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Anthony Doerr
Zwei junge Menschen und die Folgen des Krieges

Anthony Doerr erzählt in seinem Buch "Alles Licht, das wir nicht sehen" zwei Bildungsgeschichten des Zweiten Weltkriegs: Marie-Laure lernt trotz Verlust des Augenlichtes, sich in der Welt zurechtzufinden. Werner hingegen wird in der Hitlerjugend bis zur völligen Verblendung indoktriniert. Das Bindeglied zwischen den beiden - das Radio.

Von Hubert Spiegel | 24.05.2015
    Anthony Doerr läuft durch Saint Malo.
    Anthony Doerr hat die Geschichte seines Romans "Alles Licht, das wir nicht sehen" zum Teil im französischen Saint Malo angesiedelt. (picture alliance / dpa - Philippe Renaul)
    Eine kleine Französin aus Paris, zart, sommersprossig und seit ihrem 6. Lebensjahr erblindet, und ein deutscher Elite-Nazi, aufgewachsen als Waisenjunge im industriellen Kernland des "Dritten Reiches", dem Ruhrgebiet mit seinen Zechen, Hochöfen und Waffenschmieden, klingt das nach einer romantischen Liebesgeschichte mit einem überzeugenden Liebespaar? Wohl kaum. Dennoch hat sich Anthony Doerrs Roman "Alles Licht, das wir nicht sehen" in Amerika mehr als eine Million Mal verkauft. In Deutschland hingegen, wo der Roman kurz vor Weihnachten letzten Jahres erschien, ist der große Erfolg ausgeblieben. Schlimmer noch, der amerikanische Bestseller, der mit angesehenen literarischen Auszeichnungen überhäuft wurde und zuletzt sogar den Pulitzer-Preis erhalten hat, blieb hierzulande nahezu unbemerkt: kaum Rezensionen, kaum Nachfrage in den Buchhandlungen. Amerika schickt einen Überraschungserfolg, den "unerwarteten Buchmarkt-Knaller des Jahres 2014", wie die "New York Times" schrieb, nach Deutschland, aber Deutschland zeigt keinerlei Reaktion. Funkstille. Wie ist das zu erklären? An mangelnder literarischer Qualität kann es jedenfalls nicht liegen. Eines sei vorweg gesagt: Es passiert selten, dass ein Buch dieser Güteklasse hierzulande so wenig Aufmerksamkeit findet. Kein Zweifel, wir haben uns bislang etwas entgehen lassen.
    Erst nach 460 von insgesamt 517 Seiten lässt Anthony Doerr seine beiden Hauptfiguren zum ersten Mal aufeinandertreffen. Die Umstände an diesen Augusttagen des Jahres 1944 könnten dramatischer kaum sein: Die blinde Marie-Laure, gerade 16 Jahre alt, ist allein im Haus ihres über Nacht verschwundenen Großonkels Etienne zurückgeblieben. St. Malo, die alte Korsarenstadt an der bretonischen Küste, ist von der deutschen Wehrmacht besetzt, die ihrerseits vor den mit immer größerer Macht anbrandenden Alliierten mit ihren Bombergeschwadern zurückweichen muss. In einem der vielen zerbombten Häuser der Stadt ist der 18-Jährige deutsche Wehrmachtsangehörige Werner Hausner verschüttet.
    Das blinde Mädchen ist in größter Gefahr, und dies beileibe nicht nur, weil noch immer Bomben auf St. Malo fallen. Der junge Funktechniker Hausner scheint bereits verloren, er ist zusammen mit zwei anderen Soldaten seiner Spezialeinheit unter den Trümmern lebendig begraben. Das ist die Ausgangssituation des Romans, der nun in zahlreichen Rückblenden die Vorgeschichte seiner Hauptfiguren erzählt und dabei begründen muss, warum Marie-Laure und der junge Deutsche, die sich nicht kennen, sich nie gesehen haben und die scheinbar nichts miteinander verbindet außer dem unsichtbaren Licht der Radiowellen, nach 460 Seiten aufeinandertreffen, als habe es gar nicht anders kommen können, als wären sie für einander bestimmt.
