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Anselm Oelze: "Wallace"
Im Schatten Darwins

Zwei Männer, zwei Entdeckungsreisen - und eine bahnbrechende Theorie: Der Roman "Wallace" erzählt von einem Wissenschaftsskandal im 19. Jahrhundert. Charles Darwin entwickelt seine Evolutionstheorie nicht allein, sondern mithilfe des Autodidakten Alfred R. Wallace - der aber in Vergessenheit gerät.

Von Andrej Klahn | 08.02.2019
    Buchcover: Anselm Oelze: „Wallace“ und historisches Foto von Alfred Russel Wallace
    Lange als Wissenschaftsgröße verkannt: der britische Naturforscher Alfred Russel Wallace (Buchcover: Schöffling & Co. Verlag, Foto: Imago/United Archives International)
    Die Geschichtsschreibung hat dem Naturforscher Alfred Russel Wallace einen Platz im Schatten zugewiesen. Der Mann, der Wallace seit rund 150 Jahren das Licht nimmt, heißt Charles Darwin. Wallace und Darwin arbeiteten Mitte des 19. Jahrhunderts unabhängig voneinander an einer Theorie zur Entstehung der Arten, und sie fanden zur selben Zeit die bis heute gültige Antwort: Nicht Gott, sondern natürliche Auslese hat uns und alle anderen Lebewesen zu dem gemacht, was wir heute sind. Doch während Darwin als naturwissenschaftlicher Revolutionär gefeiert wird, fristet Wallace in der Geschichte der Evolutionstheorie ein Fußnotendasein.
    Ein Museumsnachtwächter stolpert über ein Buch
    An Versuchen, Wallace posthum aufs Podest zu heben, fehlte es allerdings nicht. Zuletzt erschienen vor fünf Jahren zu seinem hundertsten Todestag mehrere Abhandlungen, mit dem Ziel, dem Forschungsreisenden historische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Eben das versucht auch Anselm Oelze mit seinem schlicht "Wallace" betitelten Roman-Debüt. Der 1986 geborene Autor deklariert diesen augenzwinkernd großspurig als "selbstverständlich wahre Geschichte". Und um sie in Gang zu bekommen, lässt Oelze seinen fiktiven Nachtwächter Albrecht Bromberg in der Bibliothek eines Museums für Natur- und Menschheitsgeschichte über einen welligen Teppich stolpern – und seinen Helden dabei zufällig ein Foto vom Naturforscher Wallace entdecken.
    "Bromberg bückte sich, um eines der Bücher aufzuheben, die bei seinem Sturz in alle Richtungen geflogen waren, und hielt inne, als ihn die Blicke der beiden Männer trafen. Der jüngere von beiden stand, den rechten Arm in die Hüfte, die linke Hand auf die Stuhllehne gelegt, mit leicht geöffneten Beinen neben seinem älteren, bärtigen Begleiter. Seine Haltung war ruhig, sein Blick konzentriert. Das rechte Knie des Bärtigen ruhte auf dem samtigen Polster, seine rechte Hand hielt, in akkurater Spiegelung der Pose des Jüngeren, die Lehne, die linke war in die Hüfte gestützt. Beide Männer waren von hagerer Gestalt, trugen leuchtend weiße Hosen über schwarzen, frisch gewichsten Schuhen."

    Vielleicht muss, wer Geschichte umschreiben möchte, erst mal zwischen Bücherregalen straucheln, um eine neue Perspektive auf das vorhandene Wissen zu gewinnen. Bevor der Museumsangestellte Bromberg sich aber Gedanken machen kann, wessen Foto ihm da zufällig vor die Füße gefallen ist, hat er das Buch auch schon wieder pflichtbewusst wegsortiert. Schon im folgenden Kapitel aber begegnet dem Leser der bärtige Alte mit den frisch gewichsten Schuhen als Forscher in jüngeren Jahren wieder: Denn da erzählt Oelze direkt von Alfred R. Wallace, wie er – unterwegs im Kanu irgendwo in Amazonien – damit beschäftigt ist, sich einen Sandfloh unter dem Zehennagel herauszubohren, um dann von einem Alligator aus dem Boot gerissen zu werden. Und plötzlich ist man mittendrin in einem intellektuellen Abenteuerroman, dessen schwüle Regenwald-Kulisse Oelze sehr atmosphärisch und sinnlich auszumalen versteht.
    Plötzlich ist man mitten drin auf Forschungsreise
    Kapitelweise springt Oelze dann ständig zwischen dem 19. Jahrhundert und unserer Gegenwart hin und her. Abwechselnd erzählt er also von zwei Männern, die beide ganz unterschiedlich auf riskant-eigenwillige Entdeckungsreise gehen – und zur Spiegelgestalt für des jeweils anderen werden: Zum einen vom Museumsnachtwächter Bromberg aus unserer Zeit, der ein in Routinen erstarrtes Dasein führt, bis er sich für das Leben und Wirken des ihm unbekannten Naturforschers Alfred Wallace zu interessieren beginnt; und zum anderen von eben diesem Expeditionsreisenden Alfred Wallace, der – 1823 geboren – auf der Suche nach einer schlüssigen Erklärung für die Vielfalt der Natur ist:

