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Angriffe im Irak und in Syrien
"Die Türkei gehört zu den instabilen politischen Regionen"

Die Angriffe auf Kurden im Irak könnten auch zu Spannungen zwischen Ankara und Berlin führen, sagte der Sicherheitsexperte Walther Stützle im DLF. Denn die Bundesregierung unterstütze aktuell dort eine Gruppierung, gegen die die Türkei mit Waffen vorgehen wolle. Stützle sagte weiter, auch Ankara sei inzwischen ein Brandherd.

Walther Stützle im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 27.07.2015
    Walther Stützle
    Der frühere Verteidigungsstaatssekretär Walther Stützle (Torben Waleczek / Deutschlandradio)
    Tobias Armbrüster: Am Telefon ist jetzt der Publizist und Sicherheitsexperte Walther Stützle - zur Jahrtausendwende war er Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium. Schönen guten Tag, Herr Stützle!
    Walther Stützle: Guten Tag, Herr Armbrüster!
    Armbrüster: Herr Stützle, macht das Sinn, was die Türkei da gerade macht?
    Stützle: Also jedenfalls kann ich den Sinn nicht erkennen. Was ich erkenne, ist, dass alle am Konflikt und an den Konfliktherden beteiligten Parteien und Akteure im Moment sich tiefer in den Konflikt hineinziehen und offenbar nicht über politische Konzepte verfügen, wie man diesen Konfliktherd befriedigen kann.
    Armbrüster: Was wäre denn ein Konzept, mit dem man Frieden herbeiführen könnte?
    Stützle: Der türkische Staatspräsident Erdogan hat ja vor der Wahl, die er dann krachend verloren hat, vor der Parlamentswahl den verheerenden Fehler gemacht, den Friedensprozess, den Verständigungsprozess mit der PKK aufzukündigen und die PKK vom Verhandlungstisch wegzurücken in das Lager der von ihm erklärten Feinde. Das heißt, wir haben im Moment nicht nur eine Fülle labiler und instabiler Regierungssituationen im Nahen Osten - der Bogen zieht sich ja von Libyen bis zum Irak -, sondern mittlerweile gehört auch die Türkei zu den instabilen politischen Regionen, und das ist sehr, sehr furchterregend. Denn wenn die Türkei nicht zurückfindet zu stabilen innenpolitischen Verhältnissen, dann kann sie auch kein anerkannter, glaubwürdiger außenpolitischer Akteur sein. Und ohne, dass sie diesen Grad der außenpolitischen Seriosität wiedererlangt, kann es keine Befriedung geben in einer Gegend, in der im Moment so viele mit dem Gewehr unterwegs sind, aber nicht mit dem politischen Verstand.
    "Das bedeutet Krieg, schlicht und einfach Krieg"
    Armbrüster: Ist das denn tatsächlich so? Das ist ja eine Ansicht, die wir seit gestern immer wieder hören, dass Erdogan hier quasi Innenpolitik macht. Indem er die PKK angreift, indem er die Kurden quasi diskreditiert, hofft er, dass er eine bessere Ausgangslage hat für mögliche Neuwahlen im Land. Ist das tatsächlich rein innenpolitisches Kalkül, was wir hier sehen?
    Stützle: Ich bin nicht genügend Türkeiexperte und schon gar nicht Experte für türkisches Parteienwesen, um diese Frage mit hundertprozentiger Sicherheit beantworten zu können, aber Umfragen, demoskopische Untersuchungen haben vor der Wahl gezeigt, dass es zwei große Themen gab, mit denen die türkischen Wähler sehr unzufrieden waren: Das eine war das Thema Arbeitsplatzsituation in der Türkei mit zunehmender Arbeitslosigkeit, und das andere war die Unzufriedenheit mit der Außenpolitik der Türkei, insbesondere von Erdogan, insbesondere im Verhältnis zu Syrien und zum Irak. Und das ist ja nun wirklich der Brandherd, über den wir jetzt gerade sprechen - Irak, Syrien, Türkei.
    Armbrüster: Herr Stützle, jetzt wird sich morgen auf Antrag der Türkei der NATO-Rat mit dieser angespannten Lage, mit genau diesem Brandherd befassen. Was könnte da auf die NATO zukommen?
    Stützle: Zunächst halte ich es für einen guten politischen Zug, dass die türkische Regierung in den NATO-Rat geht, weil sie dort die Chance hat - vielleicht von manchen auch als Risiko erachtet und manchen Gefolgsleuten der Erdogan-Partei -, dort Ratschläge zu bekommen, die sie von der gegenwärtigen falschen Waffenpolitik wegziehen könnte. Das heißt, der NATO-Vertrag sieht ja vor, dass im Falle einer Bedrohung der Unversehrtheit des Gebietes eines Mitgliedes oder der politischen Unabhängigkeit oder der Sicherheit eines Mitgliedstaates, Konsultation erbeten werden kann, und das findet nun morgen statt. Und ich hoffe sehr, dass vor allen Dingen die Vereinigten Staaten, die natürlich der Tonangeber Nummer Eins sind, dass die Vereinigten Staaten mit einer vernünftigen Position im NATO-Rat auf die Türkei einwirken. Ich hoffe das - mein Glaube allerdings ist nicht übermäßig ausgeprägt.
