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Anna Clementi
Stimmperformerin mit der Lust zur Verwandlung

Anna Clementi liebt die Verwandlung und hat ihr Hobby zum Beruf gemacht: Sie ist keine Sängerin, sie ist eine Schauspielerin der Stimme. Die Lust eine andere zu sein, ist ihr seit früher Kindheit ein Bedürfnis. Deshalb hat sie auch eine Leidenschaft für Perücken.

Von Gisela Nauck | 07.08.2017
    Anna Clementi spielt Akkordeon.
    Eigentlich wollte die Tochter des italienischen Avantgarde-Komponisten Aldo Clementi und seiner Frau, der schwedischen Opernsängerin Birgit Ohlin, Schauspielerin werden. (Deutschlandradio/Giesela Nauck)
    Übersicht über die Sommer-Reihe "Das zweite Gesicht" - Musiker und ihre schrägen Leidenschaften.
    Musik: Kurt Schwitters "Wenn sagte Racke"
    "Was mich fasziniert hat, ist, dass man mit einer Perücke sein Aussehen komplett verändern kann. Damals, als ich anfing, habe ich ja noch meine dunklen Locken getragen und dann wollte ich ausprobieren: wie sehe ich aus mit glatten Haaren, wie würde das aussehen, wenn ich einen Pony hätte, wie würde ich blond aussehen, wie würde ich hellrot aussehen und so", erklärt Anna Clementi.
    Hellrot könnte dann, glaubt man dem Cover auf der CD "Love is a reason", so klingen; auch das ist Anna Clementi.
    Musik: Clementi / Stern, Mai
    "Dann kam es zu einer Situation mit einem jungen Fotografen, also wir waren damals beide jung, Andreas Neubauer, der oft so Sessions mit mir gemacht hat, für sich, aber mir hat das Spaß gemacht, dann so vor der Kamera zu agieren. Und ja, mich zu verwandeln."
    Eigentlich wollte die Tochter des italienischen Avantgarde-Komponisten Aldo Clementi und seiner Frau, der schwedischen Opernsängerin Birgit Ohlin, Schauspielerin werden. Doch es kam anders.
    Idol Cathy Berberian
    "Ich bin natürlich mit meinen Eltern viel in Konzerte gegangen und das schon, seitdem ich zwei, drei Jahre alt war. Und was mich immer sehr begeistert hat, das waren die Sängerinnen, vor allem, wenn sie lustige Sachen machten. Und natürlich Cathy Berberian war mein Idol. Und sie war ja auch mit meinen Eltern befreundet und wir waren oft bei ihr zu Hause und da hat mich die ganze Atmosphäre schon als Vierjährige begeistert und fasziniert. Falsche Wimpern, Eyeliner, Kostüme auf der Bühne und so. Und ich hatte ja drei Tanten in Catania, die hatten sehr viele Kleider. Und dann war da mein Hobby, wenn ich die Tanten besuchte, die Schränke erst mal alle aufzumachen und Boutique zu spielen.
    Musik: Kurt Schwitters "Meine Puppen"
    Puppen, wie sie hier Kurt Schwitters verewigt hat, waren da nicht so interessant. Aber zur Verwandlung, zum Anderssein, gehörte von Anfang an die Stimme. War doch gerade Cathy Berberian eine jener ersten Sängerinnen, die der Stimme ihren Weg als so experimentelles wie expressives Instrument gebahnt hat.
    "Was meine Eltern immer erzählten: Da habe ich auch so eine Show für sie veranstaltet auf der Terrasse, wo ich eine Sängerin spielte, die in verschieden Rollen schlüpfte. Also ich bin dann immer raus und habe mich neu verkleidet und Stücke gesungen. Und immer gespielt, dass ich neue Musik singe."
    Musik: Alessandro Farruggio "Hommage an Sigmund Freud"
    Anna Clementi mit ihren Perücken.
    Anna Clementi mit ihren Perücken. (Deutschlandradio/Gisela Nauck)
    Von Schönberg bis Avantgarde-Pop
    Heute kann das die "Hommage an Sigmund Freud" von Alessandro Farruggio sein, komponiert für improvisierende Vokalistin, zwei Klarinetten und Tonband. Anna Clementi ist aber auch die avantgardistische Popdiva "Fräulein Annie" mit Raspel kurzen blonden Haaren, knallrot gemaltem Mund und einer roten Baum-Strichzeichnung auf Hals und Wange.
    Es war der österreichische Komponist Rupert Huber, der sie mit dem popminimalistischen "Anna Song" in seiner Komposition für Radio und Website "Plakatieren verboten" 1998 zur Popmusik verführt hat.
    Musik: Rupert Huber "Anna Song"
    Ebenso überzeugend aber kann Anna Clementi in die Stimmrolle von Arnold Schönbergs androgynem "Pierrot lunaire" schlüpfen.
    Musik" Arnold Schönberg "Nacht" aus "Pierrot lunaire"
    "Was ich mit der Stimme mache und machen will und was mir Spaß macht ist eben auch da, neue Farben zu finden und in verschiedene Rollen zu schlüpfen, sowohl im Sprechen, Atmosphären umzusetzen, aber auch mit dem Gesang."
    Zusammenarbeit mit John Cage und Dieter Schnebel
    Keine geringeren als John Cage und Dieter Schnebel wurden dabei zu Weichenstellern. 1986 reiste Anna Clementi von Rom, wo sie aufgewachsen ist und Flöte studiert hat, nach Berlin. Denn sie hatte gehört, dass Dieter Schnebel in seinem Kurs für Experimentelle Musik an der damaligen Hochschule der Künste Cages "Song books" einstudieren würde - wie auch dessen "Aria for a voice of any range". Und sie blieb in Berlin, auch als Maulwerkerin des von Schnebel gegründeten Ensembles "Maulwerker".
    "Es fing an, da haben wir angefangen an der Aria von John Cage zu arbeiten und da habe ich gedacht: Toll, dann kann ich ja endlich verschiedene Sängerinnen in einem Stück sein. Und Cage kannte ich, weil mein Vater mit ihm befreundet war und da habe ich die 'Song books' als Teenager gesehen und habe gedacht: Genau das will ich machen. Also was Theater ist und was Musik ist und was etwas ist, was ich jetzt gerade nicht verstehe, aber was mir gefällt."
    Schauspielerin der Stimme
    Das Hobby der Verwandlung wurde zum Beruf – zu dem einer Schauspielerin der Stimme. Und sie begann Perücken zu sammeln, blonde und rote, silberne, braune und schwarze. Die Perücke der zeitgenössischen und experimentellen Musik steht ihr inzwischen ebenso gut wie diejenige der Laut-Poesie, der Vokalperformance oder des Popsong. Ein Genre profitiert dabei vom anderen. In gegenseitiger Befeuerung der Genres und der multiplen Stimmen entwickelte sie die für sie typische, multiple Gesangskunst. Die Musik von Dieter Schnebel und von John Cage, etwa dessen "She is asleep" für präpariertes Klavier und Stimme von 1948, hat darin bis heute einen festen Platz.
    Musik: John Cage "She is asleep"
    "Das ist ja diese spannende Herausforderung – weiter zu gehen, immer schwierigere Sachen auszuprobieren und sich immer aufs Spiel zu setzen, so die Grenzen auszutesten und zu überschreiten, ab und zu."