    Anthony Doerr, der 1973 in Cleveland geboren wurde, ist ein raffinierter Dramaturg, der weiß, wie man eine Handlung anlegt und entfaltet, wie man Spannungsbögen aufbaut, Leitmotive verknüpft, Signale setzt, die nach mehreren hundert Seiten plötzlich wieder zu blinken beginnen wie längst erloschen geglaubte Leuchtfeuer vor der bretonischen Küste. Er ist kein naturwüchsiger, kein überbordender Erzähler, sondern ein Konstrukteur, der einen gut durchdachten Plan verfolgt, ein Feinmechaniker des Plots, wenn man so will. Doerr, der 2002 mit dem Erzählungsband "Der Muschelsammler" debütierte und zwei Jahre später mit "Winklers Traum vom Wasser" seinen ersten Roman veröffentlichte, entwickelt seine Geschichte wie ein Schachspieler: Er weiß, dass unendlich viele Züge möglich, aber nur die wenigsten darunter auch gute Züge sind. Doerrs klügster Spielzug war es, Teile dieses Romans immer wieder im Äther anzusiedeln, im unsichtbaren Reich des Radios, das viele Jahrzehnte vor der Erfindung des Internets gigantische Entfernungen überbrückte und Menschen miteinander verband, die nachts im magischen Licht ihrer Leuchtskalen Frequenzen studierten:
    "Verona 65, Dresden 88, London 100. Rom, Paris, Lyon. Die Kurzwelle ist bei Nacht ein Land der Wanderer und Träumer, der Irren, Schwätzer und Prediger."
    Das Buch ist in 13 Großkapitel unterteilt, die ihrerseits aus zahlreichen kurzen, meist nur zwei oder drei Seiten langen Szenen bestehen. Doerr springt zwischen den Figuren und den Zeitebenen hin und her, und in der ersten Hälfte des Romans wirkt das nicht immer sehr motiviert. Das hängt vor allem damit zusammen, dass dieses Buch nicht wenig Ballast zu bewältigen hat. Doerr muss sein Figurentableau ausbreiten, einen Zeitraum von insgesamt 40 Jahren überspannen, eine Menge Fachwissen über die Funk- und Radiotechnik vermitteln, die innere Entwicklung der Hauptfiguren vorantreiben, eine Juwelenjagd inszenieren, den Übergang von den Krisenjahren der Weimarer Republik zum Aufstieg Hitlers und seiner Schlächter schildern, um sich dann den Kriegsjahren zu widmen. Werner und seine Spezialeinheit, deren Aufgabe es ist, Feindsender von Partisanen und Widerständlern aufzuspüren und zu vernichten, werden in Russland, Polen, der Ukraine, Österreich und zuletzt in St. Malo eingesetzt, wo Marie-Laure und ihr Großonkel Etienne sich schließlich der Resistance angeschlossen haben. Weitere Schauplätze des Buches sind Essen, Paris, Schulpforta und Berlin. Der "New York Times" fielen gleich etliche Gründe ein, die dagegen sprachen, dass dieses Buch Erfolg haben würde. Die Wichtigsten lauteten: Doerrs Roman spielt nicht in Amerika, sondern in Europa, er handelt vom Zweiten Weltkrieg, aber nicht aus amerikanischer Sicht, und seine männliche Hauptfigur ist ein junger, durchaus sympathischer Nazi. Dieser Werner Hausner ist ein todbringender Spezialist einerseits, und ein sanftmütiger, in sich gekehrter Bursche von 17, 18 Jahren andererseits, der nur sehr langsam herausfindet, warum ihn das viele Blut an seinen Händen quält.
    Sechs der insgesamt 13 Hauptkapitel spielen im August 1944, als St. Malo von den Alliierten fast völlig zerstört wurde. Von den 865 Häusern der historischen Altstadt blieben nur 182 stehen, nicht ein einziges überstand die Bombenangriffe unversehrt, wie es noch vor dem Beginn des Romans in einem Zitat des Historikers Philip Beck heißt. Doerr beschreibt diese geheimnisvolle Küstenstadt auf dreifache Weise: mit den Augen der Sehenden, aus der Perspektive der blinden Marie-Laure, die Schritte und Kanaldeckel zählt, um sich orientieren zu können, und als Modell, als Miniaturstadt, die Marie-Laures Vater kunstvoll erbaut hat. In den eigenen vier Wänden, in Ruhe und Sicherheit, kann sich das Mädchen so alles einprägen: jede Straße, jede Kreuzung, jeden Winkel. Das Modell der Stadt, das der Kunstschlosser Daniel LeBlanc für sein blindes Kind, erschaffen hat, ist aber auch eine Metapher.