    Armbrüster: Die erste Reaktion, die wir gestern aus Washington bekommen haben, war ja eher eine verständnisvolle, so nach dem Motto, auch die Türkei hat das Recht, gegen Vereinigungen vorzugehen, die sie als terroristisch ansieht.
    Stützle: Ja, das mag ja sein, aber wenn man auf die Landkarte guckt, dann sieht man, dass die in dem Bericht vor unserem Gespräch ja dargestellte Absicht, eine kontrollierte Sicherheitszone zwischen die Türkei und Syrien zu legen, dass das in Wahrheit hinauslaufen wird auf eine Besatzungspolitik gegen einen souveränen Staat, dessen politisches Regime wir nicht akzeptabel finden, das aber tatsächlich existiert und das tatsächlich noch in der Verantwortung ist, und das bedeutet Krieg, schlicht und einfach Krieg.
    Und das muss übrigens auch die Bundesregierung nachhaltig beunruhigen - die Verteidigungsministerin hat ja entsprechende Bemerkungen gemacht, denn es sind deutsche Soldaten an der Ostgrenze der Türkei stationiert im Rahmen einer NATO-Luftverteidigungshilfe, zusammen mit Amerikanern und derzeit einer spanischen Einheit, bis zu 400 deutsche Soldaten, und die Bundesrepublik hat drei nahöstliche militärische Engagements vor der Küste des Libanons, und die Bundesrepublik ist mit bis zu 100 Soldaten in der kurdischen Nordregion des Irak aktiv. Das heißt, die Bundesrepublik Deutschland unterstützt im Moment mit einer Ausbildungshilfe eine Gruppierung, gegen die der türkische Staat jetzt bewaffnet und mit Luftangriffen vorgehen will. Das muss ja zu außenpolitischer Unruhe erster Ordnung führen und ich bin sicher, dass die Bundesregierung morgen - ich hoffe das -, ich bin auch sicher, dass die Bundesregierung morgen im NATO-Rat entsprechende Einwirkung versuchen wird.
    "Eskalation, die dann irgendwann niemand mehr in den Griff bekommt"
    Armbrüster: Herr Stützle, ich wollte genau auf diesen Umstand noch zu sprechen kommen. Das heißt, Sie würden das auch so betrachten? Hier beharken sich gerade tatsächlich zwei NATO-Partner gegenseitig.
    Stützle: Ja, genau so ist es. Genau so ist es, und das ist natürlich ein völlig unmögliche Situation, die muss sehr, sehr schnell beendet werden, denn wenn sie nicht beendet wird, dann wird sie aus sich heraus eine Dynamik entwickeln - und Dynamik heißt in diesem Fall Eskalation, die dann irgendwann niemand mehr in den Griff bekommt. Wir erleben ja gerade in der Gegend, über die wir reden, den Verfall staatlicher Ordnungen, übrigens ganz wesentlich verursacht durch den verheerenden Irakkrieg, den Bush Junior ausgelöst hat 2003. Und wir erleben, dass auch westliche Regierungen, auch NATO-Regierungen, bisher konzeptlos vor dieser Aufgabe stehen.
    Armbrüster: Herr Stützle, ganz zum Schluss würde ich gerne noch auf einen Punkt, noch mal auf die NATO-Konsultation morgen zu sprechen kommen. Könnte es denn sein, dass jetzt auch der Bündnisfall näher rückt?
    Stützle: Nein, das halte ich nicht für sehr wahrscheinlich. Ich vermute mal, dass bei der Konsultation morgen dieser Punkt angesprochen wird, sicherlich in einer diplomatisch feingewählten Sprache, deren Bestandteil wahrscheinlich sein wird, vermeidet eine Situation, wo der Bündnisfall zustande kommen kann.
    Armbrüster: Aber theoretisch wäre es schon möglich, denn die Türkei fühlt sich ja hier tatsächlich gerade angegriffen auf ihrem Territorium.
    Stützle: Da die Türkei selber Angreifer ist, wird sie es schwer haben, beweisen zu können, dass sie militärisch angegriffen wird, aber nach dem, was wir alles 2003 im Irakkrieg erlebt haben, Herr Armbrüster, ist es ganz schwierig, auch die von Ihnen genannte theoretische Möglichkeit auszuschließen.
    Armbrüster: Sagt hier bei uns im Deutschlandfunk der Sicherheitsexperte und ehemalige Verteidigungsstaatssekretär* Walther Stützle. Vielen Dank, Herr Stützle, für Ihre Zeit an diesem Montagmittag!
    Stützle: Danke Ihnen, Herr Armbrüster!
    *Der Moderator spricht an dieser Stelle von "Verteidigungsminister". Richtig ist allerdings "Verteidigungsstaatssekretär" (Anm. d. Red.)
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.