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Angst vor dem Fiscal Cliff in den amerikanischen Kommunen

Viele Regionen und Städte in den USA leiden immer noch unter den Folgen der Finanz- und Schuldenkrise. Ein Beispiel dafür ist die Stadt Stockton, die Insolvenz anmelden musste. Das droht auch anderen, wenn das Fiscal Cliff - also die automatische Steuererhöhung und Ausgabenkürzung - kommt.

Von Anne Allmeling und Anne Raith | 22.12.2012
    Es dämmert. Diana Foster und ihre Freundin sind auf dem Weg nach Hause. Nach Einbruch der Dunkelheit möchten die beiden Frauen nicht mehr unterwegs sein. Für alle Fälle haben sie immer eine kleine Dose Pfefferspray dabei.

    "Es wird immer schlimmer. Ich habe das Gefühl, dass es für meinen Sohn in Afghanistan sicherer ist, als in seiner Heimatstadt. Denn hier werden die Leute ohne Grund ausgeraubt und umgebracht."

    Selbst hier in dem kleinen Park, mitten in einem wohlhabenden Wohnviertel, ist vor Kurzem ein Rentner erschossen worden. Stockton gehört inzwischen zu den zehn gefährlichsten Städten der USA. Die Mordrate ist so hoch wie nie.

    Officer Joseph Silva ist seit dem frühen Morgen im Dienst. In seinem kleinen Büro stapelt sich die Arbeit. Der 39-jährige Polizist weiß, dass viele Fälle noch ungelöst sind. Dass die Angst in Stockton wächst. Dass mehr Polizisten auf den Straßen helfen würden. Doch Joseph Silva weiß auch, dass das nicht geht. Die Stadt ist pleite. Mehr Sicherheit kann sie sich einfach nicht leisten:

    "Seit wir sparen müssen, haben viele Polizisten gekündigt, weil die Gehälter gekürzt wurden – um bis zu 30 Prozent innerhalb von anderthalb Jahren! Das ist wirklich eine Menge. Viele haben das finanziell nicht verkraftet. Sie mussten sich woanders einen Job suchen, um ihre Familien ernähren zu können."

    Zu wenige Polizisten und mangelnde Sicherheit – das sind die drängendsten Probleme der Stadt. Aber es sind nur zwei von vielen. In Stockton zeigt sich das ganze Ausmaß der Finanz- und Schuldenkrise. Firmeninsolvenzen, steigende Arbeitslosigkeit, wachsende Armut und Zwangsversteigerungen gab es in vielen amerikanischen Städten. Doch kaum eine Stadt hat es so hart getroffen, wie das einst boomende Stockton.

    "Wir sind in den letzten vier Jahren durch die Hölle gegangen. Das war das Gegenteil dessen, was man sich für seine Stadt wünscht."

    Bürgermeisterin Ann Johnston wirkt, als könne sie sich immer noch nicht recht erklären, was eigentlich passiert ist. Sie ist schon lange in der Politik, hat im Stadtrat die Aufbruchsstimmung in Stockton miterlebt. Als um die Jahrtausendwende Tausende neue Einfamilienhäuser gebaut, neue Geschäfte eröffnet wurden. Als die Steuereinnahmen sprudelten und die Gehälter der städtischen Angestellten Jahr für Jahr stiegen.

    "Als das Geld noch geflossen ist, hat die Stadt entschieden, prestigereiche Bauprojekte anzugehen: eine große Arena, ein Stadion, Gemeindezentren. Lauter Sachen, die die Stadt attraktiver machen sollten."

    Vom Balkon seines Büros blickt Fernsehreporter Tim Daly auf eben jene prestigereichen Bauprojekte:

    "Dort drüben, am anderen Ufer, sieht man diese schöne Arena, das Baseballstadion, den Yachthafen – alles leer. Das kostet uns Hunderte Millionen von Dollar. Und die Wirtschaft ist genau zu dem Zeitpunkt zusammengebrochen, als wir angefangen haben, das alles zu bauen und zu kaufen."

