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Anthony Burgess: "Jetzt ein Tiger"
Im Niemandsland zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Anthony Burgess kam mit dem dystopischen Roman "A Clockwork Orange" zu Weltruhm, auch wegen der Verfilmung durch Stanley Kubrick. Mit "Jetzt ein Tiger" kann man eine andere Seite des Erfolgsautors kennenlernen - der Roman zeigt Burgess als großen Humoristen und Humanisten.

Von Tanya Lieske | 21.06.2019
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Der titelgebende Tiger von Anthony Burgess' Debüt ist kein Tier, sondern ein Bier (Buchcover Elsinor Verlag; Autorenportrait imago / SophiexBassouls / Leemage)
Stellen Sie sich vor, Sie säßen in einem Auto mit fragwürdiger Federung und mit deutlich defektem Motor. Sie durchqueren während des Monsuns einen Dschungel, in dem bewaffnete chinesische Kommunisten im Hinterhalt liegen. Ihre Reisegefährten sind ein trunksüchtiger übergewichtiger Leutnant aus dem Punjab sowie ein melancholischer britischer Lehrer samt Ehefrau. Am Steuer ein Muslim in britischen Diensten, er ist ein schlechter Fahrer, und er verehrt die weiße Frau auf dem Rücksitz. Willkommen im Staat Malaya in den 1950er Jahren. Wohin die Reise geht? Das ist nicht so wichtig, denn die Reisenden werden ohnehin zu spät kommen. Was gesagt wird? Auch nicht so wichtig. Die vier sprechen mehrere Sprachen, aber keine ist ihnen gemeinsam.
",Jetzt geht's zur Sache', sagte Nabby Adams. ,Pech gehabt, wenn man so will. Bei Regen kommen die Terroristen nicht oft raus. Hier hätten wir den Regen gebrauchen können, nicht da hinten.' Fenella verspürte Übelkeit. Keine Furcht, nur Übelkeit. Übelkeit von der Autofahrt, Übelkeit von einem leichten Fieber. Aber sie konnte nicht um einen Stopp bitten, nicht jetzt, noch nicht. Allerdings hielt Alladad Khan gerade als Antwort auf ein langes Stück Urdu von Nabby Adams den Wagen an... ,Soll der da die Knarre nehmen', sagte Nabby Adams. ,Die Knarre gehört ihm. Soll er sie auch benutzen, wenn er muss.'"
Nabby Adams und Alladad Khan, die beiden Polizisten in britischem Dienst, und das Ehepaar Victor und Fenella Crabbe - sie sind eine Schicksalsgemeinschaft auf Zeit. Jeder von ihnen hat einen Kummer, den er vor den anderen verbirgt. Noch heißt das Land, in dem sie einander begegnen, Malaya und ringt um seine Staatsform. Die japanischen Besatzer sind abgezogen, chinesische Kommunisten führen einen Guerrillakrieg im Dschungel. Die Briten sind da, um beim Aufbau der Demokratie zu helfen, eigentlich. Doch in der Polizeikaserne ist bröckelnder Putz ist an die Stelle ehemaliger Größe getreten.
Ein turbulentes Land
Die Bevölkerung des künftigen Staates Malaysia setzt sich aus den einheimischen Malaien, aus Sikhs, Tamilen und Bengalen zusammen. Der Islam überdeckt nur dürftig eine ältere animistische Religion, weshalb es in diesem Roman etliche, meist männliche Figuren gibt, die ständig in der Angst leben, dass ihr Bildnis von rachsüchtigen Frauen mit Nadeln zerstochen wird – Alladad Khan ist einer von ihnen. Hin und wieder erzeugt der Erzähler leuchtende Standbilder, in denen deutlich wird, wie sehr Anthony Burgess, der genau wie seine Figur Victor Crabbe mehrere Jahre lang in Malaya als Lehrer gearbeitet hat, diesem turbulenten Land und seinen abergläubischen Bewohnern zugetan war. Hier eine abendliche Straßenszene:

"Junge Chinesinnen trippelten in Schwesternschaften daher, frisch, delikat, die cheongsams bis zu den dünnen Oberschenkeln geschlitzt. Ein halb nackter Tamile schleppte einen toten Fisch. Freimütig lächelne chettiars in dhotis unterhielten sich aufgeregt und fuchtelten mit geldverliebten Armen. Runzlige chinesische Patriarchen harkten in ihren Hälsen nach Schleimresten. Ein wahrsagender Sikh schlug mehrfach auf die Handfläche seines Kunden. Verkäufer von sateh – Stücke von Kutteln und Leber auf Spießen – atmeten den Dunst ihrer Feuer. Über allem hing der faulige, aufregende Geruch von Durian, denn dies war die Durianzeit."
