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Angriff auf ein wehrloses Ziel

"Wäre ich ein Bewohner Gazas, dann würde ich mich der Hamas anschließen!" So lautet das Resümee des streitbaren Politikwissenschaftlers Norman G. Finkelstein zur Gaza-Invasion Israels.

Von Helge Buttkereit | 30.05.2011
    Norman Finkelstein ist im Zuge der Diskussion über seine Arbeiten mehrfach Antisemitismus vorgeworfen worden. Bewusst oder unbewusst stellt sich damit jedem Leser immer wieder die Frage, ob sein neues Buch über Israels zwei Jahre zurückliegende Gaza-Invasion antisemitisch ist. Dies ist es nicht, genauso wenig wie es seine bisherigen Arbeiten waren. Über einzelne Bewertungen Finkelsteins kann man trefflich streiten, sie gehen in ihrer Schärfe zuweilen über das Ziel hinaus. Das Problem ist ein anderes. In Finkelsteins eigenen Worten:

    Es wurde so getan, als ob Juden nach dem einzigartigen Leid, das ihnen im Zweiten Weltkrieg widerfahren war, nicht nach den gängigen moralisch-rechtlichen Maßstäben beurteilt werden dürften, und als stecke hinter Kritik an der israelischen Politik ein immer wieder aufflammender Judenhass.

    Dass Antisemitismus von der israelischen Regierung als Kampfbegriff gegen ihre Gegner benutzt wird, kritisiert beispielsweise auch der israelische Historiker Moshe Zuckermann. Wenn Israelkritik mit Antisemitismus gleichgesetzt wird, dann höhlt das in der Tat den Begriff aus. Es geht darum, einen Staat nach seinem Handeln zu beurteilen. Genauso ist Finkelsteins Buch unter Betrachtung seiner Argumentation zu beurteilen.

    Dabei versucht er sich an die Fakten zu halten, indem er für seine Aussagen auf 170 Seiten über 500 Belege anführt. Klar erkennbar stellt er sich auf die Seite der Opfer und fragt zunächst nach dem Grund der Gaza-Invasion. Bei der sogenannten "Operation gegossenes Blei" vom Jahreswechsel 2008/2009 wurden weit über 1000 Palästinenser getötet, die Mehrzahl davon Zivilisten. Außerdem zerstörte Israels Armee viele Häuser im überbevölkerten Gazastreifen. Finkelstein sieht die Invasion darin begründet, dass es Israel nach dem verlorenen Libanonkrieg des Jahres 2006 vor allem darum gegangen sei, seine Wehrhaftigkeit kurz vor den Parlamentswahlen im Februar 2009 zur Schau zu stellen. Nach außen und nach innen.

    Der Entschluss, die israelische Abschreckungsfähigkeit ausgerechnet in Gaza wiederherzustellen, beweist, dass Israel jegliches mit einem konventionellen Krieg verbundene Risiko scheute: Gaza wurde als Angriffsziel ausgewählt, weil es weitgehend wehrlos war.

    Mit Selbstverteidigung habe der Angriff nichts zu tun gehabt, urteilt Finkelstein und kann sich dabei auf eine breite Basis gleichlautender israelischer Aussagen bis in die höchsten Regierungskreise hinein stützen. Außerdem:

    Abgesehen davon, dass die im Juni 2008 in Kraft getretene Waffenruhe von Israel gebrochen wurde, zeigt schon der Blick auf die Menschenrechtsbilanz: Wenn hier jemand Grund hatte, Ende Dezember 2008 im Namen der Selbstverteidigung zu den Waffen zu greifen, dann die Palästinenser.

    Aber nicht die Palästinenser, sondern die Israelis griffen zu den Waffen. Alle zitierten Berichte unabhängiger Organisationen zeigen dabei massenhafte Menschenrechtsverletzungen auf.

    Das kriminelle Ausmaß der Zerstörungen lässt sich also nicht auf Missgeschicke oder einen Zusammenbruch der Befehlskette zurückführen. Was in Gaza geschah, war gewollt – von den Soldaten im Feld, die die Befehle ausführten, von den Offizieren, die die Befehle erteilten, und von den Politikern, die die Befehle absegneten.

    Auch der Bericht der UN-Mission, die vom südafrikanischen Richter Richard Goldstone angeführt wurde, wird von Finkelstein für diese Bewertung herangezogen. Mittlerweile hat Goldstone den von israelischer Seite viel kritisierten Bericht selbst in Frage gestellt, weil ihm neue Fakten bekannt geworden seien. Das aber überzeugt Finkelstein nicht. Während das Buch noch vor dem Widerruf erschien, hat er seine Position jüngst in einem Essay dargelegt, der zunächst in den Vereinigten Staaten publiziert wurde. Finkelstein untersucht darin die angeblich neuen Informationen Goldstones und zieht ein Resümee in Form zweier Fragen:

    Wissen wir jetzt, dass die Beweise für Kriegsverbrechen, die der Goldstone-Bericht und tausende von Seiten in anderen Berichten von Menschenrechtsorganisationen auflisten, komplett falsch sind, weil Israel es so sagt? "Wissen" wir ebenso, dass Israel keine Phosphorbomben während des Angriffs auf Gaza einsetzte, weil es das wiederholt zurückwies?

    In der Tat stammen die einzigen neuen Informationen, auf die sich Goldstone bezieht, aus israelischen Quellen, die zu größten Teilen nicht nachprüfbar sind. Die weiteren Teilnehmer der UN-Mission, die von Goldstone geführt wurde, sehen demnach auch keinen Grund für ein Abrücken vom im September 2009 veröffentlichten Bericht.
    Finkelstein führt das Einknicken des Ex-Chefanklägers des Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda insbesondere auf die scharfe Kritik aus Israel zurück. Der Hintergrund: Goldstone ist Jude, Unterstützer Israels und bezeichnet sich selber als Zionist. Ein solcher Gegner sei für Israel besonders gefährlich, argumentiert Finkelstein in seinem Buch, denn die von so einer Persönlichkeit vorgelegten Fakten müssten stimmen.

    Es verwundert also auch nicht, dass die Regierung in Jerusalem sich nach dem Rückzieher Goldstones bestätigt sieht, den sie durch permanenten Druck vermutlich selbst initiiert hat. Finkelstein fürchtet nun einen erneuten gnadenlosen Angriff auf die Menschen im Gazastreifen. In weite Ferne gerückt scheint sein Ziel, das er im Buch wie folgt formuliert hat:

    Der Sieg, nach dem wir streben, ist ein einschließender, kein ausschließender; er geht zu niemandes Lasten. Hier soll nichts erobert, niemand bezwungen werden. Es gibt keinen Verlierer, sondern nur Gewinner, wenn wir gemeinsam für Wahrheit und Gerechtigkeit streiten.

    Finkelsteins Buch macht ein weiteres Mal deutlich, wie wichtig der Frieden ist. Das zeigt die schonungslose und oft schwer zu ertragende Darstellung des Leidens. In dieser Hinsicht ist es ein wichtiger Beitrag zur Debatte, gerade auch nach den jüngsten Äußerungen von Richard Goldstone.

    Norman G. Finkelstein: "Israels Intervention in Gaza". Edition Nautilus, 224 Seiten, 18 Euro.