Mittwoch, 24. April 2024

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Angst vor dem Schulanfang
"Kinder erzählen lassen"

Neben Kindern mit Vorfreude auf die Schule gibt es auch Kinder, denen der Schulstart Sorgen bereitet. Das rühre auch von einer Angst vor dem Unbekannten, sagte die Entwicklungspsychologin Maria von Salisch im Dlf. Eine positiv und sicher erlebte Beziehung zwischen Eltern und Kindern sei der beste Schutz davor.

Maria von Salisch im Gespräch mit Markus Dichmann | 01.08.2017
    Beschreibung:Eine Erstklässlerin trägt am 29.08.2015 nach ihrer Einschulungsfeier nahe Potsdam (Brandenburg) eine Zuckertüte nach Hause.
    Dem Kind zuhören und von den eigenen Erfahrungen aus der Schulzeit berichten, empfiehlt Entwicklungspsychologin Maria von Salisch. (dpa / picture-alliance / Ralf Hirschberger)
    Markus Dichmann: Heute Nacht werden einige Schüler in Deutschland wahrscheinlich ziemlich schlecht schlafen, denn morgen ist schon der letzte Ferientag, zumindest in Bremen und Niedersachsen. Ende der Woche ist dann auch in Sachsen Schluss mit Ferien, und zum Beispiel Hessen, Thüringen und auch Sachsen-Anhalt folgen auf dem Fuße.
    Schüler-Stimmen:
    Freut ihr euch auf die Schule, wollte ich wissen?
    Nein.
    Gehst du gar nicht gern zur Schule?
    Nö. Ich geh gar nicht gern.
    Warum nicht?
    Schule ist scheiß-langweilig. Die Lehrer. Und der Unterricht.
    Und gibt es denn irgendwas, was nicht ganz so scheiße ist?
    Na – die Pausen.
    Freust du dich?
    Ja, ich freue mich, weil ich meine Freunde wiedersehe und ich in den Pausen dann mit denen Fußball spielen kann.
    Da gibt es ja auch noch so ein paar Stunden zwischen den Pausen. Wie sind die denn?
    Manchmal ist das gut, manchmal nicht so gut.
    Also Schule, Freund treffen ist relativ in Ordnung.
    Ja, und dann auch gute Noten wieder zu bekommen, also wenn man denn halt lernt.
    Aber sonst halt auch – was nicht so toll ist, ist, dass man sehr früh aufstehen muss und auch sehr viel Stress mit Lehrern hat, wenn man andere Sachen macht, die nicht so ganz erlaubt sind.
    Langsam hat man irgendwann keiner Lust mehr auf Schule. Ist alles so anstrengend.
    Ja, man muss immer wieder so viel lernen dann, und dann hat man einfach keine Lust. Man hat lieber Ferien.
    Mathematik, wenn man da gut drin ist. Aber das mögen die meisten so oder so nicht.
    Aber ich freue mich so darauf, auf Mathe.
    Bist du bescheuert?
    Was würdet Ihr denn lieber machen als Schule?
    Chillen, in der Freizeit mit Freunden.
    Almut Knigge war das mit Stimmen von Bremer Schülern, und die Vorfreude hält sich in Grenzen, muss man feststellen. Irgendwo zum Schmunzeln, wenn man auch an die eigene Schulzeit zurückdenkt, aber irgendwo natürlich auch problematisch. Wenn die Schule mit so vielen negativen Assoziationen verbunden ist. Näher beschäftigt sich mit der Sache die Entwicklungspsychologin Maria von Salisch, jetzt bei uns zu Gast in "Campus & Karriere". Hallo, Frau von Salisch!
    Maria von Salisch: Hallo!
    Dichmann: Fangen wir doch mal mit den Kindern an, die das allererste Mal eine Schule besuchen werden, sprich denen vor der Einschulung. Da platzen manche vor Vorfreude, klar, oft überwiegt dann aber doch so was wie Angst. Was beschäftigt die Kinder in so einem Moment?
    von Salisch: Da kommt ja eine ganze Menge auf sie zu. Das ist ein Übergang, der Anforderungen enthält, und diese Anforderungen sind ja noch unbekannt. Und alles, was unbekannt ist, da hat man ja oft die größeren Sorgen, dass man da nicht bestehen kann.
    Dichmann: Also ist es ein bisschen die Angst vor dem Unbekannten.
    von Salisch: Angst vor dem Unbekannten auf jeden Fall. Angst vor dem Ernst des Lebens, so sagen ja die Großen. Was erwarten meine Eltern, finde ich in der neuen Klasse Anschluss? Finde ich mich zurecht? Dieser neue Schulweg ist so lang, und die Schule ist so fremd. Verlaufe ich mich da? Was muss man in der Schule tun, was ist, wenn die anderen mit der Schere schneiden, und ich kann das nicht so gut? Blamier ich mich da? Also da sind ja eine ganze Menge Fragen, die Kindern im Kopf herumgehen, eigentlich, weil sie nicht genau wissen, was sie erwartet.
    Dichmann: Auf der anderen Seite gibt es aber natürlich auch die, die eine große Vorfreude haben, die Schule das erste Mal zu besuchen.
