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Angst vor Russland
Lettland rüstet sich für den Verteidigungsfall

Der Anschluss der Krim, der Krieg in der Ost-Ukraine, russische Militärmanöver an der Grenze, Atom-U-Boote vor der Küste: In Lettland beobachtet man misstrauisch, wie sich die große russische Minderheit angesichts der Ereignisse verhält. Junge Letten melden sich zum Militär, russisches Fernsehen wird "wegen Kriegshetze" verboten.

Von Bernd Musch-Borowska | 15.05.2015
    Moskauer Vorstadt mit Stalin-Bau, so genannte Stalins Geburtstagstorte "Akademie der Wissenschaften" in Riga, am 11.1.2014.
    Moskauer Vorstadt, Stadtteil der lettischen Hauptstadt Riga, die überwiegend von Russen bewohnt wird. (dpa / ecomedia / Robert B. Fishman)
    Die Stimmung im Wartezimmer der Einwanderungsbehörde in Riga ist angespannt. Rund ein Dutzend junge Leute, Frauen und Männer im Alter zwischen 20 und Mitte 30, aber auch einige ältere, wollen die Prüfung ablegen, die Voraussetzung ist für den Erwerb der lettischen Staatsbürgerschaft.
    Sie alle sind Mitglieder der russischen Minderheit in Lettland, so genannte Nicht-Bürger. 14 Prozent der Gesamtbevölkerung des EU-Mitgliedslandes sind staatenlos, insgesamt rund 280.000 Menschen - obwohl die meisten von ihnen schon seit Jahrzehnten hier leben oder sogar hier geboren sind.
    Die 20-jährige Katharina stammt aus einer russischen Familie in Riga und hat für die Prüfung gebüffelt, um danach mit einem lettischen Pass im Ausland arbeiten zu können:
    "Die Geschichte Lettlands wird abgefragt, die Kultur des Landes und die Verfassung muss man kennen - und die Hymne."
    Auch der 23-jährige Alexander geht noch mal seine Unterlagen durch. Er ist nicht staatenlos, will aber seine russische Staatsangehörigkeit gegen die lettische tauschen:
    "Ich habe einen russischen Pass, und da hat man jetzt doch immer mehr Probleme, wenn man ins Ausland reisen will."
    Vor der Prüfung hat er keine Angst. Das sei nicht so kompliziert, sagt er. Die Hymne kenne er sowieso. Wenn die lettische Eishockey-Mannschaft spiele, würden er und seine Freunde immer mitsingen:
    "Die Prüfung ist nicht schwer, wenn man in der Schule halbwegs aufgepasst hat: Geschichte, die lettische Sprache, die Hymne. Und man muss begründen, warum man die Staatsangehörigkeit annehmen will."
    Der Kongress der Nicht-Bürger Lettlands, eine Organisation zur Interessenvertretung der russischen Minderheit, hält die Prüfung für ungerecht. Die Organisation setzt sich dafür ein, dass alle Nicht-Bürger automatisch die Staatsangehörigkeit bekommen. Die meisten hätten doch auch beim Unabhängigkeitsreferendum vor 25 Jahren mit abgestimmt und erst danach ihre bürgerlichen Rechte verloren, sagt Elisabeth Krivcova, die Sprecherin des Nicht-Bürger-Kongresses:
    "Sie sind legal während der Sowjetzeit hier her gekommen, sie wurden von Firmen eingeladen, um hier zu arbeiten. Sie sind nicht aus politischen Gründen gekommen oder aus militärischen, sondern einfach im Rahmen der Bewegungsfreiheit der Arbeitskräfte, die es in der Sowjetunion gab. Und die meisten sind heute 50, 60 Jahre alt, und in diesem Alter ist jedes Examen ein Stress, vor allem für Rentner, die keine Hochschulausbildung haben. Also es gibt eine große Gruppe, für die diese Prüfung eine Schwierigkeit darstellt."
    Viele Russen werden lettische Staatsbürger, um Probleme zu vermeiden
    Die lettische Regierung sieht das ganz anders. Sie betrachtet all jene, die während der Sowjetzeit nach Lettland gekommen sind als Besatzer. Das Rad der Geschichte könne nicht zurückgedreht werden, meint Janis Kazocins, Berater im lettischen Verteidigungsministerium:
    "Lettland wurde mit internationaler Anerkennung auf der Grundlage der Republik von 1918 wieder etabliert, und dann gelten auch die Gesetze dieser Republik. Das heißt, die Menschen, die während der Besatzung gekommen sind, erhalten nicht automatisch die Staatsangehörigkeit, können sie aber erwerben. Und seit der Unabhängigkeit haben schon etwa zwei Drittel der Nicht-Bürger die Staatsbürgerschaft angenommen."
