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Anschläge in Paris
"Gefährdungseinschätzung läuft nicht rund"

Der Terrorismus-Experte Guido Steinberg hat im Deutschlandfunk kritisiert, dass Belgien, Österreich und Dänemark relativ schwache Sicherheitsbehörden hätten. Er rechnet damit, dass diese Länder bald nachrüsten. Auch bei der Gefährdungseinschätzung läuft nach Steinbergs Ansicht vieles nicht rund.

Guido Steinberg im Gespräch mit Peter Kapern | 19.11.2015
    Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik
    Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik (Imago / Müller-Stauffenberg)
    Peter Kapern: Bei uns am Telefon ist Guido Steinberg, Terrorismus-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik. Guten Abend.
    Guido Steinberg: Guten Abend, Herr Kapern!
    Kapern: Herr Steinberg, Manuel Valls hat heute den getöteten Terroristen Abdel-Hamid Abu Oud als eines der Gehirne hinter den Anschlägen von Paris bezeichnet. Das besagt doch nichts über dessen Bedeutung für den IS. Können Sie uns da weiterhelfen?
    Steinberg: Es scheint so, als ob der Herr Abu Oud in der Organisation IS tatsächlich keine Führungsposition innehatte. Die Organisation IS wird ohnehin von Irakern und einigen wenigen Syrern dominiert und für die Ausländer, selbst für die Prominenten unter ihnen, bleibt vor allem die Figur einer Identifikationsfigur, die vor allem in der Propaganda eine Rolle spielt und deren Funktion es ist, Rekruten im Heimatland dazu zu bewegen, in den Irak und nach Syrien zu ziehen. Das galt lange Zeit auch für den Herrn Abu Oud. Das galt hier in Deutschland für Denis Cuspert beziehungsweise "Deso Dogg". Das war sein alter Name als Rapper. Und es galt in England für "Dschihadi John". Also Leute, die nicht ganz so wichtig sind in der Organisation, aber für die dschihadistische Szene in ihren Heimatländern Vorbilder.
    Kapern: Die Sicherheitsbehörden vermuteten Abu Oud ja bis vor Kurzem noch in Syrien. Nun stellt sich heraus: Er war in Paris. Warum haben die Geheimdienste keine Ahnung gehabt?
    Steinberg: Ja, das ist tatsächlich sehr schwer zu erklären, vor allem, da es ja eine Vorwarnung gab. Der Herr Sina hat eben in seinem Beitrag schon erwähnt, dass Abu Oud in einem Internet-Magazin der Organisation aufgetaucht ist, und zwar war das, nachdem diese Zelle in Verviers am 15. Januar 2015 aufgelöst wurde. Da tauchte er mit zwei bis drei sehr, sehr klaren Bildern auf und eigentlich hätten da alle Alarmglocken klingeln müssen, dass es ihm schon einmal gelungen war, nach Belgien zu kommen und dann auch wieder nach Syrien zurückzureisen. Es scheint so, als sei er da fröhlich mindestens zweimal hin- und hergereist. Das darf nicht passieren.
    Kapern: Wie kann das sein?
    Steinberg: Ich kann es mir tatsächlich nicht erklären. Eine Möglichkeit, die in den nächsten Tagen geprüft werden wird, ist natürlich, ob er vielleicht über die Balkan-Route mit den Flüchtlingen diesen Sommer gekommen ist. Das wäre natürlich ein politisch großes Problem für die Deutschen. Eine andere Möglichkeit ist ganz einfach, dass er mit einem falschen Pass eingereist ist und dass da sämtliche Sicherheitsmaßnahmen des Schengen-Raumes versagt haben. Ich nehme an, dass beides zutreffen kann.
    "In der Gefährdungsschätzung läuft vieles nicht rund"
    Kapern: 2014 soll er sogar ab Köln noch Richtung Türkei geflogen sein und erkannt worden sein. Er soll auf einer Liste gestanden haben, die gewissermaßen bedeutete, bitte informiert die Behörden in Belgien, dass der Mann in Europa unterwegs ist, aber unternehmt mal nichts.
