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Anne Garréta "Sphinx"
Sind sie Mann oder Frau, trans- oder intersexuell?

Die Übersetzung in eine andere Sprache verschafft Büchern oft neue Aufmerksamkeit: So ergeht es dem Debütroman "Sphinx" der französischen Autorin Anne Garréta. Er ist bereits 1986 in Frankreich erschienen. Und obwohl der Roman in einer Zeit geschrieben wurde, in der sich die Gender Studies gerade erst konstituierten, erscheint "Sphinx" brandaktuell in unserem gegenwärtigen Diskurs.

Von Miriam Zeh | 03.01.2017
    Das Transgender-Symbol auf einem Transparent
    "A*** trug an diesem Abend ein schwarzes Seidenhemd und eine Bundfaltenhose aus weißem Leder". (dpa picture alliance / Florian Schuh)
    Wie lange halten wir das aus? Wie lange können wir einer Liebesgeschichte folgen, wie lange mit den Verliebten in ihrem Rausch taumeln und in ihrer Sehnsucht vergehen, wenn das Geschlecht beider Liebenden völlig unklar bleibt? Wie lange halten wir das aus, bevor wir fragen: Sind diese Figuren nun Mann oder Frau, homo- oder heterosexuell, sind sie trans- oder intersexuelle Menschen?
    Anne Garréta stellt mit ihrem Debütroman "Sphinx" genau diese Fragen. Sie erzählt die Liebesgeschichte zwischen einem namenlosen, erzählenden Ich und dem Objekt seiner Begierde: einer schillernden, schemenhaften Figur, die sich hinter dem Großbuchenstaben A und drei Sternchen verbirgt. Die beiden Protagonisten bilden ein ungleiches Paar. Das erzählende Ich entstammt einer großbürgerlichen französischen Familie, ist Anfang 20 und voll von ungestümem Weltschmerz.
    Als es A*** kennenlernt, hat es gerade sein Theologiestudium und damit seine akademische Karriere aufgegeben, um als DJ zu arbeiten. A*** dagegen stammt aus New York, ist einfach, schwarz, zehn Jahre älter und Star einer Tanzrevue. Im Pariser Nachtleben der 80er-Jahre treffen die beiden Figuren aufeinander. Eine Liebesbeziehung bahnt sich an, die zunächst einer klassischen Choreografie zu folgen scheint.
    Das erzählende Ich muss A*** von seiner Liebe überzeugen, von "Eroberung" ist die Rede. Es folgt eine intensive Phase der Erfüllung, bevor sich die Liebe allmählich in Gewöhnung und Alltag verliert und schließlich in A***s Unfalltod ein tragisches Ende findet.
    Gebrochen wird dieses bekannte Handlungsmuster jedoch durch die permanente sprachliche Camouflage des Geschlechts beider Liebenden. Sie eröffnet dem Leser eine vage, eine schwebende Erotik, die jenseits binärer Ordnungsschemata innovativ ist, in ihrer Menschlichkeit jedoch zugleich jederzeit nachvollziehbar und anschlussfähig erscheint.
    "Ohne, dass ich es merkte, heftete sich mein Blick auf den begehrten Körper und wurde, weil ich so unter Druck stand, hart und anstrengend. A*** trug an diesem Abend ein schwarzes Seidenhemd und eine Bundfaltenhose aus weißem Leder, die die muskulöse Form der Hüfte betonte. Die Haare, kürzlich für die Show abrasiert, wuchsen wieder nach und bedeckten den Schädel mit dunklem Flaum. So gab es nichts, was von dem puren, nackten Gesicht ablenkte, nichts, was die Proportionen hätte verfälschen oder eine Unvollkommenheit hätte kaschieren können. "
    Wenn Alexandra Baisch eine deutsche Übersetzung findet, in der diese geschlechtliche Unmarkiertheit ohne Verrenkung und Schwere erzählt wird, gelingt ihr Beachtliches. Nicht immer vermag der Leser zu folgen, denn allzu schnell beginnt er zu konstruieren. Lässt ein Theologiestudium nicht doch auf einen Mann als erzählende Instanz schließen? Liest sich der erobernde, besitzergreifende Blick des erzählenden Ich nicht doch als ein "männlicher"? Oder eröffnen zwei Liebende, die sich auf der Pariser Rive Gauche, also auf dem liken Seine-Ufer herumtreiben, nicht doch Assoziationen an die schillernden expatriates, die sich seit den 1920er-Jahren hier herumtrieben. Djuna Barnes etwa, Janet Flanner oder Gertrud Stein, sie alle trafen sich in Bars und Cafés rund um den legendären Buchladen Shakespeare and Company auf der Pariser Rive Gauche – und sie alle lebten mit Frauen.