    Es gibt Stimmen in Lettland, die sich für eine Lockerung der Einbürgerungsregelung aussprechen, zumal sogar schon die Vereinten Nationen die geltende Praxis gerügt haben. Doch dafür sei keine politische Mehrheit in Sicht, beklagt Elisabeth Krivcova vom Nicht-Bürger-Kongress. Gerade für die lettische Regierungspartei würde die Anerkennung aller russisch-sprachigen Einwohner des Landes als Staatsbürger eine politische Katastrophe bedeuten.
    "In all den Jahren sind die Nicht-Bürger sehr kritisch gegenüber der Regierung und zur ganzen politischen Elite geworden. Die würden nie die Regierungspartei wählen. Und das bedeutet, 13 Prozent neue Wähler, die alle die Opposition wählen würden. Da müssen die Parteien strategisch denken, wie sie das machen, ohne ihre Macht zu verlieren."
    In der Einwanderungsbehörde kommt gerade die 33-jährige Natalie aus der Prüfung – mit strahlendem Gesicht.
    "Die Hymne, Geschichte, ein paar Fragen zur Verfassung. Das war nicht schwierig. Ich habe mich immer als Bestandteil dieser Gesellschaft gefühlt. Ich lebe hier seit meinem zweiten Lebensjahr. Wenn ich gewusst hätte, wie leicht die Prüfung ist, hätte ich das schon längst gemacht."
    Für Katharina hingegen lief es nicht so gut. Bei der Hymne sei sie ins Stocken gekommen, sagt sie.
    "In einem Monat muss ich noch mal kommen und die Hymne vorsprechen."
    Auf einem Kasernengelände, nicht weit entfernt von der Einwanderungsbehörde, singen rund zwei Dutzend Studenten und junge Berufstätige die lettische Hymne. Sie alle sind Staatsbürger Lettlands und werden als Freiwillige der Bürgerwehr vereidigt.
    Lettische Bürgerwehr mit starkem Zulauf
    Solche Verbände wurden in Lettland nach der Unabhängigkeit vor fast 25 Jahren gebildet, als es noch keine regulären Streitkräfte gab. Jetzt, angesichts der Spannungen mit Russland, bekommen diese Einheiten wieder Zulauf. Auch Frauen melden sich als Freiwillige für den Dienst an der Waffe, so wie die 34-jährige Evija, die normalerweise als PR-Fachfrau arbeitet:
    "Ich bin eine lettische Patriotin. Und ich bin bereit, mein Land zu verteidigen, wenn es zu einer Situation kommen sollte, die eine Bedrohung darstellt."
    Oskars ist 24 und Student der Wirtschaftswissenschaften. Auch er will im Ernstfall für sein Land kämpfen.
    "Ich bin vor allem wegen der Spannungen mit Russland hier. Aber auch um meine Grenzen auszutesten, um wenn es nötig wird, mein Land verteidigen zu können."
    Die Freiwilligen der Bürgerwehr werden mehrmals im Jahr zu Übungen eingezogen, sagt Andris Blume, der Kommandeur der Studententruppe. Danach seien sie in der Lage, verschiedene Aufgaben bei den Streitkräften übernehmen:
    "Die Bürgerwehr ist heute ein Bestandteil der regulären Streitkräfte. Hier melden sich Freiwillige, die dafür ausgebildet werden wollen, unsere Armee im Bedarfsfall zu verstärken."
    Die Bedrohung durch den großen Nachbarn Russland wird in Lettland ganz real empfunden. Zwar ist die einstige Sowjetrepublik heute Mitglied der NATO und kann im Fall eines Angriffs mit der Rückendeckung des westlichen Verteidigungsbündnisses rechnen. Doch ebenso wie in den beiden anderen baltischen Staaten, Estland und Litauen, wird die Entwicklung in der Ukraine mit großer Sorge verfolgt. Insbesondere wegen der russischen Minderheit, die gerade in Lettland besonders groß ist. Jeder Vierte in Lettland spricht in seinem privaten Umfeld vorrangig oder ausschließlich Russisch, mehr als 500.000 Menschen. Zwar besitzt die Hälfte von ihnen inzwischen die lettische Staatsbürgerschaft, doch eigentlich fühlen sich die meisten weiterhin als Russen und nicht als Letten.
    So wie die junge Valeria, die in der Einwanderungsbehörde auf ihre Freundin gewartet hat, die durch die Prüfung gefallen ist. Valeria hat, wie alle in ihrer Familie, inzwischen einen lettischen Pass, fühlt sich aber überhaupt nicht als Lettin.
