Donnerstag, 25. April 2024

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Anne Weber: "Ahnen"
Auf den Spuren der familiären Nazi-Vergangenheit

Auch in Anne Webers neuem Buch "Ahnen" spielen das Reich der Toten und die Atmosphäre der Zeitlosigkeit eine entscheidende Rolle. Dabei gerät die nationalsozialistische Vergangenheit des Urgroßvaters in den Blick. Dreh- und Angelpunkt ist dabei die Autorin selbst: mit ihrem Wunsch, die Familien- und Zeitgeschichte und sich zu verstehen.

Von Hans-Jürgen Heinrichs | 10.09.2015
    Autorin Anne Weber
    Anne Weber beschreibt in "Ahnen" ihre eigene Familiengeschichte. (picture alliance / dpa / Foto: Arno Burgi)
    Dieses Buch handelt von einer Reise, die die Autorin auf den Spuren ihres 1924 verstorbenen Urgroßvaters Florens Christian Rang, eines Juristen, Pfarrers und Philosophen unternimmt, eine Reise, die mit Recherchen beginnt und dann auch vollzogen wird. Die Spurensuche endet aber nicht im Todesjahr des Urgroßvaters. Mehr und mehr rückt die Zeit zwischen seinem Leben und dem Leben der Autorin in den Mittelpunkt. Dabei treten zwei weitere Figuren der Familiengeschichte und eine damit verbundene Frage in den Vordergrund: Wie haben sich der Vater und dessen Vater im nationalsozialistischen Deutschland verhalten?
    Der Leser durchläuft bei der Lektüre drei Zeiträume, die Zeit des Urgroßvaters in Posen (heute Poznań) von 1890 bis zu seinem Tod; die Lebenszeit des Vaters, der Flakhelfer war und 17 Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging; der dritte Zeitraum setzt in der Gegenwart ein, in der sich die Autorin der Nazi-Zeit und damit dem Leben ihres Großvaters und der Nachkriegsjahre stellt. Hier erst, um es konkret zu sagen, auf den Seiten 71 ff, spricht sie ihr zentral werdendes Thema, das nach dem Krieg herrschende Schweigen über die begangenen Verbrechen, an. Der Stil nimmt jetzt einen dringlichen Ton an: Sie verlebendigt sich die allgemein-historische Zeit über ihre eigene Familiengeschichte. Der entscheidende Satz lautet:
    "Erst in den letzten Jahren, weit über ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende, redet mein Vater jedes Mal, wenn ich ihn besuche, davon, dass dieses Schweigen ihm mehr und mehr auf der Seele liege."
    Das Schweigen lastet auch auf der Seele der Tochter. Ihr Buch stellt den Versuch dar, sich von der Bürde zu befreien und, stellvertretend für die Familie, die verdrängte Frage der Schuld zurück ins Bewusstsein zu holen. Sie selbst ist als Dreh- und Angelpunkt in der erzählten Familien- und Zeitgeschichte in jedem Augenblick präsent. Und letztlich ist es ihre mit äußerster Akribie betriebene Selbst- und Fremderforschung, die den Leser durch den oft sehr sperrigen Text geleitet.
    Protagonisten werden mit distanzierter Aufmerksamkeit betrachtet
    Dessen Protagonisten aber, der Urgroßvater, der Großvater und der Vater, werden erzählerisch nicht stark genug konturiert, um den Leser in Bann zu ziehen. Beim Urgroßvater kommt die Schwierigkeit hinzu, dass seine schriftstellerischen Bemühungen und seine Nähe zu Geistesgrößen des 20. Jahrhunderts - zu Walter Benjamin und Hugo von Hofmannsthal - und zu einer sogenannten "pneumatischen Gemeinschaft", der auch Martin Buber und Gustav Landauer angehörten, nur für diejenigen von Bedeutung ist, die sich über diese Verbindungen interessante Einblicke in jene Zeit erhoffen. Letztlich schaut man dem Urgroßvater, den die Autorin "Sanderling" nennt, einem hochgebildeten Mann, der sich geistig bei den Griechen und Römern, bei Shakespeare, Goethe und Dante zu Hause fühlte, nur mit einer distanzierten Aufmerksamkeit zu:
    "Viele Eigenschaftswörter würden auf ihn passen: der Suchende, der Wahnsinnige, der Haltlose, der Radikale, der Unbändige ... Das Erste, was mich für den Mann erwärmte, war, dass sein nur in Fragmenten überliefertes Hauptwerk den Titel "Abrechnung mit Gott" tragen sollte."
