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Anschläge in der Türkei
"Die Türkei hat sehr viele Feinde"

Jemand müsse dem türkischen Präsidenten Erdogan klar machen, dass die militärische Eskalation des Kurdenkonflikts nicht zum Erfolg führen werde, sagte der Islamwissenschaftler Udo Steinbach im Deutschlandfunk. Das sei auch Aufgabe der Europäer - sie sollten dabei aber nicht mit Druck und Drohungen arbeiten.

Udo Steinbach im Gespräch mit Dirk Müller | 21.03.2016
    Der Islamwissenschaftler Udo Steinbach auf einer Podiumsdiskussion im März 2006.
    Der Islamwissenschaftler Udo Steinbach auf einer Podiumsdiskussion im März 2006. (imago / Gerhard Leber)
    Die Türkei habe derzeit sehr viele Feinde, sagte Steinbach. Sie habe die Feinde im Inneren, die Kurden. Außerdem den IS und Syrien und im Augenblick auch noch Russland. Die Frage sei, wie die Terrorgefahr in der Türkei verringert werden könne.
    Das Problem: Erdogan scheine davon überzeugt zu sein, dass seine Strategie der militärischen Eskalation in der Kurdenfrage aufgehe, seine ganze Rhetorik gehe hin zur physischen Zerstörung der Kurden. Es sei nun die Frage, wer ihm das klarmachen könne, dass dies nicht funktionieren werde. Das sei auch Aufgabe der Europäer - und in der gegenwärtigen Situation gebe es Möglichkeiten dazu.

    Das komplette Interview zum Nachlesen:
    Dirk Müller: Fünf Menschen reißt die Bombe mit in den Tod, darunter drei Israelis. 39 weitere werden zum Teil schwer verletzt. Ein Selbstmordattentat mitten im Herzen der Millionen-Metropole am Bosporus, schon wieder ein Anschlag in der Türkei. Die Tageszeitungen waren noch voll mit Berichten vom Attentat eine Woche zuvor in Ankara, bei dem 37 Menschen in Stücke gerissen wurden. Terror als Alltag in der Türkei, ein Land, das gerade mit der Europäischen Union ein Flüchtlingsabkommen beschlossen hat. Für das Attentat an diesem Wochenende in Istanbul ist offenbar der IS verantwortlich und nicht die PKK, nicht die IPG oder auch nicht die TAK.
    - Am Telefon ist nun der Islam-Wissenschaftler und Türkei-Kenner Professor Udo Steinbach. Guten Morgen.
    Udo Steinbach: Schönen guten Morgen.
    Müller: Herr Steinbach, wie viele Feinde hat die Türkei?
    Steinbach: Sehr viele. Sie hat die Feinde im Inneren, das haben Sie schon erwähnt. Das sind die Kurden, das ist ein gewisses Feld an Sympathisanten des Islamischen Staates. Das sind die Mächte am Rande der Türkei, denken wir an Syrien. Im Augenblick ist es auch noch Russland, obwohl sich da gewisse Veränderungen abzeichnen. Also: Die Türkei ist eigentlich erfüllt von und umgeben mit Feinden des Systems.
    Müller: Hat sich die Türkei die Kurden zum Feind gemacht?
    Steinbach: Ja, das kann man wohl so sagen, denn man war ja auf einem guten Weg seit 2005. Herr Erdogan hatte es geschafft, überhaupt einmal die Existenz eines Kurden-Problems zu akzeptieren. Daraus hat er politische Lösungen versucht, die allerdings nur halbherzig. Mal spielte er die kurdische Karte nationalistisch, mal ging er auf die Kurden zu. Und dann im Jahre 2015, als ihm die Kurden nun deutlich im Weg standen, insbesondere die kurdische HDP, da begann er den Konflikt von Neuem in einer Weise, die nun eskaliert ist bis zu dem Punkt, den wir kennen, von wo aus es schwer zu sehen ist, wie man die kurdische Frage wieder in die politische Dimension zurückbringt.
    Müller: Das ist so ein bisschen die Lesart im Westen, wie Sie gerade auch argumentieren, Udo Steinbach, ohne jetzt beurteilen zu wollen, inwieweit das zu 100 Prozent stimmt oder nur zu 90 Prozent. Aber kann es sein, dass die Kurden auch eine Mitverantwortung tragen für die Eskalation?
