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Annie Ernaux: "Die Scham"
Der Riss in der Kindheit

Es war ein Sonntag im Juni 1952. Fast hätte der Vater die Mutter erschlagen. Um dieses Ereignis herum dekonstruiert Annie Ernaux ein Milieu und eine Kindheit im sozialen Abseits. Ein faszinierendes Erzählgewebe aus Erinnerung und Reflexion.

Von Angela Gutzeit | 26.08.2020
Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux dunkel gekleidet mit Blick in die Kamera beim International Book Festival in Edinburgh.
Im individuellen Gedächtnis ein kollektives finden - dafür steht die französische Schriftstellerin Annie Ernaux (picture alliance / Ger Harley)
Über 20 Jahre nach der französischen Erstveröffentlichung liegt nun endlich auch Annie Ernaux' Band "Die Scham" in deutscher Übersetzung vor. Und damit ein weiterer Mosaikstein in einem Werk, das im Grunde genommen aus einer einzigen Erzählung besteht, der ethnografischen Spurensuche nach der sozialen und geschlechtlichen Bedingtheit individueller Existenz. Genauer gesagt, Ernaux' Existenz, verortet im französischen Arbeitermilieu.
Scham als zentrales Thema
Ob in "La Place", dem Buch über den Vater, oder in "Une Femme", ihrem Buch über die Mutter – Scham spielte immer schon eine zentrale Rolle. Die Scham über die erlittene Schmach, einer niederen, bildungsfernen Schicht zu entstammen. Aber auch die Scham, durch ihren Aufstieg in das intellektuelle Milieu Frankreichs, wie sie meint, "Klassenverrat" begangen zu haben. Aus dieser Zerrissenheit erwuchs in nun bald 40 Jahren ein faszinierendes Erzählgewebe aus Erinnerung und Reflexion. Ernaux konstituierte damit so etwas wie ein eigenes Genre der autofiktionalen Erkundung, das in Frankreich schnell Schule machte – ein dekonstruierendes, erforschendes Erzählen in bewusst karger, von allen Ausschmückungen befreiter Sprache.
Wenn Scham in den uns bekannten Büchern von Annie Ernaux immer schon präsent war, was ist nun von diesem Text, explizit mit "Die Scham" betitelt, noch Neues zu erwarten? Gleich der erste Satz wartet mit einem Paukenschlag auf:
"An einem Junisonntag am frühen Nachmittag wollte mein Vater meine Mutter umbringen."
Was war passiert? Die Eltern, Besitzer einer Ladenkneipe mit angrenzendem Wohnraum in einem Arbeiterviertel von Y., wie der Ort zwischen Le Havre und Rouen genannt wird, waren in Streit geraten. Die dominante Mutter provozierte den eher zurückhaltenden Vater - bis dieser explodierte.
"Mit einem Mal begann er krampfartig zu zittern und zu keuchen. Er stand auf und ich sah, wie er meine Mutter packte, sie in die Kneipe schleifte und mit rauer, fremder Stimme schrie. (…) In der schlecht beleuchteten Vorratskammer hatte mein Vater meine Mutter mit der einen Hand an der Schulter oder am Hals gepackt. In der anderen hielt der das Beil, das er aus dem Klotz gerissen hatte."
Das Drama zur Sprache bringen
Es kam nicht zum Äußersten. Die Eltern versöhnten sich wieder. Aber für die fast zwölfjährige Annie, so sieht es die Autorin Jahrzehnte später, war diese Szene nicht nur ein fataler Riss in der Kindheit, sondern bildete den Urgrund ihrer Scham. Ein glühender Kern, um den sich weitere Ringe schamvollen Empfindens legen konnten. "Ich schreibe hier die Szene zum ersten Mal auf", notiert sie, um kurz darauf festzustellen, dass diese sich nicht in eine Abfolge von Worten fügen will. In der Erinnerung bleiben Bilder, eine Atmosphäre. Aber Worte? Wie kann man ein Drama zur Sprache bringen, über das niemals mehr gesprochen wurde? Wie sich der Zwölfjährigen nähern, die sie einmal war, aber in der sie sich nicht mehr erkennt?
