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Anti-Barbie-Puppe
Einfach Durchschnitt

Aufgrund ihrer allzu "perfekten" Proportionen gerät die Barbie-Puppe immer wieder in die Kritik, die Verbreitung von Bulimie zu fördern. Mit "Lammily" kommt nun eine Anti-Barbie auf den Markt, die vor allem eine Botschaft übermitteln soll: Durchschnittsmaße sind toll. Doch in ihrem schlechten Ruf ist die Original-Barbie nicht weniger als ein Opfer ihrer modernen Rezeption.

Von Arno Orzessek | 24.11.2014
    Nicht nur Feministinnen werden jetzt natürlich frohlocken: Na, Gott sei dank!.. Endlich bekommt Barbie, diese busenreiche pornografische Männertraumpuppe mit den grotesk lebensfeindlichen Maßen, eine ordentlich geerdete Gegenspielerin, an der echte menschliche Makel haften.
    Gehören doch sogar Sticker für Akne, Cellulitis und Schwangerschaftsstreifen zur optionalen Ausstattung von Lammily.Doch gemach! Gutes Kinderspielzeug muss eines ganz gewiss nicht - es muss nicht realistisch sein. Eher im Gegenteil.
    Die Märchen-, Comic- und Filmfiguren, deren Plastik-Widergänger die Kinderzimmer bevölkern, stacheln den Möglichkeitssinn weit mehr an als den Wirklichkeitssinn und die Fantasie weit mehr als die nüchternen Geisteskräfte. Und das ist nach verbreiteter Auffassung auch gut so.
    Auch Barbie war einst eine emanzipatorische Fantasie-Figur
    Weshalb man die neue Puppe Lammily nicht schon darum feiern kann, weil der US-amerikanische Internet-Künstler Nickolay Lamm sie nach den Durchschnittsmaßen 19-jähriger Amerikanerinnen gestaltet hat. 68 Kilogramm bei 1,63 Meter - das ist, gelinde gesagt, recht moppelig und dürfte von medizinischer Seite kaum zur Nachahmung empfohlen werden.
    Tatsächlich kann man Lammily heute auf dem Puppen-Markt am ehesten aus ähnlich aufklärerischen Gründen begrüßen wie einst in den 1950er-Jahren Barbie. Denn Barbie - das unterschlagen ihre Verächter gern - war ursprünglich eine emanzipatorische Fantasie-Figur, die dem konservativen Herd- und Heimchen-Frauenbild ihrer Geburtsjahre radikal entgegenstand. Wer heute Barbies gebärunfähigen Supermodell-Körperbau kritisiert, vergisst leicht, dass die Puppe einst das Bild der Frau als williger Gebärmaschine konterkariert hat. Im Übrigen war Barbie ausweislich des frühen Puppen-Zubehörs selbstständig, weltläufig und hedonistisch - emanzipiert eben.
    Später wurde die Puppe einige Male ein bisschen umgemodelt, die Brüste schrumpften, ein paar Gramm Fett kamen hinzu - doch ihr Problem war, dass sich die Wahrnehmung ihres Luxus-Bodys und ihrer Losgelöstheit vom Alltagsgrau ins Gegenteil verkehrte. Zumindest bei jenen feministisch orientierten Kritikern, die in Barbie notorisch die frauenfeindlichen Hirngespinste machohafter Männer verwirklicht sahen.
    Kurz: Barbie, die 50er-Jahre-Emanze, wurde zur theoriefähigen Diskurs-Puppe und als solche ein Opfer ihrer modernen Rezeption. Wie viel Schaden die Frauen-Fiktion Barbie mit den übertragenen Maßen 99-46-84 in Kinderhirnen tatsächlich angerichtet hat und ob überhaupt, das lässt sich objektiv kaum feststellen. Wer indessen auf Nummer sicher gehen will, kann jetzt zu Lammily greifen, die - wie einst ihre ältere Schwester - ein klischeehaftes Welt-, Menschen- und Frauenbild unterläuft, nur ein ganz anderes: das manipulierte Bild der Frau in der Werbung, im Star-Kino, im Porno, in Hochglanz-Magazinen und so weiter.
    "Average is beautiful" - Durchschnitt ist schön - lautet der Werbe-Slogan für Lammily. Letztlich werden die Kinder in den USA entscheiden, ob sie diese Botschaft anziehend finden. Und amerikanische Eltern müssen sich überlegen, ob es pädagogisch wertvoll ist, Kindern Puppen zu schenken mit der impliziten Ansage: Schau her, dass bist Du in ein paar Jahren - hüftspeckbedroht, aber total normal!
    Auf einen Makel hätte Lammily aus feministischer Sicht indessen gut verzichten können: Nämlich, dass sie den verniedlichten Namen ihres Schöpfers trägt, der nun einmal ein Mann war.