    Steinbach: Ja, natürlich. In gewisser Weise schon, denn irgendwo steht die Vision des kurdischen Staates im Raum. Das ist schon richtig. Und dann mag auch die kurdische Bewegung in der Türkei weniger kompromissbereit sein, weniger friedensorientiert. Wenn ich das sage, dann meine ich, wir haben eine gewisse kurdische Selbstständigkeit im nördlichen Irak, wir haben Tendenzen bei den syrischen Kurden in Richtung auf zumindest Autonomie. Und das verführt natürlich irgendwie dazu, nun diese Vision eines gemeinsamen Kurdentums, eines gemeinsam kurdischen Staates zu verfolgen. Daraus resultiert weniger Kompromissbereitschaft. Und insofern kann man natürlich sagen, in dieser Großwetterlage kann man der kurdischen Seite auch in der Türkei eine gewisse Mitschuld daran geben, nun die Dinge militärisch zu eskalieren.
    Müller: Umgekehrt gefragt, Herr Steinbach: Sind die kurdischen Ambitionen legitim?
    Steinbach: Ja, sie sind legitim, aber sie sind politisch nicht durchsetzbar. Sie sind legitim in der Weise, dass es natürlich bereits im 19. Jahrhundert im Kontext des Osmanischen Reiches einen kurdischen Nationalismus gab. Diesem Nationalismus ist man entgegengekommen europäischerseits in dem Vertrag von Sèvres 1920, wo die Errichtung eines kurdischen Staates auf türkischem Boden, auf anatolischem Boden durchaus erwähnt wurde. Das ist dann alles unter den Teppich gekehrt worden, sowohl in Anatolien als auch im Irak, wo die Briten herrschten. Hier ist auf der einen Seite ein gewisser Anspruch da. Die Kurden sind das viertgrößte Volk nach den Arabern, den Iranern und den Türken und haben keinen Staat. Das ist das eine. Das andere ist, dass nach Lage der Dinge sowohl was die kurdische Bewegung selbst betrifft - sie sind eben sehr zerrissen - als auch was die regionale Dimension betrifft - Kurden im Iran, in der Türkei, im Irak, in Syrien. Die Staaten werden kaum gewillt sein und die Regierungen, die Kurden in einen eigenen Staat zu entlassen.
    Müller: Die Angriffe der türkischen Regierung, des türkischen Militärs auf kurdische Gebiete, das wird unterschiedlich interpretiert, mit Schlagzeilen versehen. An Sie die Frage: Ist das ein Krieg gegen die Kurden? Ist das ein Krieg gegen die PKK?
    Steinbach: Es hat sich radikalisiert
    Steinbach: Ja, es ist natürlich ein Krieg gegen die PKK, weil die PKK den Anspruch vertritt, einen kurdischen Staat zu gründen, jetzt jedenfalls. Vorübergehend und zeitweise hat man eine politische Lösung akzeptiert. Man begann, zu verhandeln, in Gestalt des PKK-Chefs Öcalan, der im Gefängnis sitzt. Hier schien es einmal, als sei eine politische Lösung möglich im Sinne von Autonomie der Kurden in der Türkei. Aber das hat sich jetzt radikalisiert und die kurdische Frage ist wieder zu einer Angelegenheit der militärischen Auseinandersetzung geworden, sowohl zwischen dem türkischen Staat und der PKK als auch der Türkei und den syrischen Kurden.
    Müller: Machtpolitik von Präsident Erdogan, hoch umstritten seit vielen Jahren, nachdem das Verhältnis ja ursprünglich zu Erdogan recht gut und konstruktiv war, auch mit Blick auf türkische Ambitionen in Richtung Europäische Union. Kann Erdogan ernsthaft denken, an Sie jetzt die Frage, dass die Eskalation gegen die Kurden in dieser Situation irgendein Problem in der Türkei lösen kann?