    Die 1964 in Offenbach geborene und in Paris lebende Schriftstellerin tut sich schwer mit diesem Mann, seinem Ernst und dem Größenwahn seines Unternehmens. Und vorsorglich bittet sie den Leser um Geduld, falls er ihr bei der Spurensuche im Dickicht jener Zeit folgen möchte. Ihr "Journal einer Erkundungsreise" soll die Unmöglichkeit spüren lassen, das Wesentliche dieses Menschen und die sein Leben prägende Sphäre des Unsichtbaren einzufangen.
    So sehr die Autorin sich auch mit ihm verbunden fühlt - mit dem Leid seiner Vereinsamung und mit seiner Gewissenhaftigkeit, mit seiner eisernen Maske, hinter der er sein Leid verbirgt, mit seiner Zuflucht zu den Toten und seiner Abkehr von Gott -, stehen doch im Hintergrund immer Fragen an ihren Vater und dessen Umfeld. Sie sind das Movens dieses Buches: Wer war Mitläufer, wer hat geschwiegen? Zugleich die grundsätzliche Frage: Welches Recht haben wir, unsere Familienmitglieder, ja ein ganzes Kollektiv aus dem großen Abstand zur Zeit des Nationalsozialismus zu befragen und zu bewerten? Hier nimmt Anne Webers Zeitreisetagebuch mehr und mehr die Form eines anthropologischen Essays über die Grenzen der Zivilisation an. Sie spürt ihr Dilemma:
    "Soll ich vielleicht eine hunderttausendste Nazi-Großvater- oder -vatergeschichte schreiben? ... Ich sitze über den Dokumenten und werde das Gefühl nicht los, ein unstatthafter Eindringling in ein fremdes Leben, in eine fremde Zeit zu sein."
    Abarbeiten am Begriff des Deutschtums
    Die erzählerische Klammer des Buches sind die Rückzugsorte Paris und die Normandie, die Reisen zum Vater und die Recherchen in Berlin und in Polen. Es sind Reisen in die Fremdheit der Zeit, der Geschichte und der eigenen Familie. Sie arbeitet sich am Begriff des Deutschtums ab, in dem sie nur noch den Widerhall von Massengrab zu hören glaubt. Sie ist bedrückt, zu sehen, wie ihr Vater und dessen Vater letztlich hilflos der Möglichkeit gegenüberstanden, die Vergangenheit aufzuarbeiten und das reiche geistige Erbe des Urgroßvaters vor dem Vergessen zu retten. Das Buch endet mit einer gespenstisch anmutenden Reise nach Polen, in "jene alte, undeutliche Mitte: die Mitte Europas":
    "Nirgendwo geht es nach draußen, das Gleis, auf dem mein Zug ankam, ist eingeklemmt zwischen anderen Gleisen und scheint ohne Verbindung zur Außenwelt."
    Sowohl in der Form eines Essays als auch einer Erzählung gelingt der Autorin auf dieser Schlussstrecke eine beachtenswerte Verdichtung. Wie sie sich in Poznań daran erinnert, dass hier Himmler im Dezember 1939 der Vergasung von Geisteskranken zuschaute und seine Leute dafür lobte, "anständig" geblieben zu sein. Und wie sie darauf besteht, dass es nicht Massen, sondern immer Einzelne mit ihren Gesinnungen oder Gesinnungslosigkeiten sind, die zu Mördern werden. Vielleicht ist die Autorin davor zurückgeschreckt, sich der Erzählung dieses Wahnsinns ohne essayistische Rückversicherung zu überlassen. Vorstellbar ist, dass sie nach der mühsam zurückgelegten Wegstrecke erzählerisch neu mit dem Ende beginnt, dort, wo sie eine Poesie der Toten und Ahnen ausbreitet.
    Da könnte der Text wieder anschließen an die sprachlich weit entwickelten Erzählformen in Anne Webers früheren Büchern. Erst nach der zweiten und dritten Lektüre, nach immer wieder neuen Versuchen, mich durch dieses Zwitterwesen aus Sachbuch und Erzählung, Tagebuch, Reisejournal und Recherchebericht und der angestrebten Selbsterforschung durchzuarbeiten, konnte ich Gefallen an der letztlich auch hier feingewobenen Sprache und an der zeitgeschichtlichen Neugier der Autorin finden.
    So bleibt mir nur, das Buch dem Leser und der Leserin zur mehrmaligen Lektüre zu empfehlen. Vielleicht entdecken sie jedes Mal in diesem Zeitreisetagebuch ein anderes Buch, auch eines, das sich leidenschaftlich von Begriffen und vom Verstehen und damit vom Stil des Sachbuchs gelöst hat und den "Zickzack von Widersprüchen" und die Schönheit des Nichtverstehens begrüßt.
    Anne Weber: "Ahnen. Ein Zeitreisetagebuch"
    S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2015, 268 Seiten, Preis: 19,99 Euro