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Angelika Klüssendorf: "Jahre später"
Bilanz einer toxischen Ehe

Eine Amour fou, ein Kind, dann das Ende: April - die Hauptfigur in Angelika Klüssendorfs Roman - steht vor den Scherben ihrer Ehe. Das Schreiben rettet sie aus der Krise. In ihrem Buch greift Klüssendorf offen auf eigene Erfahrungen zurück. Doch löst sich die Erzählung völlig von ihrer Person - und berührt ohne Pathos.

Von Christel Wester | 22.02.2018
    Die Autorin Angelika Klüssendorf blickt am 20.09.2014 vor dem Literaturhaus in Frankfurt am Main (Hessen) am Rande einer Lesung in die Kamera.
    "Jahre später" ist nach "Das Mädchen" und "April" der letzte Teil einer Triologie (dpa / Arme Dedert)
    "April": Den Namen hat sich das Mädchen selbst gegeben, nach einem Deep Purple-Song. Doch er wird deutsch ausgesprochen wie der Frühjahrsmonat, der mit seinen ständigen Wetterwechseln gut zum Charakter von Angelika Klüssendorfs Protagonistin passt. Im Letzen Teil der Trilogie ist sie 30 Jahre alt, alleinerziehende Mutter und Schriftstellerin. Sie lebt in West-Berlin und ist zu einer Lesung in einer Hamburger Galerie eingeladen. Dort trifft sie auf den Mann, der gleichzeitig ihr Pendant und ihr erbitterter Widerpart ist.
    "Trotz ihrer Unruhe fällt ihr der Mann auf, der sich einige Stuhlreihen vor ihr umgedreht hat und sie anstarrt, er beschirmt sogar die Augen mit der Hand. April tut so, als bemerke sie ihn nicht, sie hält ihn für den Hausverwalter, sein Anzug wirkt schäbig, er dreht einen Schlüsselbund auf dem Zeigefinger. Vielleicht ist er ein Dichter, keine Ahnung. Weit auseinanderliegende Augen in einem Kindergesicht – er sieht einfach nicht weg."
    Der Mann mit dem Kindergesicht heißt Ludwig. Mag sein, dass er Züge des verstorbenen Herausgebers der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", Frank Schirrmacher trägt, mit dem die Autorin verheiratet war und einen Sohn bekam. Doch letztlich ist das völlig unerheblich, denn "Jahre später" ist kein Schlüsselroman und trägt keinerlei voyeuristische Züge. Im Roman ist Ludwig Chirurg und Angelika Klüssendorf hat ihn genau wie ihre Protagonistin April literarisch durchgestaltet und fiktionalisiert. Denn auch wenn sie in ihrer gesamten Romantrilogie offen auf autobiografischen Erfahrungen zurückgreift, ist es ihr doch gelungen, die Erzählung so zu verdichten, dass sie sich völlig von ihrer Person loslöst.
    Angelika Klüssendorf schreibt in nüchternen, betont klar strukturierten Sätzen und extrem reduziert. Hier wird nichts ausfabuliert, nichts bewertet. Mit sparsamen Strichen zeichnet sie ihre Charaktere und erzählt konsequent in der dritten Person. Die Handlung entwickelt sich anhand kurzer prägnanter Szenen, angesiedelt in der Zeit kurz vor und kurz nach dem Mauerfall. Nach Aprils Lesung in der Galerie sitzt der Mann, der sie vorhin so angestarrt hat, im Restaurant schon neben ihrem elfjährigen Sohn und hat die Kopfhörer von dessen Walkman auf. Sie geht demonstrativ zu einem anderen Tisch.
    Flirt mit einem Aufschneider
    Doch dann kommt der Mann mit dem Kindergesicht, fordert ihren Gesprächspartner auf, sich zu erheben, und nimmt wie selbstverständlich dessen Platz sein.
    Aufgrund seiner dreisten, übergriffigen Art findet April Ludwig zunächst unangenehm, aber irgendetwas an ihm zieht sie auch an. Er ist ein Aufschneider und vermittelt ihr das Gefühl der Unberechenbarkeit. Das ist ihr vertraut, denn in ihrer von Alkohol und Gewalt durchsetzten Familie waren alle unberechenbar. Ludwig ködert sie mit seinem Literaturinteresse und angeblichen prominenten Freunden. Er bietet ihr an, ein Treffen mit Samuel Beckett zu arrangieren.
    "Beckett ist keine Touristenattraktion, antwortet sie."
    Trotzdem tauscht sie mit ihm Adresse und Telefonnummer.
    "Monate später fällt die Mauer und Beckett ist tot. Sie schreibt Ludwig eine Karte und fragt ihn nach Becketts Todesstunde."
