung schon?" fragt darum Neumeister in die Runde des Lesenden - und erteilt den Versuch seiner Antwort in Form eines rhythmisch wie optisch raffiniert gebauten Textes, den man wie ein Gesangbuch lesen, durch den man aber auch mit dem Daumen wie durch eine Skala von Websites scrollen kann. Angela Davis löscht ihre Website heißt das schmale, aber feine Werk, das von sich behauptet, aus "Listen, Refrains" und "Abbildungen" zu bestehen. Abbildungen finden sich in dem Buch im übrigen keine oder fast keine, wohl aber häufig das Kürzel für Abbildung - und dazu eine Zeile, wie sie jede Illustrierte und jedes Magazin tautologisch als Bildlegende benutzt.

    Die Genese der Textform war auch tatsächlich im Netz, weil wir damals vor zwei Jahren am-pool.de laufen hatten, und ich da über neue Formen nachgedacht hatte , wie ein Text im Netz funktionieren kann. Am pool war einfach sehr schön, dass es halt tagesaktuell war, bei pool konnte jeder jederzeit seinen Text selber reinstellen. Und ich habe eben so eine kurze Textform für mich gefunden, die eben meistens Ein-Satz-Absätze waren, die dann abgeschlossen waren durch eine Bildunterschrift. Am Schluss oder fast am Schluss stand Abbildung und dann war ein Bildtitel, das Bild gab es aber gar nicht, was natürlich viele auch verwirrt hat, weil, das gibt es ja oft: Man hat eine Website und die site lädt nicht schnell genug, und dann ist da so ein Stellvertreter, und man weiß, da müsste eine Abbildung kommen.

    Neumeister, der zur Pop-Fraktion der deutschen Literatur gerechnet wird - der man ja gerade allenthalben und süffisant die Totenglocke läutet -, und sein forcierter Blick auf die Wirklichkeit sprengen den Popbegriff aus den falschen Zusammenhängen, in die er in den letzten Jahren zunehmend geraten war - aus seiner vermeintlich apolitischen Harmlosigkeit -, heraus. Was der Autor untersucht, ist die Frage, wieviel von dem, was uns umgibt und was immer schriller um unsere Aufmerksamkeit buhlt, Realität ist und wieviel davon Medienrealität. Wie lauten die Phrasen der Jahrzehnts?

    "Vortäuschung falscher Tatsachen oder Vortäuschung richtiger Tatsachen?" heißt es denn auch spitzbübisch, wenn durch die Variation eines für die Info-Gesellschaft typischen "Refrains" hinter diesem plötzlich sein tatsächlicher, bedenkenswerter Sinn aufblitzt. Als kluger Pop-Literat bemüht Andreas Neumeister keine mimetische Erzählstrategie, um uns das Jahrzehnt, in dem wir leben, vorzuführen, und ebenso versagt er sich jener Glasperlenspiele, die einem die Realität des Stuhls unter dem Hintern hartnäckig bestreiten wollen. Ganz im Gegenteil setzt Angela Davis, welcher Text ja eben darum diesen Namen im Titel führt, voraus, dass es erstens Wirklichkeit gibt, und dass - zweitens - Sprache sich auf diese Wirklichkeit bezieht. Zum Beispiel Angela Davis.

    Kurz nach dem 11. September gab es eine kurze Zeitungsmeldung, dass sie wirklich ihre Website aus dem Netz genommen hat, die wohl etwas antiamerikanisch war und ihr dann irgendwie als unpassend erschien. Ich fand sie immer schon eine sehr interessante Figur, aber sie spielt in dem Buch dann weiter gar keine Rolle. Um dass Netz geht es viel, ums Anklicken, ums Zappen am Fernseher, was ja sehr verwandt ist mit dem sich durchs Netz zappen. Aber der Titel Angela Davis ist wirklich nur dieser kleine Aufhänger dieses Zeitungsartikels. Weil ich das einfach sehr sprechend fand, dass einfach so viele von den Linksintellektuellen über Nacht sich so in die Defensive gedrängt fühlten.

    Der Autor nimmt die täglich sich erneuernde Wirklichkeit als Archiv von Oberflächen und siebt uns aus dem Arsenal der kursierenden Wörter, Namen, Begriffe und Abkürzungen diejenigen heraus, die nach eingehendem Sichten, Sortieren und neuerlichem Sichten keine Materialermüdung erkennen lassen und also sich zum poetischen Bau von Hyperlisten, Hyperrefrains und Hyperabbildungen approbiert haben.

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    Herausgekommen ist ein äußerst gelungener Hypertext, durch den man sich nicht mühsam klicken muss, sondern den man entweder - ganz traditionell - fortlaufend, oder den man eben wie ein Gesangbuch studieren kann. Angela Davis löscht ihre Website zeigt Pop-Literatur als das, was sie leisten kann: höchste Archivkunst, die so gut gefügt ist, dass das Material der Stanzen, Kürzel und Namen preisgibt, was täglich wirklich als Wirklichkeit daherkommt.