Philosoph Gosepath zum Gütersloh-Urteil

Verhältnismäßigkeit - ein eherner Grundsatz der Gerechtigkeit

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Ein Bundeswehroffizier mit Mund-Nasenschutz steht schräg hinter einem großen roten "Einfahrt verboten"-Schild.
Unverhältnismäßig - so beurteilt das OVG Nordrhein-Westfalen den von der Landesregierung verhängten Lockdown für den gesamten Kreis Gütersloh. © imago / Noah Wedel
Stefan Gosepath im Gespräch mit Anke Schaefer · 07.07.2020
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Per Gerichtsbeschluss wird der Lockdown für den Kreis Güterloh aufgehoben. Der Philosoph Stefan Gosepath begrüßt das Urteil, mahnt aber zugleich, darin keine Bestrafungsaktion der Politik durch die Gerichte zu sehen. Es sei lediglich eine Korrektur.
"Es ist doch wunderbar, dass es in unserer Demokratie Gerichte gibt und dass eben Entscheidungen der Exekutive auf diese Weise überprüft werden und dann auch korrigiert werden." Der Philosoph Stefan Gosepath von der Freien Universität Berlin findet es richtig, dass das nordrhein-westfälische Oberlandesgericht den Lockdown für den Kreis Gütersloh teilweise gekippt hat. "Hier wurde eine Maßnahme für einen großen Bezirk insgesamt beschlossen, und das Gericht hat gesagt: Hier muss man noch mal differenzieren. In Teilen dieses Bezirkes ist die Maßnahme gerechtfertigt, in anderen Teilen des Bezirks ist sie nicht gerechtfertigt."
Denn jede Einschränkung von Freiheitsrechten müsse verhältnismäßig sein, betont der Philosoph. Verhältnismäßigkeit sei "ein eherner Grundsatz der Gerechtigkeit seit Aristoteles".
Man müsse also genauer hingucken - und jedem Bürger erklären, warum seine Freiheitsrechte eingeschränkt werden. "Das kann man nicht pauschal machen."

Maske tragen - ein kleines Opfer, das wir bringen müssen

Allerdings solle man in der Gerichtsentscheidung keine Bestrafungsaktion gegen die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen sehen, so Gosepath weiter. Es sei lediglich eine Korrektur - zumal eine, die seiner Einschätzung nach auch gern von der Regierung angenommen worden sei.
Ein ganz anders gelagerter Fall ist für den Philosophen die Diskussion um eine Aufhebung der Maskenpflicht beim Einkaufen: Denn bei der Einschätzung der Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme gehe es auch um die Frage, wie stark der Eingriff die Freiheitsrechte des Einzelnen beeinträchtige:
"Dass Leute jetzt in manchen Zirkeln so reagieren, als ob ihnen wer weiß was angetan wird, nur weil sie in einem Laden eine Maske tragen müssen, das kann ich jetzt nicht ganz nachvollziehen", sagt der Philosoph. "Das ist doch ein kleinstes Opfer. Wenn das tatsächlich insgesamt dazu beitragen sollte, dass weniger Leute infiziert werden, dann müssen wir dieses Opfer eben bringen."
(uko)

Stefan Gosepath ist Professor für Praktische Philosophie an der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Gerechtigkeit, Gleichheit, Menschenrechte, Verantwortung, Demokratie, Theorien der Vernunft und Rationalität, Moralphilosophie, Ethik und Handlungstheorie. 2017-18 war er Visiting Scholar am Department of Philosophy der New York University und der Columbia University.

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