    Das Geheimnis des Stadtmodells
    Im Modell ist die Zeit angehalten, es ist eine Momentaufnahme der Stadt und ihrer mehr als 1.000-jährigen Geschichte. Es weiß nichts von den Zerstörungen, die St. Malo bevorstehen. Das aus Holz errichtete St. Malo en Miniature hat aber noch eine weitere Funktion: Es birgt ein Geheimnis, denn es dient als Versteck für einen unendlich kostbaren Gegenstand, der zu Beginn des Romans noch in Paris aufbewahrt wird, im Muséum national d'Histoire naturelle.
    "Marie-Laure LeBlanc ist eine große, sommersprossige Pariser Sechsjährige mit schnell abnehmendem Sehvermögen, als ihr Vater sie auf eine Kinderführung durch das Museum schickt, in dem er arbeitet. Der Führer zeigt ihnen einen Achat aus Brasilien, violette Amethyste und einen Meteoriten mit winzigen weißen Einschlüssen, der auf einem Sockel liegt und, so heißt es, so alt wie das Sonnensystem selbst ist. Anschließend führt er sie im Gänsemarsch zwei Wendeltreppen und verschiedene Korridore hinunter und bleibt vor einer Eisentür mit einem einzelnen Schlüsselloch stehen. "Das ist das Ende der Führung", sagt er.
    Ein Mädchen fragt: "Und was ist hinter der Tür da?"
    "Hinter dieser Tür ist eine andere, verschlossene, etwas kleinere Tür."
    "Und was ist hinter der?"
    "Eine dritte verschlossene Tür, die wiederum etwas kleiner ist."
    "Und dahinter?"
    "Eine vierte Tür, und eine fünfte, und so geht es immer weiter, bis zur 13., die ebenfalls verschlossen und nicht größer als ein Schuh ist."
    Die Kinder beugen sich vor. "Und dann?"
    "Hinter der 13. Tür, sagt der Führer und fährt mit seinen unglaublich faltigen Händen durch die Luft, "liegt das Meer der Flammen"."
    Diese Szene im Naturhistorischen Museum in Paris spielt im Jahr 1934. Marie-Laures Vater ist Kunstschlosser und im Museum der Herr über alle Schlüssel und Schlösser. Sechs Jahre und 150 Seiten später ist Paris von der Wehrmacht besetzt. Der deutsche Stabsfeldwebel Reinhold von Rumpel steht vor einem Tresor in den Lagerräumen des Museums und zwingt dessen Direktor, ihn zu öffnen. Von Rumpel ist Kunstkenner und im Auftrag Hitlers unterwegs, um die größten Schätze der Menschheit für das geplante Führermuseum in Linz zusammenzuraffen. Vor allem aber ist von Rumpel Experte für Edelsteine und besessen von der Jagd nach dem legendären Diamanten, der als "Das Meer der Flammen" bezeichnet wird: 133 Karat schwer, unermesslich kostbar, von blendender Schönheit und der Legende zufolge mit einem schrecklichen Fluch beladen. Wer ihn besitzt, erlangt ewiges Leben, lenkt aber das Unglück auf alle Menschen, die ihm nahestehen.
    Als die deutschen Truppen auf Paris zumarschieren, lässt der Museumsdirektor drei Kopien des Juwels anfertigen und schickt seine besten Leute in die entferntesten Winkel des Landes. Keiner von ihnen weiß, ob ihm das Original oder eine Kopie anvertraut wurde. Daniel LeBlanc flüchtet mit dem Stein und seiner Tochter zu Verwandten nach St. Malo. Als er dort für sein Modell die Straßen ausmisst, Schritte zählt, Kanaldeckel notiert, wird er von einem französischen Kollaborateur für ein Mitglied der Resistance gehalten, denunziert und in ein deutsches Lager deportiert. Seine verzweifelte Tochter bleibt allein mit ihrem Großonkel und einer alten Haushälterin zurück in der Altstadt, in dem schmalen hohen Haus in der Rue Vauborel 4, das Onkel Etienne seit Jahrzehnten nicht mehr verlassen hat: ein zartes, zitterndes Nervenbündel, traumatisiert und gejagt vom Schrecken und den Gespenstern der Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs.
