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Angst und Hoffnung

Allan Stratton, Lutz van Dijk und Deborah Ellis haben wunderbare, zu Tränen rührende Romane geschrieben. Sie handeln von Tod und Ängsten. Junge Leser werden ernst genommen.

Von Simone Hamm | 18.11.2006
    Die Kinder schweigen. Chanda Kabelo, die so gern Lehrerin werden wollte oder Ärztin. Erst verschwindet der Vater in den Minen. Dann stirbt die Mutter. Chanda kümmert sich um ihre jüngeren Geschwister. Themba schweigt, der Junge, der so großartig Fußball spielen kann. Auch seine Mutter ist dahingesiecht. Binti schweigt, Binti, die von allen nur Radiomädchen genannt wird, weil sie in einer Hörspielreihe mitmachen darf.

    Drei Romane, die im südlichen Afrika spielen, befassen sich mit dem Thema Aids. Sie räumen gründlich auf mit dem Mythos vom edlen, wilden Afrika, wo man sorglos lacht und tanzt und die Familienmitglieder einander unterstützen, wenn jemand in Not geraten ist. Denn über Aids spricht man nicht. Die Mütter sind an Lungenentzündung oder Tuberkulose gestorben, und die Nachbarssöhne hatten einen Jagdunfall. Wer Aids hatte, dessen Familie wird ausgegrenzt, dessen Kinder werden verstoßen.

    Aber nicht nur um Aids geht es in den drei Büchern, sondern um Angst, Stigma, Unwissenheit. Allan Stratton weiß genau warum sein Roman auch deutsche Jugendliche ansprechen wird:

    "Das Buch behandelt natürlich die Aids-Pandemie im südlichen Subsahara Afrika. Aber Aids ist eine Metapher für alles, was wir fürchten in unserem Leben, alles, von dem wir glauben, es mache uns einsam und von allen verlassen. Wenn Menschen unsere tiefsten Geheimnisse wissen, werden sie uns dann noch lieben?"

    Höchste Zeit für Stratton, über Aids zu sprechen und zu schreiben. Der deutsche Titel seines Romane heißt dann auch: "Worüber keiner spricht". Er will Aids ein Gesicht geben. Aids ist mehr als eine Statistik. Seine Hauptfigur Chanda ist ein starkes Mädchen. Ihre Mutter ist todkrank. Lange wagt es Chanda nicht, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Aber als ihre kleine Schwester stirbt, bricht sie ihr Schweigen.

    "Ich glaube, Chanda ist die Person, die wir alle gern wären. Sie ist eine, die zweifelt, eine, die Ängste hat, aber am Ende hat sie den Mut, ihren Ängsten ins Auge zu sehen und ehrlich, offen und mutig zu leben."

    Chandas Mutter ist lange nicht soweit. Sie zieht sich zurück in die Berge, will lieber allein und verlassen leben als die Wahrheit zu ertragen.

    "Ihre Liebe zu ihren Kindern ist so groß, dass sie lieber fortgehen will, als dass sie es zuließe, dass ihre Kinder sich ihretwegen schämen oder von den Nachbarn geschnitten werden. Und aus Liebe zu ihrer Mutter holt Shanda ihre Mutter nach Hause, damit sie in Würde und Liebe sterben kann, umgeben von ihrer Familie."

    Binti ist "Das Radiomädchen". Die 13-Jährige geht auf eine gute Schule und darf als Sprecherin in einer Radioserie mitarbeiten. Ganz Malawi kennt ihre Stimme und hört ihr zu. Auch Deborah Ellis hat eine Geschichte vom Totschweigen geschrieben. Doch bei der Beerdigung von Bintis Vater spricht dessen alte Mutter zu den Trauernden:

    "Früher, als es noch Löwen gab, da haben wir nicht geschwiegen, wenn ein Löwe in unser Dorf kam und unsere Kinder verschleppte. Wenn wir geschwiegen hätten, wären alle unsere Kinder gefressen worden. Wir mussten Lärm machen. Wir mussten auf die Töpfe schlagen und lauthals schreien: 'Ein Löwe ist im Dorf!'
    Nur so konnten wir den Löwen vertreiben und unsere Kinder retten.
    Jetzt ist wieder ein Löwe im Dorf. Er heißt AIDS. Er verschleppt unsere Kinder. Deshalb will ich Euch allen sagen, dass mein Sohn an AIDS gestorben ist und dass ich ihn liebte."


    Ihren Enkeln tut sie damit keinen Gefallen. Die gierigen Verwandten stürzen sich auf das bisschen Hab und Gut, reißen die Kinder auseinander und bringen sie in verschiedenen Familien unter. Dort müssen sie hart arbeiten. Weil die anderen Angst haben, dass auch die Kinder mit Aids infiziert sein könnten, dürfen die Kinder nicht vom Familiengeschirr essen und müssen sich auch sonst abseits halten.

