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Angst vor Zuwanderung
"Völlig skurrile Rechnungen"

Im Umgang mit der Pegida-Bewegung hat der SPD-Innenpolitiker Mahmut Özdemir davor gewarnt, "solchen Rattenfängern hinterherzulaufen". Özdemir sagte im Deutschlandfunk, mit den Unzufriedenen im Land müsse gesprochen werden. Dies dürfe aber nicht dazu führen, dass die Allgemeinheit unter Rechtfertigungsdruck gerate.

Mahmut Özdemir im Gespräch mit Silvia Engels | 22.01.2015
    Der Bundestagsabgeordnete Mahmut Özdemir (SPD)
    Der Bundestagsabgeordnete Mahmut Özdemir (SPD) fordert im Deutschlandfunk einen Dialog "mit den Unzufriedenen" und eine Abkehr von der defensiven Auseinandersetzung mit Pegida. (ps / Soeren Stache)
    Es sei "völlig skurril, dass wir mittlerweile Rechnungen aufmachen", wie viel Steuern ein Zuwanderer in seinem ersten Jahr an den Staat zahle, sagte Özdemir mit Blick auf eine Studie der Bertelsmann-Stiftung. "Warum rechtfertigen wir uns eigentlich dafür, dass wir eine Europäische Union haben." Der Migrationsbericht habe gezeigt, dass die Zuwanderer aus Polen, Rumänien und Bulgarien kommen. "Warum wir uns an der Stelle in den Rechtfertigungsdrang, in die Rechtfertigungsecke begeben müssen, erschließt sich mir nicht so ganz."
    Den Dialog mit den Organisatoren von Pegida in Dresden und seinen Ablegern in weiteren Städten lehnt Özdemir ab. Diese Bewegung sei "nicht auf dem Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung aktiv" und "deutlich rechtem Gedankengut verfallen", sagte der SPD-Politiker. Der Rücktritt von Pegida-Initiator Lutz Bachmann führe nicht dazu, dass sich die gesamte Ideologie der Bewegung ändere. "Fakt ist, dass wir es hier mit völlig neuen Formationen zu tun haben, die wir auch wissenschaftlich zumindest ergründen müssen, damit wir auch sicherheitspolitisch darauf eine Antwort finden, weil sofort nach mehr Personal für Sicherheitsbehörden zu schreien, bringt aus meiner Sicht nicht immer den Erfolg, wenn wir nicht die tatsächliche Ursache dieser Form von Extremismus ergründet haben."
    Das Gespräch müsse mit den Unzufriedenen gesucht werden. "Die Menschen im Land haben eine gewisse Wahlmüdigkeit entwickelt", sagte Özdemir. "Diese Menschen erreichen wir nur, indem wir unsere Politik anständig kommunizieren."