    von Salisch: Natürlich. Die wissen natürlich, sie wollen groß sein, sie wollen richtige Schulkinder werden. Da geht ja so ein richtiger Ruck auch durch Kinder, dass sie dann auch so ein Stück größer werden und auch mehr Verantwortung für sich tragen, für ihre eigene Selbstorganisation. Man denke nur an diese ganzen Schulranzen, die zu packen sind jeden Morgen, und das richtige Buch und das richtige Heft, das einzupacken sind, und die Turnsachen, die nicht zu vergessen sind. Sich zu konzentrieren, Lesen und Schreiben zu lernen, da sind die meisten sehr begierig drauf, weil sie wissen, wie wichtig das ist, wenn sie Schokoladenmilch buchstabieren können. Dann kriegen sie bestimmt auch das richtige Produkt, wenn sie denn danach suchen.
    "Es gibt 29 Prozent Risikokinder"
    Dichmann: Jetzt denke ich allerdings mal, dass man sich um die, die Vorfreude auf die Schule haben, keine Sorgen machen muss. Aber bei denen, die Ängste haben, wie kann man diesen Ängsten denn als Eltern oder auch als Lehrer am besten begegnen?
    von Salisch: Lassen Sie mich gleich noch mal ein paar Zahlen nachschieben. Es gibt so 15 Prozent, die nennt man Übergangsgewinnler, also die eigentlich gar nicht warten können und eigentlich am liebsten den Schreibstift schon vor der Schule in die Hand nehmen würden.
    Dichmann: 15 Prozent?
    von Salisch: 15 Prozent. 42 Prozent gering Belastete, also die sich nur so ein bisschen Sorgen machen, wie wird das alles, und schaffe ich das? Und dann gibt es 14 Prozent, die übergangsgestresst sind, die also während der Zeit der ersten Schultage, des ersten Schulmonats, vielleicht auch der ersten drei Schulmonate ein bisschen Aufmerksamkeit brauchen oder ein bisschen mehr Aufmerksamkeit brauchen, weil das ganze System sich eben ändert – wir kommen da gleich drauf. Und es gibt 29 Prozent Risikokinder, so nennt man die, die vorher und nachher hohe Belastungssymptome zeigen wie Bauchschmerzen unbekannten Ursprungs oder Nicht-Einschlafen-Können, wann nach Hause kommen und so weiter?
    Dichmann: Wie begegnet man denen?
    von Salisch: Wie an viele Dinge, die bisher noch unbekannt sind, langsam heranführen, hinbringen und abholen vielleicht zum Beispiel, dass man selbst auch die Schule kennenlernt. Sich vom Kind zeigen lassen, es bestätigen, ja, das machst du schon ganz richtig. Kinder erzählen lassen. So ein Schulweg bietet wunderbare Gelegenheit, dass das Kind ganz frisch erzählen kann, was in der Schule passiert ist. Und eben dann dabei Erwartungen und Befürchtungen zur Sprache kommen, auch die mit dem Kind zu besprechen. Vielleicht eigene Erlebnisse aus der eigenen Schulzeit beisteuern. Eine positiv und sicher erlebte Beziehung zwischen Eltern und Kindern ist der beste Schutz gegen solche Anpassungsprobleme am Anfang.
    "Neue Fächer, neue Lehrer, neuer Stundenplan"
    Dichmann: Irgendwann wird Schule dann aber ja auch Routine, auch der Wechsel von Schule zu Ferien und andersherum wird antrainiert, und trotzdem bleibt dieses Ferienende, haben wir ja vorhin auch von den älteren Schülern gehört, immer irgendwie aufregend. Warum?
    von Salisch: Neue Fächer, neue Lehrer, neuer Stundenplan. Auf jeden Fall früh aufstehen, haben die Schüler ja auch gesagt, Leistungsziele erreichen – Schüler stehen wieder unter Druck. Und auch, was die Sozialbeziehungen angeht: Sind meine Freunde immer noch meine Freunde? Die sind ja sechs Wochen doch etwas weg gewesen. Sind sie immer noch so nett wie vor sechs Wochen? Was haben meine Mitschüler in den Ferien erlebt. Aber lassen Sie mich noch ein Wort zur Schule sagen. Die Schule kann sich ja auch ein wenig an die Bedürfnisse der jungen Menschen anpassen, gerade, was die Erstklässler angeht, ist es ja für Lehrkräfte wichtig, dass sie ihre Schule so gestalten, dass nicht nur die Kinder sich an die Schule gewöhnen müssen und anpassen, sondern auch die Schule sich an die Bewegungsbedürfnisse beispielsweise der jungen Schülerinnen und Schüler anpasst, also Angebote spielerischen oder erlebnisbezogenen Lernens. Rhythmisierung, Arbeits- und Entspannungsphasen und viel Bewegung sind Wünsche, die viele Erstklässler haben, die aber von der Schule oft nicht erfüllt werden. Ich glaube, an dieser Stelle kann auch die Schule noch ein bisschen besser werden, sodass sie den Wünschen, aber auch den Bedürfnissen der jungen Menschen etwas mehr entgegenkommt. Denn nur, wenn beides passt, lernen die Kinder optimal. Und das ist ja eigentlich der Sinn und Zweck von Schule.
    Dichmann: Und vielleicht auch diese sehr eindeutigen Zahlen, die Sie vorhin genannt haben, in die andere Richtung mal ausschlagen zu lassen.
    von Salisch: Genau. Und auch besonders die Kinder dabei zu unterstützen, die von zu Hause her es nicht so leicht haben, den Übergang in die Schule zu schaffen, weil ihre Eltern vielleicht eine deutsche Schule noch nie von innen gesehen haben und gar nicht wissen, was in einer deutschen Schule von Kindern erwartet wird.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.