    Ihre große Schwester kann die Demütigungen nicht länger aushalten. Heimlich bringt sie Binti zu der Großmutter und geht fort, um Geld zu verdienen, damit die Kinder einmal ein besseres Leben führen. Geld verdient ein Mädchen am schnellsten, wenn es nett zu Männern ist, und noch mehr verdient es, wenn es ohne Kondom nett zu Männern ist.

    Die Großmutter hat die ärmsten der armen Kinder um sich gescharrt, gibt ihnen einen Platz zum Schlafen und etwas zu essen. Binti und ihr Bruder werden in dem kleinen Dorf bleiben, zwei Tage pro Woche zur Schule gehen. Weil so viele junge Lehrer an Aids gestorben sind, ziehen die verbleibenden von Dorf zu Dorf. Viel Bildung ist da nicht zu erwarten. Aber die Kinder haben Solidarität kennen gelernt, sind nicht ausgegrenzt worden und werden nicht ausgegrenzt. Sie sind viel zu früh erwachsen geworden, haben eine kleine Sargschreinerei eröffnet. Der Bedarf an Särgen ist groß. Mit ihrem anrührenden, einfühlsamen Roman will Deborah Ellis zeigen, dass es so etwas wie "Kinder andere Leute" nicht gibt, nicht in Afrika und nicht hier. Wir sind alle füreinander verantwortlich.

    Themba ist ein begnadeter Fußballspieler. Er spielt für die südafrikanische Nationalmannschaft. Jahre zuvor wurde ein Fußballmanager aus Kapstadt auf ihn aufmerksam. Doch Themba hatte noch nicht einmal Fußballschuhe. Er steckt die Karte des Managers ein, nicht ahnend, wie nützlich sie ihm einmal sein wird. Feinfühlig und eindringlich zugleich schildert Lutz van Dijk Thembas Werdegang.

    Themba ist HIV positiv. Einst hatte der Lebensgefährte seiner Mutter ihn vergewaltigt und dabei infiziert. Sie lebt in einem Slum bei Kapstadt. Die Nachbarn sind abweisend; denn bei der Mutter ist Aids ausgebrochen. Die Kinder sind verzweifelt. Thembas Vater ist schon lange verschollen. Da erinnert sich Themba an die Visitenkarte des Managers. Vielleicht kann er für ihn Gartenarbeiten erledigen, irgendetwas tun, um an Geld zu kommen. Er wird nicht im Garten arbeiten, stattdessen beginnt seine schwindelerregende Karriere als Fußballer. Als er zum ersten Mal als Einwechselspieler in der Nationalmannschaft spielt, schießt er das entscheidende Tor gegen Algerien. Anschließend gibt es eine Pressekonferenz vor laufender Kamera. Themba wird nach seinem Leben gefragt:

    "'Ich spiele gern Fußball, noch genauso gern wie damals auf den grünen Hügeln von Qunu. (…) Ich bin noch jung, und ich weiß nicht, ob ich es schaffe, an der Spitze im Fußball zu bleiben, aber ich möchte zumindest sagen, dass ich seit ein paar Tagen weiß, dass ich HIV positiv bin.'

    Für mindestens fünf Sekunden herrscht Totenstille im Saal, dann bricht ein unglaublicher Tumult los. Einige Reporter klatschen Beifall, andere pfeifen aus Protest."


    Lutz van Dijks bewegender Roman besagt, dass eine HIV-Infizierung nicht das Ende bedeutet. Er erzählt von Themba, der sich und seine Familie nie aufgab, der nie aufhörte zu kämpfen. Und der am Ende belohnt wurde.

    Allan Stratton, Lutz van Dijk und Deborah Ellis haben wunderbare, zu Tränen rührende Romane geschrieben. Romane, die
    nicht leicht daher kommen, die von Tod und Ängsten handeln, die aber in ihrer Ernsthaftigkeit tief berühren und die man so schnell nicht vergessen wird. Hier werden junge Leser ernst genommen. Immer wieder zeigen Ellis, Stratton und van Dijk auch Hoffnungsschimmer: die Freude der Kinder beim Spielen, beim Tore-Schießen, beim Plausch unterm Baobabbaum. So hat es Allan Stratton im südlichen Afrika erlebt:

    "Das Kinderlachen und Spielen geht weiter, auch wenn die Kinder gerade ihre Eltern verloren haben oder dabei sind, sie zu verlieren. Sie sind mutig und sie haben diese zutiefst humane Idee, dass das Leben weitergeht, solange wir leben. Das habe ich in all den verschiedenen Ländern gespürt. Träume dauern ein Leben lang. Wo Liebe ist, ist Leben. Und wo Leben ist, ist Hoffnung."

    Allan Stratton: Worüber keiner spricht. Aus dem Englisch von Heike Brandt
    Dtv, 272 Seiten

    Lutz van Dijk: Themba
    Cbj, 223 Seiten

    Deborah Ellis: Das Radiomädchen. Aus dem Englischen von Brigitte Rapp
    Jungbrunnen, 156 Seiten.