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Anschlag auf die Synagoge von Halle
"Kann ich hier in Ruhe weiterleben?"

Bald beginnt der Prozess gegen den mutmaßlichen Attentäter von Halle. Jüdinnen und Juden in Deutschland fühlen sich seit dem Anschlag noch unsicherer in Deutschland. Sie haben das Gefühl, dass sie selbst für ihre Sicherheit sorgen müssen.

Von Carsten Dippel | 03.07.2020
Die durch Beschuss beschädigte Tür der Synagoge Halle.
Die durch Beschuss beschädigte Tür der Synagoge Halle. (dpa-Bildfunk / Jan Woitas)
Elisha Portnoy ist ein gläubiger Mann. Er spricht mit seinen Gemeindemitgliedern über das Wirken Gottes, auch in solch dramatischen Stunden.
"Dass wir auf so eine wunderbare Weise gerettet wurden, das müssen wir einfach sehen als Hand Gottes und unseren Glauben stärken und unsere Tradition noch mehr ausleben und noch mehr lernen. Also das einzige, worauf wir vertrauen können, ist Gott."
Den höchsten jüdischen Feiertag verbrachte der orthodoxe Rabbiner in Dessau. Er betreut die kleine jüdische Gemeinde seit sechs Jahren und seit Herbst 2018 auch die gut 500 Mitglieder zählende Gemeinde in Halle. Weil es einem gläubigen Juden an Yom Kippur nicht erlaubt ist, technische Geräte zu nutzen, hat Rabbiner Portnoy erst nach und nach erfahren, was im 50 km entfernten Halle geschehen ist. Die Sorge um seine Gemeinde dort war groß. In den Tagen und Wochen nach dem Anschlag war Rabbiner Portnoy seinen Gemeindemitglieder eine wichtige Stütze. Viele hätten nach Seelsorge-Gesprächen gesucht. Die Verunsicherung sei zu spüren gewesen.
Portnoy sagt: "Manche haben wirklich erst so nach und nach realisiert, was passieren könnte und haben Schlafstörungen bekommen und Ängste bekommen. Meine Hauptrolle ist wohl, zu zeigen, dass das Leben weitergeht. Dass wir nicht unser jüdisches Leben aufgeben dürfen. Wir müssen weiterleben, unsere Feste feiern, unsere Kinder erziehen... das soll weitergehen und nicht, dass jeder aus Angst zu Hause bleibt."
Mitten in einem emotionalen Gebet
Gut 80 Jüdinnen und Juden hatten sich zu Yom Kippur in der Hallenser Synagoge versammelt. Unter ihnen war auch die Rabbinatsstudentin Karen Engel. Sie ist an jenem Tag mit einer größeren Gruppe aus Berlin angereist, ganz im Geist, kleinere jüdische Gemeinden gerade an Feiertagen zu unterstützen.
Engel: "Wir waren mitten in einem sehr emotionalen Gebet. Als ich diese Explosion gehört habe, dachte ich zuerst, irgendjemand hat vielleicht einen Molotowcocktail in den Hof geworfen. Es war wirklich ein sehr, sehr schönes Gebet und deswegen war das so schrecklich, dass dieser Anschlag das zerstört hatte." Karen Engel ist in Kalifornien aufgewachsen, in einer säkularen jüdischen Familie. Sie hat mehr als 20 Jahre in Österreich gelebt, als Journalistin gearbeitet, und mit 60 entschieden, sich am konservativen Zacharias Frankel College in Berlin zur Rabbinerin ausbilden zu lassen.
"Ich bin eine sehr rationale Person. Der Schock war mehr für meine Kinder. Ich glaube, danach war eben diese Realisierung, dass man wirklich die Möglichkeit von Gewalt sehr ernst nehmen muss, dass man sich leider damit auseinandersetzen muss."
Elisha Portnoy, der am orthodoxen Hildesheimer Seminar in Berlin studiert hat, weiß um die Verantwortung, die Rabbiner für ihre Gemeinde tragen. Ein Rabbiner gibt Halt und Orientierung, er leistet Beistand, bietet Trost. Unter dem Eindruck der jüngsten Ereignisse wollen nun zwei der Rabbinerseminare – das liberale Abraham Geiger Kolleg und das konservative Zacharias Frankel College – Sicherheitsfragen stärker in den Fokus der Ausbildung rücken. Es gehe aber auch um die Frage, wie Rabbiner ihre Gemeinde nach traumatischen Ereignissen begleiten, erklärt Sandra Anusiewicz-Baer, die Koordinatorin des Frankel Kollegs.
Anusiewicz-Baer sagt: "Es soll nicht das Gefühl aufkommen, dass der Gang in die Synagoge etwas Gefährliches ist, dass Leute Angst haben, wenn sie in die Synagoge gehen. Diese Stimmung darf sich auf keinen Fall breitmachen. Und als Institution sind wir verantwortlich, dass unsere Rabbiner dafür gewappnet sind. Es macht mich unglaublich traurig, dass wir dieses Element noch in die Ausbildung mit hineinnehmen müssen."