    Steinberg: Ja, das ist richtig. Es gibt solche Listen und wenn da kein Haftbefehl vorliegt, dann wird der betreffende Mensch auch in Deutschland nicht verhaftet. Das gab es schon einmal: Das war der Fall des Attentäters auf das jüdische Museum von Brüssel, Mehdi Nemmouche. Der ist über Frankreich eingereist, aber für den lag kein Haftbefehl vor. Die Franzosen wurden informiert, aber der Herr durfte weiterreisen, weil es keinen Haftbefehl gab. Da läuft offensichtlich in der Gefährdungseinschätzung sehr, sehr vieles nicht rund, und das kann durchaus mit der Funktion dieser Leute zu tun haben, dass sie als Propagandisten gelten, aber nicht als zumindest potenzielle Operateure in einer größeren Terroraktion.
    "Belgien hat einen schwachen Staat"
    Kapern: Wir haben nun in den letzten Tagen, Herr Steinberg, gelernt, dass Belgien sich offensichtlich zum Rückzugsraum von Islamisten entwickelt hat. Warum ist das so?
    Steinberg: Belgien hat seit jeher eine starke dschihadistische Szene und ich denke, dass es eine Rolle spielt, dass wir es dort mit einem extrem schwachen und auch fragmentierten Staat zu tun haben. Andererseits aber ist doch auch auffällig, dass die dschihadistische Szene in Belgien sehr stark von den in diesem Land auch zahlenmäßig sehr starken Marokkanern und anderen Nordafrikanern dominiert wird. Und wenn man sich einmal die Anschläge auf dem europäischen Kontinent in den letzten zehn Jahren anschaut, dann wird man feststellen, dass viele der spektakulärsten Aktionen von Marokkanern oder auch von Tunesiern und einigen Algeriern verübt wurden. Das ist im Moment hier in Europa die aktivste, die aggressivste dschihadistische Szene und die sind nun einmal in Belgien unter den Muslimen sehr, sehr stark vertreten. Das ist einer der Gründe, warum Frankreich und Belgien so stark betroffen sind und Deutschland bisher zumindest etwas weniger.
    Kapern: Gibt es noch weitere Länder in der EU, die den Kampf gegen den islamistischen Terror bislang nicht so richtig ernst genommen haben oder ähnliche schwache Strukturen aufweisen wie Belgien?
    Steinberg: Ja es gibt zumindest Länder, in denen die Zahl der ausgereisten Dschihadisten in den Irak und nach Syrien im Verhältnis zur Bevölkerungszahl sehr, sehr hoch ist, und da folgen auf Belgien vor allem Österreich und Dänemark mit dann doch relativ schwachen Sicherheitsbehörden. Aber wenn Sie einmal den Blick auf Deutschland wenden, dann sind wir ja auch ein Land, in dem die Sicherheitsbehörden, zumindest die Nachrichtendienste recht schwach gehalten werden. Das ist ein Teil unserer politischen Kultur. Und insgesamt werden da alle europäischen Länder bis auf Großbritannien und Frankreich, die recht starke Nachrichtendienste und auch eine starke Polizei haben, in den nächsten Jahren wahrscheinlich nachrüsten.
    Kapern: Ganz kurz noch zum Schluss, Herr Steinberg. Morgen Treffen der EU-Innenminister. Wenn Sie denen den einen Punkt nennen sollten, den sie als allererstes im Kampf gegen den Terrorismus sofort umsetzen müssen, was wäre das ganz oben auf der Liste?
    Steinberg: Nachrichtendienste stärken. Es zeigt sich doch immer wieder, dass die Früherkennung von dschihadistischer Aktivität sehr schwach ist. Und die Belgier, die Deutschen, die Franzosen, die haben vor allem eins versäumt, nämlich die Ausreise von jungen Europäern zu verhindern. Erst wenn diese Ausreisenden auf eine große starke dschihadistische Organisation treffen, die sie trainiert, die sie finanziert, die sie anschließend losschickt, um Anschläge in Europa zu verüben, dann werden diese einzelnen jugendlichen Dschihadisten erst so richtig gefährlich.
    Kapern: Guido Steinberg, Terrorismus-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik. Herr Steinberg, danke, dass Sie für uns so spät noch zum Hörer gegriffen haben.
    Steinberg: Ich danke.
    Kapern: Eine gute Nacht wünsche ich Ihnen schon mal.
    Steinberg: Gleichfalls.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.