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Angriff auf den Konsens

In seinem Buch "Die Unbeholfenen" geht Botho Strauß als Zivilisations- und Kulturkritiker wieder in die Vollen. Der Gattungstitel signalisiert schon, dass wir es hier nicht mit einem leichten Genre zu tun haben: "Bewußtseinsnovelle" hat der Autor sein Buch genannt.

Von Eberhard Falcke | 10.12.2007
    Die Abrechnung findet im Gewerbegebiet statt, wo Lagerhallen, Bürocontainer und Laderampen dem urbanen Lebensstil "Gute Nacht" sagen. Dort draußen vor der Stadt haben sich in einem übriggebliebenen alten Haus vier Geschwister und ein Freund angesiedelt. Da hausen sie als Sonderlinge im Abseits, und dafür gibt es höchst bedeutsame Gründe.

    Sie haben sich freiwillig in die Isolation begeben, weil sie, so ihre Worte, sich den "seelenräuberischen Einflüssen der Zeit" entziehen wollen, weil sie nach Rettung suchen vor der "Überschwemmung mit nichtswürdiger Gegenwart". Florian Lackner vernimmt es mit Neugier und Staunen. Eigentlich hatte ihn die Liebe zu Nadja, einer der Schwestern, in das Fachwerkhaus am Stadtrand gelockt, und nun findet er sich plötzlich in einer kleinen Dissidentengemeinde wieder mit seltsamen Allüren und eigenartigen Gedanken.

    Florian Lackner ist der Ich-Erzähler in der neuen langen Erzählung von Botho Strauß. Sie trägt die Gattungsbezeichung "Bewußtseinsnovelle" wahrlich nicht umsonst. Denn es herrscht in diesem Kreis ein ganz besonderes Bewusstsein vor, ganz zu schweigen von der hier angewandten Art des Erzählens, die ebenfalls aus der Gegenwart hinwegstrebt, nämlich in Richtung Goethe, was eine Reminiszenz an die "Wanderjahre" eigens unterstreicht. Dadurch gibt sich der Schauplatz der Handlung umso leichter zu erkennen als ein hermetisches Szenarium, in dem ganz andere Gedanken möglich werden als im normalen Weltgetriebe.

    Scharfzüngig rechnen die Geschwister als unverwechselbare Geschöpfe ihres Autors ab mit unserer Gesellschaft. Die sei dominiert von "durchtrainierten Angebern, Blendern, Vorteilsrittern, Gesinnungsgewinnlern, Gemeinplatzbewachern". Die Epoche nach Hitler habe, so wird da geklagt, nur unreife Menschen und ebensolche Kunst zugelassen. Aus der Banalität des Bösen sei das Böse der Banalität hervorgegangen, außerdem Kulturverfall allenthalben. An die Stelle der großen Kunstleistungen und Sinn-Bilder der Moderne seien nun "Imbezillität" und "Infodemenz" getreten. Schwarmintelligenz und Vernetzung hätten den Einzelnen als Kulturheros verdrängt. Heute gehe es allein um ständige technische Verbesserungen. Nach denen jedoch habe nie jemand verlangt, so wie einst nach der besseren Welt. Alles könnten wir heute sagen, tatsächlich aber sagten wir nichts.

    So geht es im Mittelteil des Buches über etwa 50 Seiten, meist monologisch, manchmal auch im Dialog zwischen den Figuren. Gegen den Zeitgeist bekennt sich die familiäre Dissidentengemeinde zur "gottgegebenen Unbeholfenheit des Menschen", die auch dadurch nicht gemindert werde, dass wir versiert mit den neuesten und schicksten technischen Apparaten hantieren. Daher der Buchtitel "Die Unbeholfenen".

    Das alles ist wieder einmal so unzeitgemäß, dass es fast weh tut. Typisch Botho Strauß, wird mancher rufen, das kennen wir doch! Trotzdem lassen sich diese Attacken und Analysen nicht in schnell gezimmerten Schubladen begraben. Sie besitzen große und womöglich zunehmende Brisanz. Weder Botho Strauß ist stehen geblieben, noch die Entwicklungen, die er ins Visier nimmt. Die Grimassen der Zeit ähneln sich zunehmend der Karikatur an, die der Zeitkritiker zeichnet.

    Ganz abgesehen davon, dass Strauß seiner Kritik in diesem Buch Luft unter die Flügel geblasen und sie spielerisch zum Schweben gebracht hat. Denn seine "Bewußtseinsnovelle" besitzt manche Ähnlichkeiten mit Schnitzlers berühmter "Traumnovelle". Damals, vor 80 Jahren, war es der orgiastische, ehebrecherische Sex, der die etablierte Alltagsordnung gefährlich unterminierte. Heute, bei Strauß ist es nun der von kritischem Bewusstsein befeuerte Angriff auf den vorherrschenden Konsens, der uns weismachen will, dass wir, besonnt vom ewigen Licht der Aufklärung, in der besten aller Welten lebten.

    Geradeso wie Schnitzler inszeniert auch Strauß den Blick in die Abgründe als einen nur kurz aufblitzenden Moment der Irritation. Dann ist die, wie es hier heißt, "höhere Reflexion" wieder abgeschnitten. Allerdings setzt Strauß noch eins drauf, wenn er den Ich-Erzähler schließlich als Consulting-Fachmann der besonderen Art vorstellt. Florian Lackners Beruf ist es nämlich, den Wirtschaftsführern ihre Träume zu deuten. Seine dabei gewonnenen Erfahrungen fas er in dem schönen Apercu zusammen, es gebe heute zu viele Tagungen, doch keine Schule der Nacht.

    Damit geht die unerhörte Begebenheit, von der diese "Bewußtseinsnovelle" erzählt, zu Ende. Vermutlich kehrt Florian Lackner zurück vom Rand der Stadt in ihre Mitte, wo die Diskurse flutschen, wo die Probleme der Welt durch Begriffsdesign gelöst werden und Unbeholfenheit völlig uncool ist.

    Mit den "Unbeholfenen" hat sich Botho Strauß nicht nur ein paar Geistesverwandte erfunden. Er hat damit seine Rolle als Zeitkritiker zugleich auch noch mit sardonischem Humor reflektiert. Ganz abgesehen davon, dass er hier ein paar Gedanken in den Raum stellt, die reichlich Stoff für manches "Philosophische Quartett" hergeben würden.


    Botho Strauß: Die Unbeholfenen. Bewußtseinsnovelle
    Hanser Verlag, München 2007
    124 Seiten, 12,90 Euro