    "Das Laubgrün der luftigen Baumblätter war ein anderes als das Grasgrün der bodennahen Farne; das Tannengrün der Schlingpflanzen ein anderes als das Oliv der schulterhohen Sträucher. Im Blick des unbedarften Laien aber verschwommen sie zu einer einzigen monochromen Masse. Dieses Einerlei in seine vermeintlich vielfältigen Bestandteile zu zerlegen und hier und da farbenprächtige Einzelstücke zu erspähen erforderte Scharfsinn, Ausdauer und Forscherwillen."
    Unbeirrbarer, aber schüchterner Erkenntnissucher
    Diese Tugenden bringt Wallace, der gelernte Landvermesser und Selfmade-Wissenschaftler, bei Oelze reichlich mit. Selbstlos stellt er sich hier in den Dienst der Erkenntnis. Was aber nicht heißt, dass Oelze Wallace als furchtlosen Forschungsreisenden zu rehabilitieren versucht. Er entwirft stattdessen mit wenigen, aber markant gesetzten Strichen das Bild eines schüchternen Außenseiters, eines wenig selbstbewussten Mannes, dem das Leben reichlich Lektionen in Duldsamkeit erteilt hat. Wallace sieht Brüder und Schwestern sterben; auf der Fahrt von Brasilien zurück in die Heimat geht ihm seine rund 25.000 Exemplare umfassende Tier-Sammlung mit dem sinkenden Schiff im Meer verloren. Eine Verlobung scheitert, woraufhin der 31jährige Wallace beschließt, erneut aufzubrechen, dieses Mal Richtung Indonesien. Dort wird er die nach ihm benannte Grenze entdecken, die die australische von der asiatischen Tierwelt trennt. Immerhin.

    Es sind vor allem diese entlang der historisch verbürgten Ereignisse erzählten Passagen, mit denen Anselm Oelze in "Wallace" überzeugt: Der junge Autor hat diese Szenen gekonnt verdichtet und macht sich darin als Erzähler den staunend-fragenden Forscherblick von Alfred Wallace auf die Welt zu eigen. All das wäre aber kaum mehr als historische Fleißarbeit, wenn Anselm Oelze in seinem Roman über die Figur des Nachtwächters Bromberg nicht noch eine zweite, reflexive Ebene eingezogen hätte.
    Posthume Nachhilfe im Glücklichsein
    Auf diese Weise wird Wallace’ Forscher-Existenz nicht nur rückblickend noch einmal rekapituliert, sondern die Beschäftigung mit dem verstorbenen Naturforscher spornt bei Oelze auch den verzauselten Nachtwächter Bromberg an, sein eigenes Leben zu überdenken. Und: Schließlich zu ändern. Bromberg beginnt, dem Entdeckungsreisenden Wallace posthum "Nachhilfe in Sachen Glück" zu erteilen, in der festen Überzeugung, dass man der Wahrheit manchmal durch Fälschungen auf die Sprünge helfen muss.

    Im Antiquariat lässt er sich vorher erklären, wer dieser Wallace überhaupt gewesen ist, am Stammtisch hört er Freunden zu, wie sie über die ethischen Implikationen der von Wallace mitentdeckten Evolutionstheorie diskutieren:

    "'Ich wollte nicht sagen, dass alles per se gut ist. Vielmehr sind bestimmte Dinge für jemanden oder für etwas gut. Es mag uns Menschen dieses oder jenes gut oder schlecht, gerecht oder ungerecht erscheinen, aber aus Sicht der Evolution gibt es diese Kategorien nicht. Denn auch wenn sie alles von den stumpfsinnigsten Einzellern bis zu den intelligentesten Lebewesen hervorgebracht hat, so weiß sie selbst nicht, was sie tut. Es gibt für sie kein schlecht oder gut.'
    'Richtig!', rief Severin. 'Im Casino der Evolution, sagte meine Biologielehrerin immer, gibt es nur eine gültige Währung: das Überleben! Wer also nicht zahlen kann oder nicht zahlen will, ist raus. Und übrigens, Renzel, wenn du für Gerechtigkeit sorgen möchtest: Ich wüsste keinen besseren Mechanismus als den des Wettbewerbs. Im Wettbewerb können alle antreten und sich beweisen.'"
    Im Casino der Evolution gibt's kein Gut und kein Böse
    Ausgehend vom "Casino der Evolution" böte sich tatsächlich ein prächtiger Blick auf unsere optimierungsversessene, Wettbewerbs-gläubige Gegenwart. Doch Gesellschaftskritik, wenn sie von Oelze denn überhaupt beabsichtigt ist, wird in "Wallace" allenfalls abstrakt formuliert. Wenn der Autor sich hier in der Gegenwart aufhält, wird meist nur über die Vergangenheit gesprochen. Oder genauer: Es wird referiert. Ein langjähriger Bekannter des Haupthelden Bromberg ist der kauzige, mit Wissen angefüllte Antiquar Schulzen, der dem Nachwächter dann von Wallaces Entdeckung der Evolutionstheorie in einer malariafiebrigen Nacht berichtet. Er erzählt von dem Brief, den Wallace an Darwin schrieb. Und natürlich auch davon, dass Darwin hastig mit seiner Theorie an die Öffentlichkeit ging, als ihm klar wurde, dass Wallace zu ähnlichen Erkenntnissen gelangt war.
    Das ist für das Verständnis der historischen Handlung zweifellos unverzichtbar. Im Kontrast mit den überaus lebendig geschilderten Szenen aus Wallaces Leben aber wirken diese Vorträge arg pädagogisch und dramaturgisch ungelenk. Um diese Fülle an Stoff anders und literarischer in den Griff zu bekommen, hätte es wohl deutlich mehr gebraucht als die gut 260 Seiten, auf die Oelze seine Geschichte verknappt hat.
    Dennoch: Sich zu viel vorgenommen zu haben – das kann man nun wirklich nicht vielen Debütanten attestieren. Und erzählen kann Anselm Oelze. Sein erster Roman lässt für die Zukunft also einiges erwarten, auch wenn er nicht durchweg gelungen ist.
    Anselm Oelze: "Wallace"
    Schöffling & Co, Frankfurt a. M. 264 Seiten, 22 Euro.