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Angie Thomas: "On the Come Up"
Den Ghetto-Kids Mut machen

Bri ist eigentlich nur eine 16-Jährige mit einer Menge Probleme. Doch plötzlich wollen alle eine Symbolfigur aus ihr machen. Angie Thomas erzählt in ihrem zweiten Jugendroman von der Diskriminierung Schwarzer in den USA, von der Welt des Rap und davon, dass man seine Träume leben muss.

Von Dina Netz | 17.08.2019
Buchcover: Angie Thomas: „On The Come Up”
Buchcover: Angie Thomas: „On The Come Up” (Buchcover: cbj-Verlag, Hintergrundfoto: Gerda Bergs)
Die Schlüsselszene des neuen Romans von Angie Thomas ähnelt der ihres Debüts: Die 16-jährige Brianna Jackson wird bei der Eingangskontrolle zu ihrer Schule von zwei Wachleuten angehalten. Sie wollen ihren Rucksack sehen. Dabei hat der Metalldetektor, durch den alle Schüler müssen, gar nicht gepiept.
"Er greift nach dem Träger meines Rucksacks, aber ich ziehe ihn schnell weg. Als ich den Blick in seinen Augen sehe, wird mir sofort klar, dass ich das nicht hätte tun sollen. Er packt meinen Arm. ,Her mit dem Rucksack!' Ich reiße mich los. ,Fassen Sie mich nicht an!' Dann passiert alles blitzschnell. Er packt mich wieder am Arm und dreht ihn mir auf den Rücken. Den anderen auch. Ich versuche, beide Arme wegzuziehen und mich loszureißen, doch da wird sein Griff fester. Bevor ich weiß, wie mir geschieht, knalle ich mit dem Oberkörper hin, dann wird mein Gesicht gegen den kalten Boden gedrückt. Long kniet auf meinem Rücken, während Tate mir den Rucksack wegreißt."
Rap als Traum
Die Wachleute fesseln das am Boden liegende Mädchen mit Kabelbindern. Es gibt keinen Anlass für diese Gewalt, außer Briannas Hautfarbe – die Wachmänner nehmen sich besonders gern schwarze Schüler vor. Es geht also, wie bereits in "The Hate U Give", um die Diskriminierung von Schwarzen in den USA und darum, wie sie mit dieser Diskriminierung zu leben versuchen. Auf die Ungerechtigkeiten in der US-amerikanischen Gesellschaft hinzuweisen, ist Angie Thomas' erklärtes Anliegen. Dass ihre Romane dennoch nicht plakativ oder thesenhaft wirken, liegt wohl daran, dass Thomas von Dingen erzählt, die sie selbst erlebt hat. Und daran, dass sie über die literarischen Mittel verfügt, um aus diesen Erlebnissen packende Romane zu machen.
Der Vorfall in der Schule setzt eine Kaskade von Ereignissen in Gang, in deren Mittelpunkt mehr oder weniger freiwillig Brianna steht. Ihre Mitschülerinnen und Mitschüler, die schon lange gegen die Ungleichbehandlung an der Schule aufbegehren, wollen sie zur Symbolfigur ihres Protests machen. Dafür bietet Brianna sich geradezu an, weil sie die Tochter einer Rap-Legende ist. Ihr Vater starb bei einer Auseinandersetzung zwischen Gangs; da war seine Tochter vier. Und gerade hat Bri – wie sie genannt wird – zum ersten Mal selbst mit einem eigenen Rapsong einen Battle gewonnen.
Für sie ist das Rappen ein Traum, eine Chance auf ein Leben außerhalb des fiktiven Ghettos Garden Heights. Und es ist die Chance auf ein Leben, in dem sie ein Jemand und kein Niemand ist. Für viele andere allerdings, darunter der erste Manager, der um sie wirbt, ist Rap bloß ein Business und Bri eine Marionette, die diese Manager für ihre Zwecke nutzen wollen. Auch Bris Song "On The Come Up" wird von allen in ihrem jeweiligen Sinne interpretiert – Bri ist die Projektionsfläche für viele verschiedene Hoffnungen in diesem Roman.
Warum geht es nur mit Drogen?