    Was das Aushängeschild der 300.000-Einwohnerstadt sein sollte, ist heute das Symbol einer Stadt, die, statt Rücklagen zu bilden, über ihre Verhältnisse gelebt hat. Die, als der Niedergang bereits unaufhaltbar war, noch auf grenzenloses Wachstum gesetzt hat:

    "Offenbar hat niemand gesagt: Augenblick mal, das kann doch nicht immer so weiter gehen. Aber genau das haben die Leute damals gedacht."

    Als Ann Johnston Anfang 2009 Bürgermeisterin wird, sind die Anzeichen der Krise schon nicht mehr zu übersehen. Die Immobilienblase war bereits geplatzt. In keiner anderen Stadt kommt es in den Monaten danach zu so vielen Zwangsversteigerungen. Schließlich trifft die Finanzkrise die Stadt mit voller Wucht:

    "Wir wissen, wie es ist, wenn die Wirtschaft schwächelt. Aber wenn man mal ein paar Dinge hinauszögert hat, war das nach ein, zwei Jahren überstanden. Aber dieses Mal war klar: Es wird nicht besser. Also mussten wir ein paar wirklich harte Entscheidungen treffen."

    In den folgenden Monaten kürzt die Stadt, wo sie nur kann. Entlässt Feuerwehrleute, Polizisten und Stadtangestellte. Kürzt denen, die bleiben, das Gehalt, die Beihilfen zur Gesundheitsversorgung und die Rentenansprüche. Und: Bekommt am Ende die Finanzen trotzdem nicht in den Griff. Schließlich trifft Bürgermeisterin Ann Johnston eine abschließende Entscheidung: Seit diesem Sommer ist Stockton mit seinen 300.000 Einwohnern die größte amerikanische Stadt, die Insolvenz beantragt hat – jetzt muss ein Gericht entscheiden, ob die Stadt tatsächlich bankrott ist.

    "Für mich ist das der erste Schritt auf dem Weg zur Besserung. Ein erster Schritt, um unsere Finanzen in den Griff zu bekommen."

    Dieser Schritt hat Ann Johnston das Amt gekostet. Die 70-Jährige wird nicht mehr lange die Zukunft der Stadt mitbestimmen. Im November ist sie abgewählt worden. Ihr Gegenkandidat war Anthony Silva. 38 Jahre alt, alleinerziehender Vater, Vorsitzender eines Jugendclubs. Er ist in Stockton aufgewachsen. Er glaubt an das Potential der Stadt.

    "In den nächsten Jahren ist Stockton hoffentlich wieder ein guter Ort für Familien, wo es eine Menge Möglichkeiten und genug Arbeit für junge Leute gibt. Und damit auch weniger Bandenkriminalität. Wir hoffen und beten, dass es weniger Schießereien und Gewalt gibt."

    Die Stadt wieder sicherer machen – mit diesem Thema hat Anthony Silva Wahlkampf gemacht. Daran wird er sich messen lassen müssen. Als Bürgermeister will er wieder mehr Polizisten einstellen – und dafür auch selbst in Vorleistung treten. Erst einmal will der 38-Jährige auf sein Gehalt verzichten. Doch auch von den Bürgern fordert er Verzicht und will in der bankrotten Stadt die Steuern erhöhen.

    "Die Leute sind bereit, für ihren Schutz zu zahlen. Sie sind bereit, alles dafür zu tun, damit die Stadt wieder sicherer wird und wir uns nicht mehr schämen müssen zu sagen: Wir kommen aus Stockton. Wir wollen, dass Stockton wieder auf die Füße kommt und dass es wieder eine großartige amerikanische Stadt wird."

    Es wird sich noch zeigen, wie bereit die Leute tatsächlich sind, für ihre Sicherheit zu bezahlen. Bis dahin setzt Officer Joseph Silva bei seiner Ermittlungsarbeit auf die Mithilfe der Bevölkerung – via Facebook. Dass sich in Stockton tatsächlich etwas ändern könnte, sieht er eher in ferner Zukunft:

    "Ich hoffe, dass wir in fünf Jahren die finanzielle Misere der Vergangenheit langsam hinter uns gelassen haben, sodass wir in zehn Jahren vielleicht wirklich mehr Jobs und mehr Polizisten auf den Straßen haben."