Unsicherheit wächst
"Halle" reiht sich in eine ganze Reihe von antisemitischen Übergriffen und Anschlägen ein, deren Häufigkeit, auch Brutalität in den letzten Jahren signifikant zugenommen hat, und das weltweit. Die jüngsten Studien zum Antisemitismus bestätigen zudem einen besorgniserregenden Trend: Sie zeigen, dass sich Jüdinnen und Juden vor allem in Europa zunehmend unsicherer fühlen.
Eine wichtige Anlaufstelle für Betroffene ist das Kompetenzzentrum der ZWST mit seiner Beratungsstelle OFEK. Marina Chernivsky ist Leiterin des Kompetenzzentrums.
Chernivsky sagt: "Wenn ich etwas aus Halle mitnehme, dann das: Ich möchte mich nicht mehr überraschen lassen als Institution. Und ich glaube schon, dass wir dahin kommen können, diese Gemeinden besser vorzubereiten. Das heißt nicht, dass wir jetzt alle in Panik verfallen, sondern wir arbeiten an unserer Widerstandsfähigkeit. Alle gemeinsam und darin sehe ich das Potential."
Die Berliner Kinderärztin und Psychotherapeutin Marguerite Marcus wollte eigentlich auch zu Yom Kippur in Halle sein. Auf dem dortigen jüdischen Friedhof liegt ihre Urgroßmutter begraben. Sie entschied sich dann doch anders und so entging sie dem Anschlag.
Marcus erzählt: "Ich war froh, dass es danach gleich die Gesprächsgruppen gab in Zusammenarbeit mit Ofek. Das war wirklich sehr wichtig, weil wir wissen, dass wir solche Menschen, die das erlebt haben, nicht allein lassen dürfen."
"Ich bin müde, diesen Kampf weiterzuführen"
Unmittelbar nach dem Anschlag wollte Marcus mit einer Freundin aus Boston eine kleine Reise zum Bauhaus nach Dessau unternehmen. Doch diesen Gedanken habe sie fallengelassen. Zu groß war der Schock, auch die Angst, sagt Marcus. Aufgewachsen in West-Berlin und bewusst jüdisch erzogen, habe sie sich eigentlich immer als eine Botschafterin des jüdischen Lebens verstanden.
Marcus: "Ich hätte nie gedacht, dass ich irgendwann mal am Mikro sitze und sage, ich bin müde, diesen Kampf weiterzuführen. Ich bin froh, dass meine Kinder so aufgestellt sind, dass sie überall leben können. Das ist das jüdische Vermächtnis: Dass man sich fragt, kann ich hier wirklich in Ruhe weiterleben?"
Eine Frage, die auch Talya Feldman beschäftigt. Die amerikanische Medien-Künstlerin war zu Yom Kippur in Halle. Sie kommt aus Colorado, einem US-Bundesstaat, der durch Amokläufe in Schulen traurige Berühmtheit erlangt hat. In den vergangenen Monaten hat sich Feldman mit dem Erlebten künstlerisch auseinandergesetzt.
Feldman: "Als Jüdin oder Jude bist du niemals überrascht, wenn solche Dinge passieren. Es ist riskant, in die Synagoge zu gehen, es ist riskant offen erkennbar jüdisch zu sein."
Koffer packen?
Eine Gesellschaft verändere sich jedoch nicht dadurch, dass mehr Polizisten vor Synagogen stünden, sondern durch mehr Bildungsarbeit, sagt Jo Frank. Er ist Geschäftsführer des jüdischen Studienwerks Ernst-Ludwig-Ehrlich.
"Die Frage ist aber auch, was passiert jetzt innerhalb der Gesellschaft. Es ist ja klar, dass es nicht die Aufgabe von Jüdinnen und Juden sein kann, gegen Antisemitismus zu kämpfen. Sondern, dass das eine Aufgabe ist, die gesamtgesellschaftlich übernommen werden muss."
Die deutliche Reaktion von Politik und Gesellschaft nach dem Angriff auf die Synagoge in Halle wurde in der jüdischen Gemeinschaft als ermutigendes Zeichen gesehen. Die Sorge vor wachsendem Antisemitismus, die Frage, wie sicher das jüdische Leben in Deutschland ist, bleibt jedoch. Sandra Anusiewicz-Baer, die eine Zeit überlegte, in die USA zu gehen, hat in Berlin ihren Lebensmittelpunkt. Ob sie ihre Koffer packen würde?
Anusiewicz-Baer: Für mich persönlich kommt es weniger in Frage. Aber ich würde das für meine Kinder nicht ausschließen und ich würde ihnen davon auch nicht abraten. Sondern das ist eine ganz legitime Option, zu gucken, wie wohl fühlst du dich hier und wenn es dir wichtig ist, einen jüdischen Freundeskreis zu haben und sicher hier zu leben, gibt es noch eine andere Option. Und das ist Israel.