    "Ich bin 100-prozentig Russin. Ich spreche auch meist Russisch, nur wenn jemand das überhaupt nicht versteht, spreche ich Lettisch. Ich gucke auch nur russisches Fernsehen. Das lettische Programm gefällt mir nicht. Aber auch viele Letten gucken russisches Fernsehen, obwohl das schon ein wenig seltsam ist."
    Das russische Fernsehen, das in Lettland ausgestrahlt wird, ist umstritten. Die Regierung in Riga wirft einigen Programmen vor, Propaganda zu betreiben. Insbesondere bei der Berichterstattung über die Ereignisse in der Ukraine, aber auch über politische Entwicklungen in Lettland selbst und in Europa insgesamt werde oft ein verzerrtes Bild der Realität gezeichnet, heißt es.
    Russischer Fernsehsender wegen Kriegshetze gesperrt
    Im vergangenen Jahr, kurz nach Beginn des Krieges im Osten der Ukraine, ist der russische Sender Rossija RTR in Lettland für drei Monate gesperrt worden. Wegen wiederholter Verstöße gegen das Mediengesetz, sagt Ainars Dimants, der Vorsitzende des lettischen Medienrates.
    "Es ging darum, wo ist die Grenze der Freiheit? Und die ist da, wo die Freiheit des anderen beginnt. So steht es auch in der Medienrichtlinie der Europäischen Union. Hetze aufgrund der Nationalität ist demnach nicht erlaubt. Und das war der Fall. Da wurden Ukrainer als Gegner, als Unmenschen dargestellt und geschildert."
    Im benachbarten Litauen wurde der russische Kanal vor wenigen Wochen ebenfalls gesperrt. Für drei Monate wurde dem Sender, der dort RTR Planeta heißt, aus dem Kabelprogramm genommen. Wegen Kriegshetze und Volksverhetzung, sagt Kestutis Petrauskis, Mitglied der litauischen Kommission für Radio & Fernsehen.
    "Ich muss unterstreichen, das war nicht gegen Litauen gerichtet. Aber da wurden solche Dinge gesagt wie, man muss einen neuen Krieg führen gegen Europa, weil Europa schon lange keinen Krieg mehr geführt hat, oder, man muss gegen Deutschland vorgehen, denn die leben schon zu gut und zu reich, und die sind zu aktiv geworden in der europäischen Union" und solche Sachen. Was ist das? Das ist Kriegshetze."
    Die Programme von RTR Planeta oder Rossija RTR werden in Russland produziert, speziell für im Ausland lebende Russen. Der Kanal gehört zur russischen staatlichen Fernseh- und Radiogesellschaft WGTRK und wird über Kabel und Satellit in den baltischen Staaten ausgestrahlt. In London und Stockholm hat sich RTR als europäisches Medienunternehmen registrieren lassen. Der Sender nutze auf diese Weise die Medienfreiheit der Europäischen Union, sagt Kestutis Petrauskis, obwohl Russland selbst ausländischen Medien diese Freiheit nicht gewähre.
    "Das Problem mit den russischen Sendern ist, dass Russland die europäische Konvention 'Fernsehen ohne Grenzen' nicht unterschrieben hat. Die wollen unsere westlichen Sender nicht bei sich haben. Aber sie nutzen die Lücken im europäischen Gesetz aus. Sie können bei uns ihre Sender gründen und haben in Stockholm oder in London die Lizenz für die Verbreitung ihrer Programme bekommen."
    Lettland sollte künftig dafür sorgen, dass nur solche Programme ausgestrahlt werden, die auch in Lettland registriert sind, meint Ainars Dimants vom lettischen Medienrat. Dann könne man die Inhalte dieser Programme besser kontrollieren und Gesetzesverstöße leichter ahnden.
    Die Behörden in London oder Stockholm würden die russischen Programme, die im Baltikum ausgestrahlt werden, gar nicht kennen, sagt Dimants:
    "Es gibt kein effektives Monitoring in Stockholm und London. Sie sehen diese Programme nicht, sie verstehen diese Programme nicht. Das Monitoring findet nur auf dem Papier statt. Wir haben solche Briefwechsel gesehen. Sie fragen nach Moskau, gibt es Hetze aufgrund der Nationalität in ihren Programmen? Moskau antwortet: nein - und das Verfahren ist offiziell beendet."
    Außerdem, so Dimants, stünden die russischen Programme gar nicht im Einklang mit der EU-Medienrichtlinie zum Schutz europäischer Werte, nach der möglichst viele Programmanteile in der europäischen Union produziert werden müssen. RTR Planeta produziere überhaupt nichts in Europa.
