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Annäherung und Abweisung im Treppenhaus

Edmondo De Amicis betreibt mit seinem Roman "Liebe und Gymnasik" eine Milieustudie in einem Mietshaus im Turin des 19. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt steht die unerwiderte Liebe eines Hausmeisters zu einer erfolgreichen Gymnastiklehrerin.

Von Maike Albath | 09.07.2013
    Don Celzani ist ein junger Mann jenseits der 30 - alles in allem eine angenehme Erscheinung, stets tadellos gekleidet, mit formvollendeten Manieren, freundlich und liebenswürdig. Vielleicht eine Spur gehemmt, was an seiner Erziehung in einer Klosterschule liegen kann. Seine Aufgaben als Sekretär seines Onkels, dem Besitzer des Turiner Mietshauses, wo sich die Geschichte zuträgt, erledigt er ohne Beanstandung. Eines ist allerdings merkwürdig: Don Celzani hält sich auffallend oft im Treppenhaus auf.

    Langsam und behutsam stieg er die ersten Stufen hinauf, das Ohr gespitzt. Und als er, auf dem ersten Treppenabsatz angelangt, von oben Schritte vernahm, spürte er, wie ihm das Blut in die Wangen schoss. Das waren die beiden Turnlehrerinnen, Maestra Pedani und Maestra Zibelli, die wie üblich gemeinsam herunterkamen und zur Schule gingen. Er erkannte die Altstimme der ersteren. Als sie in der Mitte der Treppe aufeinandertrafen, blieb der Sekretär stehen, zog den Hut, und statt die Pedani anzuschauen, sah er wie immer, übermannt von seiner Schüchternheit, ihre Begleiterin an – die auch diesmal glaubte, der Grund für seine Verwirrung zu sein und ihn mit liebevollem Lächeln ermunterte. Und sie führten eines dieser nichtssagenden Gespräche, wie man sie bei solchen Gelegenheiten eben führt.

    Don Celzani hält es nicht mehr aus – wieder hat er die Chance verpasst, Maria Pedani angemessen zu umwerben und stattdessen mit ihrer Mitbewohnerin, der altjüngferlichen Maestra Zibelli, geplaudert. Er fasst einen folgenreichen Entschluss: Es ist an der Zeit, sich Maria Pedani zu erklären! Dass die schöne junge Maestra mit ihrem durchtrainierten Körper ihm kaum Gehör schenken wird, ahnt er allerdings schon. Denn die Pedani ist eine militante Anhängerin einer neuen Mode: des Frauensports. Sie unterrichtet nicht nur Gymnastik an der Schule, sondern gibt jungen Mädchen Privatstunden in Keulenschwingen und Bodenturnen, hält Vorträge und schreibt Artikel und ist auf dem Sprung zu einer landesweit geschätzten Expertin für Leibesübungen.

    Kurzum, für Kinkerlitzchen wie die Liebe oder gar die Ehe hat sie keinen Kopf – ihre ganze Seele gehört dem Sport, und so turnt sie weiterhin flott durchs Treppenhaus, sehr zum Leidwesen ihres Verehrers, der aber ebenfalls eine bemerkenswerte Kondition an den Tag legt.

    Der italienische Schriftsteller Edmondo De Amicis, Erfinder dieses kuriosen Paares, fertigt in seinem kurzweiligen Roman "Liebe und Gymnastik" eine kleine Milieustudie an und stellt außerdem sein komisches Talent unter Beweis. 1892 veröffentlicht, wählt De Amicis Turin als Schauplatz, die Stadt, in der er selbst einen Teil seiner Jugend verbrachte und von der die italienische Einigungsbewegung ausging. Als der Nationalstaat 1861 zustande kam, diente die piemontesische Metropole einige Jahre lang als Hauptstadt, hier befand sich das erste italienische Parlament. Und hier bildete sich ein neues Bürgertum heraus. Vertreter dieser Schicht versammelt De Amicis in seinem Mietshaus, Knotenpunkt und Bühne seines Romans. Es gibt den korrekten, aber freundlichen und nachsichtigen Hausbesitzer, Celzanis Onkel. Es gibt zwei freudlose Betschwestern, die von früh bis spät in die Kirche rennen. Und es gibt einen konkurrenzlerischen Kollegen der beiden Lehrerinnen, Maestro Fassi, der Maria Pedani ihren Erfolg als Sportfachfrau neidet. Im ersten Stock wohnt der joviale Ingenieur Ginoni, gestandener Ehemann und Familienvater. Er steht dem liebeskranken Don Celzani mit väterlichem Rat zur Seite, während seine Gattin ausschließlich um das Wohlergehen ihres spätpubertären Erstgeborenen kreist, der seinerseits ebenfalls für Maria Pedani entbrannt ist und ihr regelmäßig auf die Pelle rückt. Wie in einer französischen Komödie kreuzen sich die Wege sämtlicher Bewohner im Treppenhaus, in den Salons und auf den Korridoren des weitläufigen Gebäudes an der Via dei Mercanti. Eines Abends lädt Ingenieur Ginoni die Bewohner zu sich nach Hause ein. Unweigerlich kommt das Gespräch auf Maria Pedanis Mission.