    Steinbach: Ja, davon scheint er überzeugt zu sein. Und seine ganze Rhetorik, auch die Rhetorik der AKP, auch die Rhetorik des Ministerpräsidenten geht in Richtung auf physische Vernichtung des kurdischen Problems. Und ich glaube, da irrt er einfach. Die Frage ist, wer wird wirklich bereit sein, ihm das zu sagen. In der Türkei hat er kaum noch eine Opposition, die hinreichend stark wäre, ihm das klar zu machen, dass es eine militärische Lösung nicht geben kann. Bleibt das Ausland, bleiben die Vereinigten Staaten, die ja durchaus einen politischen Deal mit den syrischen Kurden ins Auge gefasst hat. Bleibt natürlich die Europäische Union und bleibt natürlich am Ende Deutschland, dem türkischen Staatspräsidenten klar zu machen, es gibt keine militärische Lösung, Du musst wieder zu einer politischen Lösung zurückkehren. Und die gegenwärtige Situation im Verhältnis zwischen der Europäischen Union und der Türkei, die gibt vielleicht sogar einen Aufhänger, ihm dies klar zu machen.
    Müller: Sie sagen, ein Aufhänger. Aber ist es nicht auch ein Argument dagegen, mit offenen Karten beziehungsweise mit Druckpotenzial, mit Drohpotenzial in Richtung Ankara zu agieren, weil die EU die Türkei so dringend braucht?
    Steinbach: EU muss Deeskalation verlangen
    Steinbach: Das ist ja kein Druckpotenzial und auch kein Drohpotenzial, sondern es geht darum, dem türkischen Staatspräsidenten einen Tatbestand zu erläutern. Und Sie haben Recht: Jetzt in der gegenwärtigen Situation zu Druck und Drohungen überzugehen, wäre das Verkehrteste. Das hat Herr Erdogan über viele Jahre hinter sich, dass die Europäische Union ihn drückt und drängt. Und dafür rächt er sich ja in gewisser Weise in der Gegenwart. Das kann also nicht die Tonart sein und der Stil, in dem die Europäische Union mit der Türkei verkehrt. Aber klar zu machen, jetzt insbesondere unter Freunden, dass da ein großes Problem ist, das politisch angegangen werden muss, das ist doch der richtige Zeitpunkt und das ist die richtige Tonart.
    Müller: Habe ich vielleicht auch nicht gut ausgedrückt mit Druck und Drohung. Vielleicht mal anders herum gefragt: Die Perspektive in Richtung Brüssel aufzubrechen, das heißt diese türkische Beitrittsperspektive, die jetzt wieder gekommen ist offenbar bei den Verhandlungen in Brüssel am vergangenen Freitag, einerseits mehr Visa-Freiheit, auf der anderen Seite eine türkische Beitrittsperspektive, sollten da die Europäer nicht klipp und klar sagen: Wenn ihr gegen die Kurden so weiter vorgeht, brauchen wir darüber gar nicht reden?
    Steinbach: Ja, beides muss man sagen. Man muss genau das sagen, was Sie gerade angedeutet haben: Wenn der Kampf mit den Kurden eskaliert, dann brauchen wir darüber gar nicht mehr zu reden. Aber zugleich muss man sagen, deeskaliere, kehre zurück zu einer Politik. Und dann können wir auch die politischen Gespräche mit Blick auf den türkischen Beitritt wieder aufnehmen. Das ist möglich.
    Müller: Wir hatten, Herr Steinbach, gestern auch die Absage des großen Fußballspiels der beiden größten türkischen Vereine in Istanbul. Zeigt ein bisschen die Machtlosigkeit auch des türkischen Staates, auch das Erpressungspotenzial der Terroristen auf der anderen Seite. Kann Erdogan diesen Kampf jemals gewinnen?
    Steinbach: Ich glaube, die Absage eines Fußballspiels ist nicht unbedingt negativ zu bewerten und als eine Reaktion auf den Druck. Das haben wir ja bei uns auch erlebt. Ich glaube, das war richtig. Und das zeigt, dass der türkische Staat, dass die türkischen Sicherheitskräfte durchaus noch in der Lage sind, rational zu handeln in konkreten Fällen. Die Frage ist: Wie kriegt man jetzt sozusagen die Großwetterlage hin? Wie kann man in der Türkei eine Situation schaffen, in der die Terrorismusgefahr beigelegt wird oder zumindest gesenkt wird? Und das ist eine Frage nicht an die türkischen Sicherheitskräfte. Da sind wir wieder bei der Politik. Da sind wir bei der Frage in Richtung auf den türkischen Staatspräsidenten.
    Müller: Der Islam-Wissenschaftler und Türkei-Experte Professor Udo Steinbach bei uns hier im Deutschlandfunk. Danke für das Gespräch, Ihnen noch einen schönen Tag.
    Steinbach: Schönen Dank.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.