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Angst der Moderne

"Modern sind alte Möbel und junge Nervositäten", schreibt Hugo von Hofmannsthal 1893 über das neue "Modewort" dieser Jahre. Diese saloppe Charakterisierung einer überaus heterogenen Epoche, der "Moderne", könnte auch eine Kurzbeschreibung für Helmuth Kiesels umfangreiche Geschichte der literarischen Moderne sein. Der "Prozess der Moderne", wie Kiesel ihn beschreibt, kann sich auf Baudelaires Prosagedichte über die Flüchtigkeit des modernen Lebens in der Großstadt, aber auch auf den "Naturalismus" des 19. Jhds mit seiner wissenschaftlichen Ausrichtung berufen.

Von Andrea Gnam | 02.06.2004
    Für den modernen Dichter ist schon lange nicht mehr eine idealisierte Antike das Maß der Dinge, sondern das Erkunden der Triebkräfte der unmittelbaren Umgebung und des problematisch gewordenen Seelenlebens. Neue Formen lösen sich in rascher Folge ab, Aufbruchsstimmung und Weltuntergangsgefühle gehen Hand in Hand. Kiesels Darstellung dieser an Umbrüchen in Wahrnehmung und Lebenswelt so reichen Zeit beginnt zunächst mit einer Auflistung von Gruppierungen, Zeitschriften und Namen, die alle für sich in Anspruch nehmen, den Geist der Moderne zu atmen.
    Schon bald zeigt sich, dass hier der Begriff der Moderne weit, ja sehr weit ausgedehnt werden muss, und so zunehmend an Konturschärfe verliert. Das führt schließlich sogar dazu, dass auch pointiert antimodernistische Positionen wie die Schriften von Ina Seidel oder Hermann Löns als Kinder ihrer Zeit noch zur Moderne gehören. Kiesel plädiert entschieden dafür, auch den Rückgriff auf den Katholizismus, selbst wenn er mit den Anschauungen der Moderne "kollidiert", nicht aus der modernen Literatur auszuschließen.
    Dies würde für ihn bedeuten, die literarische Moderne unter die "engste weltanschauliche Zensur" zu stellen: "Was dann übrigbliebe, könnte allerdings so wenig sein, daß die literarische Moderne neben der literarischen Nicht- Moderne erschreckend verblassen würde", schreibt Kiesel und räumt katholischen Positionen Raum ein. So wird der Weg des dadaistischen Dichters Hugo Ball, der in späteren Jahren statt Lautgedichten Heiligenviten schrieb, ausgiebig besprochen. Döblin erhält mit seinem Montageroman Berlin Alexanderplatz zu Recht eine ausführliche Würdigung, besonders eingehend wird dargelegt, weshalb "die Geschichte vom Franz Biberkopf" als Heilsgeschichte zu lesen sei.
    Musils epochalen Roman Der Mann ohne Eigenschaften, der sich mit ekstatischen Erfahrungen jenseits religiöser Einbindung beschäftigt, und der erkunden will, ob der "heilige Weg" der Mystiker auch mit dem "Kraftwagen zu befahren" sei, übergeht Kiesel allerdings. Musils Werk wird beiläufig mit verstreuten Randbemerkungen und marginalen Zitaten abgetan. Neben Alfred Döblin werden Gottfried Benn in seiner Eigenschaft als Lyriker und Bert Brecht als Theatermann zu exemplarischen Vertretern ihrer Sparte in der "reflektierten Moderne" ernannt.
    Die "reflektierte Moderne" habe neben literarischen auch theoretische Schriften hervorgebracht und damit, so der Autor, "höherstufige Formen" poetischen Ausdrucks erreicht als die Avantgarden. Kiesels Buch ist von dezidierten Vorlieben und Abneigungen bestimmt: differenzierte Theoriebildung aus der zweiten Hälfte des 20. Jhd. zur Problematik der Moderne wird ignoriert oder mit unvermittelten Ausfällen bedacht. So wirft der Autor ungenannt bleibenden postmodernen Denkern vor, ihre Theoriearbeit entspräche einer "bekannten Angstreaktion".
    Ähnlich dürftig gerät die Auseinandersetzung mit dem innovativen Werk von Frauen. In altväterlichem Ton referiert Kiesel mit spürbarer Abneigung Positionen der Frauenforschung und abgesehen von Marieluise Fleißer scheint sich die eigene Beschäftigung mit den Texten für den Chronisten der Moderne zu erübrigen: "Sicher ist der Blick von Lesern, Kritikern und Literaturwissenschaftlern, die ihr Literaturverständnis am männlich dominierten Kanon der europäischen Literaturgeschichte entwickelten, nicht hinreichend fähig und bereit, Innovationen und Normbrüche in Werken von Frauen wahrznehmen und anzuerkennen. Aber die Frauen-Literatur-Forschung war im Nachweis solcher Leistungen bisher nicht eben sehr erfolgreich und überzeugend", schreibt Kiesel.
    Von wenig Problembewußtsein zeugt auch, dass Otto Weininger nur Erwähnung in seiner Eigenschaft als Jude findet, nicht aber mit seiner misogynen und einflussreichen Schrift Geschlecht und Charakter genannt wird. Zwar bemerkt Kiesel, dass ein ungebundenes und keiner Konvention verpflichtetes Leben Voraussetzung für den Typus des modernen Dichters sei und beruft sich auf Rilke, der die Bildhauerin und Mutter seines Kindes Clara Westhoff verlässt um sich ganz der Dichtkunst zu widmen.
    Inwiefern aber solche Lebensentwürfe Auswirkung auf die Produktionsbedingungen von Frauen in Kunst und Literatur haben, findet keine Beachtung. Kiesels "Geschichte der literarischen Moderne" ist entschieden konservativ. Wären, statt "alter Möbel" und "junger Nervositäten" in Kiesels Buch wie Hoffmansthal in seiner Aufzählung moderner Praktiken fortfährt, mehr "das Zerschneiden von Atomen und das Ballspielen mit dem All" Gegenstand der Analyse gewesen, hätte der Leser nicht den -korrekturbedürftigen - Eindruck, es bei der Moderne und der Literaturwissenschaft mit einer doch recht freudlosen und langweiligen Angelegenheit zu tun zu haben.

    Helmuth Kiesel
    Geschichte der literarischen Moderne. Sprache,
    Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert

    C.H. Beck, 640 S., EUR 34. 90