    "Ich bitte um Vergebung", antwortete der Ingenieur. "Ich bekämpfe nicht die Gymnastik an sich. Aber ich habe etwas gegen diese neue Gymnastik, die sich wissenschaftlich-literarisch-apostolisch-theatralisch gibt und bloß erfunden wurde, um die Anzahl der Kongresse zu vervielfachen und Zunge und Feder tausendmal mehr zu schwingen als Arme und Beine. Ich glaube, es ist nicht diese Art von Gymnastik, die die Signorina verteidigt. "Ich verteidige sie nicht", erwiderte diese, "was ich kenne, ist eine vernünftig durchdachte Gymnastik, gegründet auf der Kenntnis der Anatomie, der Physiologie und der Hygiene, die der Jugend Kraft, Beweglichkeit, Anmut, Gesundheit und gute Laune schenkt und alle moralischen und intellektuellen Fähigkeiten fördert. Ich glaube an diese Wirkungen, weil sie bewiesen sind und ich sie mit eigenen Augen sehe. Ich glaube daher, dass die Gymnastik die nützlichste, heiligste Erziehungseinrichtung für die Jugend ist, und diejenigen, die sie bekämpfen – entschuldigen Sie -, tun mir leid, sie scheinen mir verblendete Menschen, gewissenlose Feinde der Menschheit."

    Angesichts der Entschiedenheit, mit der die eloquente Lehrerin ihren Sport verteidigt, wird einem Leser von heute schon etwas mulmig – schließlich nützte die körperliche Ertüchtigung der Jugend vor allem der Armee, die auf widerstandsfähigere Wehrpflichtige zurückgreifen konnte. Ende des 19. Jahrhunderts lag das Trauma des Ersten Weltkrieges aber noch in weiter Ferne. De Amicis, ein überzeugter Sozialist und Befürworter der italienischen Einheit, verstand Sport als eine Schichten übergreifende Aktivität und als emanzipatorisches Mittel. Ein Ideologe war er nicht. Es spricht für ihn, dass er die bewegungsfanatische Maestra durch den Kakao zieht – allzu viel Sport scheint sich eben doch, ganz wie Ingenieur Ginoni vermutet, auf die Gehirnzellen auszuwirken. Ausgerechnet Maria Pedani mit ihrer göttlichen Taille und den herrlichen Oberarmen ist vollkommen unsinnlich und gleichgültig wie ein Eisblock. Mit viel Gespür für Psychologie gestaltet De Amicis sein Figurenensemble und schürt Don Celzanis Liebe, der Niederlage um Niederlage einsteckt.

    "Signorina", sagte Don Celzani leise, zitternd, nachdem er mit lauter Stimme von dem Wasserrohr gesprochen hatte, "... ich komme, um Sie ein letztes Mal zu fragen ... ob Sie immer noch derselben Meinung sind." Sie sah ihn wohlwollend an, warf einen Blick nach der Tür und wiederholte mit einem leisen Ausdruck des Bedauerns: "Immer noch derselben Meinung." Don Celzani erbleichte. Und fragte noch leiser: "Und ... unwiderruflich?" Die Maestra sah wieder nach der Tür, und das Gesicht in einer Regung des Mitleids ein wenig zur Seite neigend, antwortete sie: "Ja."

    Edmondo De Amicis kehrt flugs die Geschlechterrollen um: Don Celzani ist verzagt und unterwürfig, Maria Pedani wird bald draufgängerisch zur Tat schreiten. In "Liebe und Gymnastik" studiert der italienische Schriftsteller den Wandel des Gefühlslebens und fertigt ein amüsantes Sittengemälde an. Von Barbara Kleiner mit turnerischer Eleganz ins Deutsche übersetzt, muss man De Amicis' Rolle für die italienische Sprache erwähnen. Der berühmte Autor und Publizist beförderte mit seinen Büchern nämlich ein modernes Italienisch, das sich stärker an mündlichen Ausdrucksformen orientierte und vor allem verständlich sein wollte. In dieser Disziplin war Edmondo De Amicis mindestens ebenso sportlich wie Maria Pedani mit ihren Gymnastikkeulen. Auch Sprechwerkzeuge wollen trainiert sein.

    Buchinfos:
    Edmondo De Amicis: "Liebe und Gymnastik", aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Kleiner, Manesse Verlag, Zürich 2013, 254 Seiten, Preis: 19, 95 Euro