"Jetzt ein Tiger", 1956 erschienen, ist der erste Roman von Anthony Burgess. Der dachte damals noch nicht daran, Schriftsteller zu werden. Das erklärt sowohl die Opulenz als auch die Leichtigkeit des Romans. Burgess musste niemandem etwas beweisen, und er scheint nichts gewollt zu haben, außer die enorme Leuchtkraft seiner Erfahrung feszuhalten. Burgess hatte großes musikalisches und sprachliches Talent, er beherrschte viele europäische Sprachen und lernte schnell die Landessprache Malai. Neben dem Urdu, das Nabby Adams und Alladad Khan sprechen, gibt er das gebrochene Englisch der Einheimischen wieder und die vielen kolonialen Dialekte der anwesenden Briten. Figuren sprechen im, Zitat, "Northumberland-Singsang" oder im "Cockney Englisch eines Londoner Juden". Das Ergebnis ist ein sprachliches Babel, in dem kleine Missverständnisse gerne zu großen Dramen werden. Das ist so komisch wie klangvoll. Man möchte diesen Roman schütteln in der vagen Hoffnung, dass er selbst anfinge zu singen und zu klingen. Seinen eigenen sprachlichen Genius hat Anthony Burgess ausgerechnet dem trunksüchtigen Nabby Adams mit auf den Weg gegeben.
"Nabby Adams spürte, wie sich seine Nackenmuskeln anspannten. Etwas an der bloßen Beschaffenheit dieser unreinen Vokale drosch auf seine Nerven ein. Er sagte nichts. Vorpal hatte die Marotte, seinen Äußerungen ein malaiisches Enklitikon anzuhängen. Auch dieses konnte einen ärgern, besonders morgens. Es ärgerte Nabby Adams, dass es ihn ärgerte."
Fast prophetische Klarsicht
Der indische Leutnant Nabby Adams ist ein angeblich trockener Alkoholiker, und er ist die heimliche Hauptfigur dieses Romans. "Jetzt ein Tiger", der Titel dieses Romans, bezieht sich also nicht auf die Raubkatze, sondern auf eine Marke Bier, die noch heute in Asien getrunken wird. Die Suche nach der nächsten Flasche Tiger zwingt Nabby Adams zu Lügen und Tricksereien, die seiner stillen und granteligen Würde eigentlich widerstreben. Und sie führt zu Missgeschicken, die dem Prinzip der komischen Reihung folgen. Nabby Adams' Begegnungen mit Vorgesetzten bieten dem Autor zudem reichlich Gelegenheit, die brutalen kolonialen Allüren seiner Landsleute aufs Korn zu nehmen. In fast prophetischer Klarsicht, möchte man sagen, denn in den 1950er Jahren konnte man noch nicht davon ausgehen, dass das Empire zerfallen würde. In der folgenden Szene lässt sich Nabby Adams in einem eigentlich den weißen Herren vorbehaltenen Club ein Bier ausgeben:
"Nabby fühlte sich unwohl. Er musste hier raus. Er konnte Hart nicht austehen und Rivers, typischer Ex-Soldat und jetzt Plantagenbesitzer oben an der Straße nach Tahi Panas, ging ihm verdammt nochmal auf die Nerven.
,Bin ich froh, wenn ich hier weg bin', grübelte Rivers. ,Den ganzen Tag Kulis, Idioten und verdammte Schwachköpfe, und nicht mal hier im Club hat man seine Ruhe vor ihnen. Bei der Armee bin ich gut mit ihnen fertig geworden. Zehn Tage kein Sold. Mit voller Montur im Laufschritt um den Platz.'
,Das war in Afrika, oder?', sagte Gurney. ,Ist ein kleiner Unterschied oder, weißt du.'
,Die sind alle gleich', sagte Rivers. ,Nigger. Schwarzes Pack.'"
Auch wenn es wie eine Plattitüde klingt - hier ist der viel gepriesene britische Humor anzutreffen, das schönste Überbleibsel dieser einst so mächtigen Weltmacht. Die noch tiefer liegende Haltung, und hier ist eher Burgess am Werk als seine Erzählstimme, ist seine profunde Menschenkenntnis. Genau wie Nabby Adams stecken die Figuren dieses Romans fest im Niemandsland zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Ihnen allen wird durch einen Zufall geholfen, der sich nur durch ihre kleine Gemeinschaft auf Zeit ergeben kann. All das verbindet sich mit einer großen und sinnlichen Fabulierlust, die die Leser diese Romans mitnimmt in den Orient. Man darf sich verbeugen vor Anthony Burgess, den man hier als großen Humoristen und Humanisten kennenlernen darf. Dem Übersetzer Ludger Tolksdorf gebührt ein Kompliment für die deutsche Fassung dieses virtuosen und polyphonen Stücks Literatur.
Anthony Burgess: "Jetzt ein Tiger"
Aus dem Englischen von Ludger Tolksdorf
Elsinor Verlag, Coesfeld. 232 Seiten, 26 Euro.