    Eine Amour fou beginnt zwischen zwei Menschen, die süchtig sind nach Intensität. Sie machen die verrücktesten Sachen, lassen Vögel aus der Zoohandlung frei, rufen mit verstellten Stimmen Ludwigs Kollegen an und erzeugen auf diese Weise einen Rausch der Zweisamkeit. Sie heiraten, bekommen einen Sohn. Doch beide können keine Nähe aushalten.
    Nähe-Phobiker, süchtig nach großen Gefühlen
    "Sie hat längst begriffen, Ludwig muss den Grund unter sich in einen brodelnden Abgrund verwandeln und das Gefühl haben, der Sturz sei unausweichlich, wie ein Spieler, der blufft, obwohl alles verloren ist. Eine letzte Gemeinsamkeit, die sie teilen."
    Wo Ludwigs innere Abgründe herrühren, bleibt offen. Aprils Geschichte, die in den beiden anderen Romanen der Trilogie erzählt wurde, scheint dagegen in vielen Passagen von "Jahre später" bruchstückhaft immer wieder durch. Es sind Andeutungen, die auf tiefe psychische Verletzungen schließen lassen. April kämpft mit Depressionen.
    "Ihr Gedächtnis ist wie ein Sieb, und ständig gehen ihr unwichtige Sachen durch den Kopf; ein Vogel klopft an ihre Schädelwand, tick, tick, tick, sein Nest musste sich in einem Hohlraum befinden, irgendwo zwischen den Hirnhemisphären."
    Dämonen einer grausamen Kindheit
    In ihren Selbstgesprächen bevölkern Figuren aus Filmen und Fernsehserien wie innere Dämonen ihre Küche und wühlen in ihrer Vergangenheit herum.
    "April wünscht sich andere Geister. Richtige Geister. Den Geist der Großmutter? Eine zarte, nachgiebige Frau, die nach Mottenpulver roch. Sie behielt April in ihrer Obhut, teilte mit ihr das Bett, bis sie fünf war - und eines Morgens tot, schon kalt, als das Kind neben ihr erwachte."
    April wuchs bei ihrer trinkenden jähzornigen Mutter auf, der Vater saß im Gefängnis. Als er entlassen wurde, gab es einen weiteren gewalttätigen Säufer in der Familie. Mit dieser Vergangenheit hat April Schwierigkeiten überhaupt Emotionen zuzulassen. Es ist fast quälend, ihr in "Jahre später" dabei zuzusehen, wie sie sich bemüht, wenigstens ihrem zweiten Sohn eine Tür zu ihren Gefühlen zu öffnen. Gleichzeitig ringt sie ständig mit Minderwertigkeitsgefühlen, wenn sie, die in prekären Verhältnissen aufwuchs, sich mit ihrem Chirurgen-Ehemann in gehobenen Kreisen bewegt.
    "Ludwig sagt, man sehe April an, was sie denkt, sie solle ihr Gesicht besser unter Kontrolle halten."
    Literatur als Rettung
    Angelika Klüssendorf erzählt, wie ein zutiefst traumatisierter Mensch sich seinen Platz im Leben erobert. Durch ihre sprachliche Nüchternheit und ihre Sparsamkeit beim Fabulieren vermeidet sie jegliches Pathos und schafft es doch enorm zu berühren. "Jahre später" entfaltet allerdings nicht die gleiche emotionale Wucht wie die ersten beiden Teile der Trilogie. "Das Mädchen" erzählte eine von Alkohol und Gewalt zerrüttete Kindheit, die sich einem beim Lesen wie eine Faust in die Magengrube bohrte.
    Die Fortsetzung "April" wiederum verknüpfte das Erwachsenwerden der Protagonistin mit der Übersiedlung von der DDR in die Bundesrepublik und erzählte von den Widersprüchen zwischen Heimatverlust und Befreiung. Doch mit "Jahre später" weitet Angelika Klüssendorf die Trilogie zu einem komplexen Entwicklungs- und Künstlerinnenroman, in dem die Literatur als Rettungsanker fungiert. Schon das "Mädchen" April war süchtig nach Geschichten und erschuf sich eine Fantasiewelt, wenn es mal wieder stundenlang im dunklen Keller eingesperrt war. Im zweiten Teil träumte April davon Schriftstellerin zu werden und macht erste Schreibversuche. Und in "Jahre später" kommt sie nun ans Ziel. Der Romanschluss lautet:
    "Das wird mein erster Satz sein, denkt sie: Scheiße fliegt durch die Luft."
    Genau mit diesem Satz beginnt der Roman "Das Mädchen". Angelika Klüssendorf schließt mit "Jahre später" einen Kreis und beendet ihr beeindruckendes, autofiktionales Schreibprojekt.
    Angelika Klüssendorf: Jahre später.
    Roman. Kiepenheuer & Witsch, 160 Seiten, 17 Euro.