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk Müller: Leipzig - die Erwartungen der Sicherheitsbehörden lagen bei rund 100.000 Demonstranten pro und contra Legida, pro und contra Pegida. 4000 Polizisten waren im Einsatz, das größte Aufgebot seit der Wiedervereinigung. Es kamen deutlich weniger als erwartet durch die Leipziger Innenstadt gezogen, rund 15.000 auf der einen, rund 20.000 waren es bei den Gegnern. Nach den Abschlusskundgebungen kam es zu Zusammenstößen.
    Wie also politisch umgehen mit Pegida und mit Legida? Darüber hat meine Kollegin Silvia Engels mit dem SPD-Innenpolitiker Mahmut Özdemir gesprochen.
    Silvia Engels: Beginnen wir mit dem Blick nach Leipzig. Da gibt es nun Tausende, die unter der Abkürzung Legida gegen eine angebliche Islamisierung des Abendlandes demonstrieren. Gegenkundgebungen brachten offenbar über 20.000 Menschen zusammen. Wie sehen Sie diese Entwicklung?
    Mahmut Özdemir: Ich sehe diese Entwicklungen mit Sorge und sehe es auch, genauso wie Justizminister Maas es mal gesagt hat, als eine Schande für Deutschland an. Und um es mal abzurunden: Wir brauchen, glaube ich, nicht zu betonen, dass wir in Deutschland eine Meinungsfreiheit und eine Religionsfreiheit haben, und die zu achten und zu schätzen ist die vorderste Aufgabe von jemandem, der auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung steht. Und all diejenigen, die solche Werte in Frage stellen, die bewegen sich weit außerhalb unseres Grundgesetzes und gehören für mich nicht in unser Rechtssystem und auch schon gar nicht in unser Land.
    "Nicht auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung aktiv"
    Engels: Am Abend wurden auch Differenzen zwischen der Pegida in Dresden und der Legida in Leipzig offensichtlicher. Hoffen Sie angesichts dieser Entwicklungen darauf, dass diese Gesamtbewegung vielleicht zerfällt?
    Özdemir: Ob sie zerfällt oder nicht, oder ob sie in einzelnen extremistischen Teilen fortbesteht, kann man zum jetzigen Zeitpunkt, glaube ich, noch nicht sagen. Fakt ist, dass wir es hier mit völlig neuen Formationen zu tun haben, die wir auch wissenschaftlich zumindest ergründen müssen, damit wir auch sicherheitspolitisch eine Antwort darauf finden, weil sofort nach mehr Personal für Sicherheitsbehörden zu schreien, bringt aus meiner Sicht nicht immer den Erfolg, wenn wir nicht die tatsächliche Ursache dieser Form von Extremismus ergründet haben. Und gerade deshalb: Ich würde jetzt nicht anfangen, nach rechts und weiter rechts zu sortieren. Die sind für mich an der Stelle alle zu weit rechts und, wie ich gerade betont habe, nicht auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung aktiv, und deshalb sortiere ich Legida und Pegida nicht nach rechts und etwas weiter rechts, sondern das sind für mich Organisationen, die in unserem politischen Staat und in unserem politischen System keinen Raum haben.
    Engels: Das heißt, Sie lehnen auch jeden Dialog mit der Pegida-Bewegung ab?
    Özdemir: Ich lehne den Dialog an der Stelle ab, korrekt.
    Engels: Nun ist ja der Pegida-Chef Bachmann von seiner Funktion zurückgetreten. Kann man denn nun vielleicht mit Pegida reden, wenn dort nicht so vergleichsweise extremistische Charaktere in Führung sind?
    Özdemir: Ich glaube, da an der Stelle das Prinzip "Der Fisch stinkt immer vom Kopfe her" zu bedienen und wenn der Kopf dann nicht mehr stinkt, dass der restliche Fisch an der Stelle nicht mehr stinke, ich glaube, das kann man an der Stelle nicht so nahtlos übertragen. Selbstverständlich müssen wir wissen und müssen auch die Menschen, die diesen Bewegungen hinterherlaufen, wissen, dass die Strippenzieher rechtem Gedankengut deutlich verfallen sind. Das zeigt auch das Beispiel von Herrn Bachmann an der Stelle sehr deutlich. Und ich glaube nicht, dass nur mit einer einzelnen Figur oder dem Abtritt einer einzelnen Figur eine Gesamtideologie, die dahinter steckt - und da sind ja durchaus Menschen, die lesen und schreiben können und wissen, welcher Bewegung sie hinterherlaufen -, das muss man immer wieder deutlich machen, dass man auch den Menschen, die vermeintlich eine kritische Haltung oder eine kritische Position gegenüber dem Islam einnehmen wollen, dass man diesen Menschen ganz deutlich zeigt, wem sie dort hinterherlaufen, und das sind Personen wie Herr Bachmann, auch wenn sie jetzt zurückgetreten sind.
    "Nicht solchen Rattenfängern hinterherzulaufen"
    Engels: Auch SPD-Chef Gabriel lehnt ja grundsätzlich den Dialog mit Pegida ab. Aber er fordert, mit den Bürgern ins Gespräch zu kommen, die sich von der Politik nicht vertreten fühlen, und genau dem fühlen sich ja nun viele Pegida-Anhänger durchaus zugehörig. Wie wollen Sie denn unterscheiden, mit wem Sie reden und mit wem nicht?
    Özdemir: Das ist ein Thema, wo man durchaus auch noch mal bei der Wahlbeteiligung vielleicht vorweg anknüpfen kann. Die Menschen im Land haben eine gewisse Wahlmüdigkeit entwickelt, ob das jetzt eine Wahlmüdigkeit ist oder ob es, sage ich mal, der Drang danach ist, eine Phase von Status quo zu erhalten. Da muss man an der Stelle auch noch mal sagen, um das Thema noch mal präzise zu beantworten an der Stelle: Diese Menschen erreichen wir nur, indem wir unsere Politik anständig kommunizieren und indem wir auch zum Beispiel erst mal diesen Menschen zuvörderst mitteilen, dass dies nicht der richtige Weg ist, solchen Rattenfängern hinterherzulaufen. Das müssen wir den Menschen in erster Linie sagen. Ich glaube, was Parteichef Sigmar Gabriel an der Stelle meint, ist eine Unzufriedenheit der Menschen mit der Politik, dass man diese Unzufriedenheit nicht einfach so weiterhin latent vor sich hinsiechen lässt, sondern aktiv da den Dialog mit den Menschen sucht.
    Engels: Politik besser erklären, sagen Sie. Dann nehmen wir mal den Migrationsbericht zur Hand, der ja mit den Zuwanderungszahlen 2013 bekannt wurde. Es ist ja nun so, dass viele Menschen, die zu Pegida-Demonstrationen gehen, anführen, dass die Sorge vor ungebremster Zuwanderung sie umtreibt. Und laut diesem Bericht sieht es in der Tat so aus, dass die Zuwanderung steigt, aber dass die allermeisten Zuwanderer, die kommen, eben gar nicht aus islamischen Ländern kommen, dass sie jung sind, hier überwiegend arbeiten und so die Sozialkassen füllen. Und trotzdem nehmen viele Alteingesessene das als Bedrohung wahr. Was sagen Sie ihnen?
    Özdemir: Ich sage in allererster Linie, dass ich es völlig skurril finde, dass wir mittlerweile Rechnungen aufmachen, dass sich ein Zuwanderer in seinem ersten Jahr, wenn er in Deutschland lebt, im Durchschnitt aller Zugewanderten xtausend Euro - ich glaube, die genaue Zahl der Bertelsmann-Stiftung lag um die 3.000 Euro - pro Jahr an Steuereinnahmen an das System hineinbringt. Das ist eine skurrile Situation, wo ich mich frage, warum rechtfertigen wir uns eigentlich dafür, dass wir eine Europäische Union haben? Wenn wir in den Bericht reingucken, dann sind die Hauptländer der Zuwanderung immer noch Polen, Rumänien, Bulgarien, dicht gefolgt von Spanien, Portugal, Griechenland, immer noch an vorderster Stelle, und wir haben auch eine hohe Rate - das sagt der Bericht auch - von Abwanderung. Und warum wir uns an der Stelle in diesen Rechtfertigungsdrang, in diese Rechtfertigungsecke begeben müssen, erschließt sich mir nicht so ganz.
    Müller: Der SPD-Innenpolitiker Mahmut Özdemir im Gespräch mit meiner Kollegin Silvia Engels.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.