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Angst vor dem Verlust

In Maria Milisavljevic Theaterstück "Brandung" suchen drei junge Leute mit kroatischen Wurzeln nach ihrer verschwundenen Freundin. Das Stück erinnert mitunter an mysteriöse Psychothriller aus dem Kino und thematisiert zudem die lockeren Wurzeln der Hauptfiguren.

Von Stefan Keim | 06.06.2013
    Eine Studentin verschwindet. Karla, 24 Jahre alt, will noch schnell abends zum Supermarkt und kommt nicht zurück. Ihr Lebensgefährte und zwei Freundinnen suchen nach ihr. Die Polizei nimmt die Sache nicht ernst, junge Frauen machen so was manchmal. Es gibt keine Hinweise auf ein Verbrechen, es gibt überhaupt keine Spuren. Die drei jungen Leute organisieren Suchtruppen übers Internet, ohne Erfolg. Eine der beiden Frauen verliebt sich in Jo, den hilfreichen Onlinefachmann. Das Stück beginnt wie ein Krimi und verwandelt sich in eine Liebesgeschichte.

    "Gestern, vorgestern, seit sieben Tagen. – Es klingelt an der Tür, das ist Jo. Vlados Blick, Himmel, was das jetzt? – Wird das jetzt ernst? The two of you? – Himmel, dieser Blick, ich zucke zusammen. – Ich hab was gefragt."

    Warum reagiert Vlado, der Freund der Verschwundenen, so eifersüchtig? Das ist eine von vielen Fragen, die Maria Milisavljevics Text aufwirft. Virtuos spielt die Autorin mit den Sprechhaltungen. Erzähltext, Gedanken und Dialoge fließen ineinander, realistische Momente wechseln mit lyrischen Verdichtungen. Maria Milisavljevic treibt die Handlung voran, setzt aber auch ständig Brüche. Szenen werden vor- und zurück gespult, aus unterschiedlichen Blickwinkeln gezeigt. Solche dramaturgischen Kniffe kennt man aus anspruchsvollen amerikanischen Fernsehserien. Das Stück erinnert häufig an mysteriöse Psychothriller aus dem Kino. Die Spur der verschwundenen Karla führt ans Wasser, in die Nähe eines Flusses.

    "Ein Schrei, durch die Brandung. Und brennt der Himmel, so sieht man´s gut. Ein Wrack auf der Sandbank, noch biegt es sich gut. Gleich holt sich´s der Abgrund."

    Der Fluss ist zugefroren, die drei finden die Tasche ihrer Freundin. Wenn es taut, befürchten sie eine schlimme Entdeckung. Das Bühnenbild besteht aus einer Wand mit Eiskacheln, die langsam vor sich hin schmelzen. Immer mal wieder kracht eine runter. Das schafft eine spannungsgeladene Stimmung. Drei Mikrofone hängen von der Decke herab, die drei Schauspieler nutzen sie zum Stimmenverzerren und Geräuschemachen, Manche Szenen inszeniert Regisseur Christoph Rüping wie atmosphärische Livehörspiele, unterstützt vom vielseitigen Musiker Christoph Hart. Als die drei in Baracken am Ufer des Flusses eindringen, huschen sie zudem mit Taschenlampen durchs Publikum.

    "Vlado öffnet die Tür. (Geräusch) Dahinter sieben Russen, Messer in der Hand. – Vlado zieht sein Messer. – Schlechte Zähne. Die oberen Knöpfe ihrer Hemden aufgeknöpft. Die Reissverschlüsse ihrer Hosen halb geschlossen. Wodkaflaschen. – Karla!"

    Der Großvater der Autorin Maria Milisavljevic ist als Kriegsgefangener im Zweiten Weltkrieg nach Deutschland gekommen. Die Dramatikerin ist im westfälischen Arnsberg geboren und aufgewachsen. Dennoch spielt die Abstammung der Familie aus Kroatien eine wichtige Rolle. Alle drei Hauptfiguren im Stück haben kroatische Wurzeln. Einmal ziehen sie sich in ihre alte Heimat, um zur Ruhe zu kommen. Aber dann zwingt die Polizei sie zur Rückkehr nach Deutschland, plötzlich stehen sie unter Mordverdacht. "Brandung" ist kein Migrationsdrama, aber es geht auf einer subtilen, unterschwelligen Ebene um komplexe Heimatgefühle, die auch auf die persönlichen Beziehungen durchschlagen. Alle drei haben eine riesige Angst, verlassen zu werden. "Brandung" ist an der Oberfläche ein surrealer Thriller, und im Kern eine Studie über junge Leute mit lockeren Wurzeln, die nach festem Grund für ihr Leben suchen. Auch aufgrund der wachen und gedankenklaren Schauspieler Natalia Belitski, Barbara Heynen und Benjamin Lillie ist diese Uraufführung die gelungenste in der Serie mit neuen Stücken bei den Ruhrfestspielen.