    Deutsche Seite des Buches
    Paris, St. Malo, Kollaboration und Resistance, das ist die französische Seite des Romans: Phantasievoll, melodramatisch, mit Figuren, die ehrenvoll handeln und einander in Liebe zugetan sind. Auf der deutschen Seite sieht das anders aus: Werner Hausner wächst zusammen mit seiner jüngeren Schwester Jutta in einem Waisenhaus auf, das auf dem Gelände der Zeche Zollverein steht, wo der Vater der Kinder unter Tage ums Leben kam. Werner zeigt sehr früh eine außergewöhnliche technische Begabung, von klein auf ist er ein Homo Faber, einer der baut und schraubt, analysiert, konstruiert, improvisiert. Ein Macher, kein Denker. Seine Visionen beziehen sich auf Schaltkreise und elektromagnetische Schwingungen. Das Licht, das wir nicht sehen und von dem der Titel des Romans spricht, das ist, zumindest soweit es Werner betrifft, das Licht der Radiowellen, deren Frequenzen sich außerhalb des menschlichen Wahrnehmungsvermögens bewegen. Werners Begabung liegt darin, dass er die Bewegungen dieser unsichtbaren Wellen rekonstruieren und nachvollziehen kann. Schon als kleiner Junge repariert er die Volksempfänger in der Nachbarschaft, ohne jedoch zu begreifen, dass es sich beim Rundfunk um das wichtigste Propagandainstrument der Nazis handelt.
    "Das Radio bindet Millionen von Ohren an einen einzigen Mund. Aus den Lautsprechern überall auf dem Gelände der Zeche Zollverein wächst die Stakkatostimme des Reichs wie ein unerschütterlicher Baum, und die Untertanen beugen sich zu seinen Ästen hin, als wären es die Lippen Gottes. Und wenn Gott aufhört zu flüstern, suchen sie verzweifelt nach jemandem, der den Defekt zu reparieren weiß."
    Marie-Laure kann die Welt, in der sie lebt, nicht sehen, Werner ist in der Welt des Unsichtbaren zuhause. Anthony Doerr erzählt zwei Bildungsgeschichten, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Während Marie-Laure ihr Augenlicht verliert, aber mithilfe ihres Vaters lernt, sich dennoch in der Welt zurechtzufinden, wird Werner in der Hitlerjugend indoktriniert bis zur völligen Verblendung. Aus dem geliebten Radio dringen nun immer unheilvollere Klänge:
    "Um uns ist heute eine bewegte Zeit. Aber wir klagen nicht. Zu kämpfen sind wir gewohnt, denn aus dem Kampf sind wir gekommen. Kann es da wundernehmen, dass Mut, Vertrauen und Zuversicht in zunehmendem Maße im ganzen deutschen Volk wieder Einkehr gehalten haben? Muss nicht aus dieser Glut der Opferbereitschaft auch wieder für das ganze Volk die Flamme einer neuen Gläubigkeit emporschlagen?"
    Auch Werner soll nun Opferbereitschaft lernen. Seine ungewöhnliche Begabung lässt die Nazis auf ihn aufmerksam werden und der Junge kommt zur Napola, zur Nationalpolitischen Erziehungsanstalt, nach Schulpforta. In dieser Kaderschmiede lernt er die Erziehungsziele der Nationalsozialisten kennen und muss mitansehen, wie ein pervertiertes Elitedenken, Menschenverachtung und Kadavergehorsam jene widerwärtige Mischung eingehen, die zu den Fundamenten des NS-Staates gehörte. In Schulpforta werden Schüler geschunden und darauf abgerichtet, die Schwächen ihres Gegenübers aufzuspüren und auszunutzen. Es ist eine Gemeinschaft, die auf Gewalt und Zerstörung aus ist. Frederick, sein einziger Freund in der Napola, wird zum Opfer der Meute, und Werner fängt an, zu begreifen, dass Verrat kein aktiver Vorgang sein muss. Auch wer nicht handelt, kann sich schuldig machen.