Dabei ist Bri eigentlich nur ein Mädchen mit den ganz normalen Problemen einer 16-Jährigen – die Schule nervt mit Prüfungen, Jungs sind plötzlich nicht mehr nur Kumpels usw. Bri hat allerdings ein paar Probleme mehr als andere 16-Jährige. Ihre Mutter ist gerade arbeitslos geworden. Ihr Bruder Trey, der eigentlich studieren will, hält die Familie mit einem Job als Pizzabäcker über Wasser. Doch es reicht nicht: Sie müssen für kostenlose Lebensmittel anstehen, das Gas hat man ihnen schon abgestellt:
"Wir müssen jetzt Wasser in Töpfen auf dem Herd heiß machen, wenn wir baden wollen, und schlafen mit Extradecken. Ein paar Rechnungen sind zwischen Mom und Trey hängen geblieben. Sie musste die Gasfirma um Zahlungsaufschub bitten. Dann um einen weiteren und noch einen. Irgendwann hatten die es dort wohl satt, auf ihr Geld zu warten, und drehten den Hahn ab."
Bri will der Familie finanziell aus der Patsche helfen, indem sie als Rapperin schnell zu Geld kommt. Das führt wiederum zu Konflikten mit ihrer Mutter, die für ihre Tochter zuallererst eine gute Schulbildung vorgesehen hat und die kein weiteres Familienmitglied an den Rap verlieren will. Das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter ist ohnehin angespannt, weil die Mutter die Kinder jahrelang bei den Großeltern unterbrachte. Nach dem Tod ihres Mannes wurde sie drogensüchtig.
Das ist irgendwie grotesk
Dann ist da noch die Tante, die Bri die Türen in die Welt des Rap öffnet, die aber auch mit Drogen dealt.
"Das ist irgendwie grotesk. Da haben wir einerseits meinen Bruder, der alles richtig macht, ohne dass dabei was rauskommt. Und andererseits Aunt Pooh, die genau das tut, wovor man uns schon immer gewarnt hat. Aber sie bringt uns Lebensmittel, wenn wir welche brauchen. So läuft es bei uns. Die Drogendealer in meinem Viertel haben keine Probleme. Alle anderen schon."
Die Jacksons können stellvertretend stehen für die Probleme afroamerikanischer Familien in einer US-amerikanischen Großstadt. Die Nöte, mit denen sich Bri plötzlich konfrontiert sieht, sind allerdings eine Nummer zu groß für eine 16-Jährige. Angie Thomas stilisiert ihre Protagonistin nicht zur Heldin; das wäre auch wenig glaubwürdig.
Im Gegenteil: Bri ist drauf und dran, hoffnungslos unterzugehen in dem Haifischbecken aus Intrigen und widerstreitenden Interessen, in das sie teils gesprungen, teils gestoßen worden ist. Doch Bri ist zäh. Sie ist zwar naiv und aufbrausend, aber ihre Wut bringt sie auch weiter, und letztlich unterstützen sie doch mehr Menschen, als sie gedacht hat. Angie Thomas, die selbst als Teenie Rapperin werden wollte, beschreibt Bri mit viel Wärme und Empathie für eine Jugendliche, die zu schnell erwachsen geworden und von ihrer emotionalen Entwicklung her noch ein Mädchen ist.
Grimmiger Dialogwitz
Wie Angie Thomas alle Probleme dieser Familie schließlich fast auf einen Streich löst, ist allerdings ein wenig unglaubwürdig. Man gönnt es Bri und ihrer Familie jedoch aus ganzem Herzen. Denn außer dem etwas überraschenden Happy End besticht auch "On The Come Up" wieder durch die "Street Credibility", für die Angie Thomas zu Recht immer wieder gelobt wird. Man kann es auch weniger im Slang ausdrücken: Die Figuren, ihre Ausdrucksweise und ihre Geschichte sind absolut authentisch. In ihnen dürften sich auch viele hiesige Jugendliche wiedererkennen, die eben doch nicht ganz so gleich sind.
Die Kinder und Jugendlichen im Roman sprechen durchgehend ihren herzhaft mit Kraftausdrücken gewürzten Ghetto-Slang, in den man sich einlesen muss und den Henriette Zeltner zum Glück nur zum Teil übersetzt hat, womit sie den grimmigen Witz der Dialoge erhalten hat. Nicht zuletzt der Humor macht aus "On The Come Up" mehr als ein Sozialdrama, mit dem die Autorin Ghetto-Kids Mut machen will: Angie Thomas' Buch ist ein ziemlich lustiger, bewegender Coming-of-Age-Roman über ein wütendes Mädchen, das gegen ein ganzes Gebirge von Widerständen seinen Traum leben will.
Angie Thomas: "On The Come Up"
aus dem Amerikanischen von Henriette Zeltner
cbj-Verlag, München. 512 Seiten, 18 Euro, ab 14 Jahren.