"Ich will die seit Jahren eingefrorene Szene in Bewegung versetzen, damit sie nicht länger etwas Heiliges in mir ist, eine Ikone (ein Beweis dafür ist zum Beispiel der Glaube, dass sie es ist, die mich zum Schreiben bringt, dass all meine Bücher auf ihr beruhen)."
Meisterin der ethnografischen Tiefenbohrung
Und hiermit erweist sich die französische Autorin wieder einmal als Meisterin dieser ethnografischen Tiefenbohrung. Ernaux präzisiert zunächst das Datum des Familiendramas: "Es war der 15. Juni 1952." Dann umkreist sie das Ereignis auf – wie sie schreibt – "materiellen Spuren", die ihr geblieben sind: Fotos ihrer selbst von der Kommunion, Postkarten vom Wallfahrtsort Lourdes, ein Messbuch, Zeitungen in einem Archiv, Schulutensilien, "Quellen, die etwas aussagen", so Ernaux, aber dennoch keine Wirklichkeit erzeugen würden. Um diese Artefakte herum rekonstruiert die Autorin eine Lebenswelt, die kein geschlossenes Ganzes ergeben kann und die doch ermöglicht, die Scham als lebenslang beherrschenden Makel nachvollziehbar zu machen.
"Um meine damalige Lebenswirklichkeit zu erreichen, gibt es nur eine verlässliche Möglichkeit, ich muss mir die Gesetze und Riten, die Glaubenssätze und Werte der verschiedenen Milieus vergegenwärtigen, Schule, Familie, Provinz, in denen ich gefangen war und die, ohne dass ich mir ihrer Widersprüche bewusst gewesen wäre, mein Leben beherrschten."
Und so beschreibt Annie Ernaux die Topografie der Heimatstadt, ihre Zweiteilung in die guten und schlechten Viertel, in Milieus, die ein gutes und die ein schlechtes Französisch sprechen. Akribisch verzeichnet sie den von Religiosität und festen Abläufen strukturierten Alltag ihrer Familie, die Enge der Kleinstadt, in der jeder jeden beobachtet; den verbissenen Willen der Mutter, als etwas "Besseres" zu erscheinen – wozu auch gehört, die Tochter auf eine katholische Privatschule zu geben.
Die Entblößung
Dieses Kapitel über eine Lehranstalt, in der religiöse Riten Wissensvermittlung und eine humane Pädagogik zur Nebensache degradieren, gehört zu den stärksten dieses schmalen Buches. Es gipfelt in einer schamvollen Entblößung. Eine Lehrerin bringt das Mädchen spätnachts nach einer Feier nach Hause. Zum ersten Mal sehen die Lehrerin und weitere Schülerinnen das Elternhaus und die Mutter. Diese steht mit fleckigem Nachthemd, mit dem sie sich, wie es heißt, nachts immer den Urin abwischt, in der Tür.
"Soeben hatte ich meine Mutter zum ersten Mal mit den Augen der Privatschule gesehen. In meiner Erinnerung ist diese Szene, die in keiner Weise vergleichbar ist mit der anderen, in der mein Vater meine Mutter umbringen wollte, deren Fortsetzung."
Die Scham, so Annie Ernaux, sei zu ihrer "Seinsweise" geworden. "Sie wurde Teil meines Körpers". Und - so ist zu ergänzen: zum Movens ihres Schreibens. Mit ihren Texten strebe sie danach, wie sie einmal sagte, im individuellen Gedächtnis ein kollektives zu finden. In Zeiten zunehmender sozialer Spannungen ein wichtiger Anspruch, den Annie Ernaux beindruckend einlöst – ohne Larmoyanz oder Zynismus.
Annie Ernaux: "Die Scham"
aus dem Französischen von Sonja Finck
Suhrkamp Verlag, Berlin. 110 Seiten, 18 Euro.