    "Alles Licht, das wir sehen" ist ein Roman, der nach der Moral seiner Figuren fragt, ein romantisches Buch mit Passagen voller Poesie, eine Kriegs- und Abenteuergeschichte und ein Schmöker, von dem Anthony Doerrs amerikanischer Schriftstellerkollege William T. Vollmann sagte, er habe ihm den Schlaf geraubt, weil er eine halbe Nacht hindurch gelesen habe, ohne aufhören zu können. Vollmann, ein literarisches Schergewicht, Jahrgang 1959 und somit 14 Jahre älter als Anthony Doerr, hat mit "Europe Central" vor zwei Jahren selbst einen von der Kritik gefeierten Roman über den Zweiten Weltkrieg geschrieben, der allerdings weitaus komplexer ist als das Buch seines Kollegen, das er für die "New York Times" rezensiert hat. In seiner ein wenig herablassenden Besprechung lobt Vollmann zwar den Plot, die Gestaltung der beiden Hauptfiguren Werner und Marie-Laure, die poetische Kraft vieler Passagen und die Pageturner-Qualitäten des Romans, bemängelt aber, dass Frederick, Werners Freund, leblos bleibe: eine Märtyrerfigur aus Papier. Noch vernichtender fällt sein Urteil über den beharrlichen Diamantenjäger von Rumpel aus, der indes keineswegs so lächerlich ist, wie sein Name vermuten lassen könnte.
    Darstellung des SS-Offiziers
    Hollywood hat jahrzehntelang das Klischee des brutalen, aber geistig beschränkten und oft lächerlichen NS-Offiziers bevorzugt. Von Rumpel gehört wie der von Christoph Waltz in Tarantinos Film "Inglorious Basterds" verkörperte SS-Offizier Hans Landa zu einem anderen Typus: gebildet, diabolisch, besessen, äußerst brutal, ohne selbst ein Freund körperlicher Gewalt zu sein, durch und durch bösartig, zweifellos wahnsinnig, aber höchst effizient. Dass er hinkt, lässt an den Teufel denken, ist aber eine Folge des Krebstumors, der in seiner Leistengegend wuchert. Für den Todkranken ist die Suche nach dem Edelstein, der ewiges Leben schenken soll, bald schon wichtiger als alles, was das Führermuseum in Linz jemals versammeln könnte.
    Von Rumpel ist ein kaltes, krankes Hirn des Bösen, das noch die kleinste Spur verfolgt, die zum Meer der Flammen führen könnte. Nach zwei Jahren der Suche betritt er die seit Langem leer stehende Wohnung des verschwundenen Museumsangestellten LeBlanc. Er weiß nichts über den Mann, aber er hat ihn in Verdacht, mit dem echten Diamanten irgendwo in Frankreich untergetaucht zu sein. Jetzt sieht er sich um.
    "Auf einer Werkbank stehen winzige Bänke, winzige Laternen, winzige Trapeze aus poliertem Holz. Eine kleine Schraubzwinge, eine Schachtel kleine Nägel, Leimflaschen, die längst ausgetrocknet sind. Neben der Werkstatt, unter einem Tuch, eine Überraschung: ein detailliertes Modell des 5. Arrondissements. Ein Spielzeug?
    In einem Schrank hängen ein paar mottenzerfressene Mädchenkleider und ein Pullover, auf dem sich aufgestickte Ziegen an Blumen gütlich tun. Verstaubte Kiefernzapfen liegen auf der Fensterbank, nach Größe sortiert. In der Küche sind raue Streifen auf den Holzboden genagelt. Es ist ein Ort stiller Disziplin, von Ruhe und Ordnung. Ein einzelner Zwirnsfaden führt vom Tisch zum Bad, der Uhr fehlt das Glas vorm Zifferblatt, doch erst, als er die drei großen spiralgebundenen Jules-Verne-Bücher in Blindenschrift findet, löst sich das Rätsel für ihn.
    Ein Tresorbauer. Ein brillanter Schlosser. Wohnt in fußläufiger Entfernung vom Museum. Hat sein Leben lang dort gearbeitet. Bescheiden, kein sichtbares Streben nach Wohlstand. Eine blinde Tochter. Hat viele Gründe, seinem Arbeitgeber treu zu sein. "Wo versteckst Du dich?", sagt er laut ins Zimmer. Staub wirbelt durch das merkwürdige Licht."