    Lettland will eigenes russisch-sprachiges Programm schaffen
    "Wir erlauben nicht nur, dass hier Kanäle auf unserem Werbemarkt verbreitet werden, die nicht in Europa produziert werden - denn das ist alles in Russland produziert - sondern die können auch noch mit Kriegspropaganda ihr Geld bei uns verdienen. Das ist doch unglaublich! Von welchen Werten sprechen wir überhaupt, wenn wir das erlauben?"
    Lettland will im lettischen Fernsehen ein russisch-sprachiges Programm schaffen. Bislang gibt es nur einzelne Sendungen im Radio und gelegentlich russische Nachrichten im Fernsehen. Man müsse die Menschen, die vorwiegend oder ausschließlich russisch sprechen, an der politischen und gesellschaftlichen Diskussion in Lettland beteiligen, mit lettischen Programmen in russischer Sprache, sagt der Vorsitzende des Medienrates Dimants:
    "Das ist sowieso notwendig, nicht nur wegen des Krieges in der Ukraine. Wir müssen in einer demokratischen Gesellschaft alle Teile der Gesellschaft ansprechen. Bislang gibt es kein lettisches Fernsehangebot für diese Leute. Damit wir sie in unseren gemeinsamen Informationsraum kriegen, brauchen wir das Fernsehen. Wir hatten immer Abendnachrichten auf Russisch im Fernsehen, aber das ist ein lettisches Programm und wird nur von sehr interessierten Leuten verfolgt. Wir wollen aber ein breites Publikum erreichen, und zwar auch mit Unterhaltung."
    Die russischen Fernsehprogramme sind in den baltischen Staaten vor allem deshalb so populär, weil sie gute Unterhaltungssendungen haben. Seit Anfang des Jahres versuchen die öffentlich-rechtlichen lettischen Sender LTV1 und LTV7 mit mehr Sendungen in russischer Sprache gegenzuhalten.
    Der aus Russland stammende Journalist Oleg Ignatyevs leitet eine Diskussionssendung über politische und gesellschaftliche Themen in Lettland, vergleichbar den Talk-Shows im deutschen Fernsehen.
    "Das ist ein Versuch von russisch-sprachigen Journalisten in Lettland, den Menschen die Gelegenheit zu bieten, ihren Blickwinkel zu erweitern. Damit sie vergleichen können mit dem, was die russischen Fernsehsender ausstrahlen. Denn das, was aus Russland kommt, das kann ich als Journalist sagen, ist meist verlogen und total verdreht."
    Russisch-lettischer Kampf um die Deutungshoheit in den Medien
    Die von der Regierung in Riga beschlossene Gründung eines russisch-sprachigen Kanals im lettischen Fernsehen kommt inzwischen ins Stocken. Es sei äußerst fraglich, sagte Finanzminister Janis Reirs, dass Lettland das Geld aufbringen könne, das für die Schaffung und den Betrieb eines solchen Fernsehkanals benötigt werde.
    Seit der Plan Anfang März bekannt gegeben wurde, wächst der Widerstand. Nicht nur von russischer Seite, die keine lettische Konkurrenz im Kampf um die Meinungshoheit unter der russischsprachigen Bevölkerung wolle, sagt der Chef der Medienkommission Dimants. Es gebe auch lettische Politiker, die ein solches Programm verhindern wollten.
    "Es gibt in der lettischen Politik solche Kräfte, die immer auf ethnische Konfrontation gebaut haben. Und das liegt nicht im Interesse solcher Politiker, dass man jetzt eine gemeinsame Plattform der Gesellschaft aufbaut und die Leute, die zu Europa und zu europäischen Werten hin orientiert sind, auch auf Russisch anspricht. Das liegt nicht im Interesse der nationalen Vereinigung und auch nicht im Interesse eines Teils der russisch-sprachigen Parteien."
    Ob das lettische Fernsehen mit Programmen in russischer Sprache auch die vielen Nicht-Bürger erreicht, also die vergleichsweise große russisch-sprachige Minderheit im Land, ist fraglich. Ohne Staatsbürgerschaft und mit eingeschränkten bürgerlichen Rechten sind die Russen in Lettland seit Jahrzehnten vom politischen Diskurs weitgehend ausgeschlossen. Ohne wirkliche Integration und ohne volle Staatsbürgerschaft werden sich die meisten von ihnen wahrscheinlich noch sehr lange nicht für die gesellschaftlichen Themen in Lettland interessieren.