    Erzählfigur wird differenziert reflektiert
    Garrétas Liebespaar als schwul oder lesbisch zu bezeichnen, erweist sich während der Lektüre jedoch schnell als zu einfach. Die Autorin lässt ihre Erzählfigur sehr viel differenzierter reflektieren, wie sehr Geschlecht und Begehren als identitätsstiftende Merkmale fungieren. Der Roman ist dabei als selbsttherapeutisches Essay konzipiert, den das erzählende Ich zehn Jahre nach der zurückliegenden Liebe niederschreibt. Ausführliche Gedanken über die eigene Person und die Beziehung zu A*** sprechen dabei sensibel und eindringlich, ohne ins Floskelhafte zu verfallen von der Schwierigkeit, eine Identität und ein Liebesverhältnis jenseits etablierter Muster und Rollen zu gestalten.
    "Wer war ich denn tatsächlich? Transe im Sich-Vergrübeln, Gigolo im Sich-Verlieben. Eine infernalische Reihe obszöner Gestalten, die sich in meinem Dasein breitgemacht hatten, ohne ihm eine Möglichkeit zu lassen, der allmählichen Entblätterung des elenden Leidens zu entkommen: So bahnte sich Verzweiflung einen dunklen Weg durch meine einsame Seele. Endlich legte ich die stolze Maske ab; ein Sturz, eine große Kapitulation, eine Reduktion auf mein reinstes Nichts – alles ausgelöscht in den geliebten Armen."
    Die selbst auferlegte Beschränkung, alles Geschlechtliche der Hauptfiguren auszusparen, folgt bei Garréta einem literarischen Programm. Die Autorin ist Oulipienne. Im Jahr 2000 wurde sie als erste Frau in das Kollektiv OuLiPo, das "Ouvrir de Litterérature potentielle", eine "Werkstatt für potenzielle Literatur" aufgenommen. Die Beschränkung des Sprachmaterials ist eines der wesentlichen ästhetischen Kriterien der Gruppe OuLiPo, die linguistische, mathematische und wissenschaftliche Strukturen auf ihr literarisches Potenzial hin erkundet. Anne Garrétas Roman "Sphinx" ist jedoch, wie Antje Rávic Strubel in ihrem klugen Nachwort zur deutschen Übersetzung anmerkt, nicht nur eine Erkundung linguistischer Grenzen. "Sphinx" ist auch eine "politische Intervention".
    Einige Abstriche nimmt Garréta mit ihrem Experiment dabei in Kauf, Abstriche an den Grenzen der Sprache und an den Grenzen des Erzählens. Denn während das Innenleben des erzählenden Ich atmosphärisch und komplex erzählt vor den Augen des Lesers aufgeht, bleibt die Figur von A*** schattenhaft, kommt nicht zu Wort. Zu verräterisch wäre die Sprache, die uns A*** plastisch werden ließe. Gerade darin liegt der große Gewinn der Lektüre. Warum fällt es uns so schwer, eine geschlechtslose Figur zu imaginieren? Aufgrund welcher Zeichen im Text konstruieren wir geschlechtliche Zuordnungen?
    Anne Garréta stellte diese Frage vor 30 Jahren. 1986 erschien "Sphinx" im französischen Original. Bis heute hat der Roman nichts an Aktualität eingebüßt. Selbst im Jahr 2016, in dem sich die Öffentlichkeit um eine Pluralisierung binärer Strukturen bemüht und Facebook-Nutzer zwischen 60 verschiedenen Geschlechteridentitäten wählen können, führt Anne Garréta uns mit ihrem Roman "Sphinx" die Grenzen der eigenen Vorstellungskraft vor Augen.
    Anne Garreta: "Sphinx"
    Edition Fünf, Gräfelfing 2016. 184 Seiten, 19,90 Euro