    Von Rumpel ist für die Abenteuergeschichte zuständig, die in diesem Roman steckt. Er treibt die Spannung voran, weil er Marie-Laure immer näher kommt, während Werner verschüttet in einem Keller auf Rettung hofft. Aber woher weiß Werner überhaupt, dass das Mädchen in Gefahr ist? Und wie hat er sie kennengelernt?
    Bindeglied Radio
    Hier zeigt sich Doerrs ganze Kunstfertigkeit. Das Bindeglied ist natürlich das Radio. Als Kinder auf Zollverein - im Ruhrgebiet heißt es "auf Zollverein", nicht "im Zollverein", wie der sonst tadellose Übersetzer Werner Löcher-Lawrence mehrfach schreibt, - als Kinder auf Zollverein also haben Werner und seine Schwester Jutta zufällig die Sendungen eines französischen Wissenschaftlers gehört, der Kindern die Welt erklärt und zum Abschluss wunderbare Melodien durch den Äther schickt. Hinter dem vermeintlichen Professor stecken jedoch Etienne und sein gefallener Bruder, die die Aufnahmen gemacht haben, als sie selbst noch jung waren. Der alte Etienne sendet diese Aufnahmen später noch einmal. Er schickt sie hinaus in die Welt, ins Nichts und ins Jenseits zu seinem toten Bruder. Zusammen mit Marie-Laure nimmt er die auf dem Dachboden des Hauses in der Rue Vauborel versteckte Sendeanlage dann noch einmal in Betrieb, um Nachrichten nicht nur der Resistance, sondern auch von Privatleuten zu übermitteln. Das Radio wird zum Instrument des Widerstands, der Subversion und der klandestinen Kommunikation: ein soziales Netzwerk avant la lettre unter den Bedingungen einer Diktatur. Vielleicht ist dies auch einer der Gründe für den großen Erfolg des Romans in Amerika: Doerr erzählt eine Mediengeschichte, die privat und politisch zugleich ist und in einer Zeit spielt, in der Kommunikation über große Entfernungen hinweg, anders als heute, nicht zum Alltag gehörte, wohl aber die Bespitzelung und der Verrat, der das Leben kosten konnte. In diesen Zusammenhang gehören auch die von der NS-Zensur weitgehend geschwärzten Briefe von Jutta und Werner, die Doerr immer wieder einstreut. Die Briefe, die Marie-Laure von ihrem Vater erhält, sind hingegen ungeschwärzt, denn es handelt sich um Fälschungen der Nazis, um Dokumente gezielter Desinformation.
    Doerrs Autorenkollege William T. Vollmann hat auf die Parallelen des Romans zu dem Stasi-Film "Das Leben der anderen" hingewiesen, man sollte aber auch an Marcel Beyers Roman "Flughunde" erinnern, der die Geschichte des genialischen Tontechnikers Hermann Karnau erzählt, den der Propagandaminister Goebbels in seine persönlichen Dienste nimmt. Doerrs Hausner ist ein zweifellos ein enger Verwandter von Beyers Karnau, dessen diabolischen Dienstherrn Joseph Goebbels Anthony Doerr mit einem Zitat zu Wort kommen lässt, das dem Roman vorangestellt ist:
    "Ja, man kann, ohne zu übertreiben sagen, dass die deutsche Revolution sich mindestens nicht in den Formen, in denen sie sich abgespielt hat, hätte abspielen können, hätte es kein Flugzeug und keinen Rundfunk gegeben."
    Aber die Nazis sollen nicht das letzte Wort behalten. Der Roman endet mit zwei Zeitsprüngen in die Jahre 1974 und 2014. Marie-Laure, die als Kind so gern Jules Vernes Roman "Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer" gelesen hat, ist Großmutter geworden, aber Werner ist nicht der Vater ihrer Tochter. Die unmögliche Liebesgeschichte, die sich zwischen ihr und Werner anzubahnen schien, findet kein kitschig-glückliches Ende. Werner hat sich schuldig gemacht, und Doerr lässt ihn diese Schuld büßen. Seine Heldin ist Marie-Laure, das blinde Mädchen, das das sichtbare wie das unsichtbare Licht nicht sehen, sondern nur fühlen kann.
    Anthony Doerr: "Alles Licht, das wir nicht sehen", aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence, C.H. Beck.