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Anti-Roland-Koch-Rhetorik

Als im hessischen Landtagswahlkampf Roland Koch die Karte Jugendkriminalität zog, dachte alle Welt, er schafft mit diesem populistischen Thema den erneuten Wahlsieg. Roland Kochs Strategie ging nicht auf: Eine Reihe von Journalisten hielt ihm aktuelle kriminologische Befunde vor, nach denen die Zahl der Straffälligen eher sinkt, wenn statt auf Strafe auf Erziehung gesetzt wird. Micha Brumlik dokumentiert in dem von ihm herausgegebenen Band die Meinungen von zwölf Wissenschaftlern zu Thema Jugend und Kriminalität.

Von Sandra Pfister | 22.12.2008
    Claus Koch: Auf die Frage, wie gefährlich unsere Jugend ist, lässt sich dann nur die Antwort geben, dass sie so gefährlich ist, wie wir, die Erwachsenen, unseren Kindern gefährlich werden, besonders in ihrer frühesten und frühen Kindheit. Denn aufgewachsen in einem Niemandsland ohne positive Bindungserfahrungen werden Kinder gefährlich - zumeistens sich selbst gegenüber und, wenn sie älter werden, den anderen um sie herum.

    Claus Koch trägt nur zufällig den gleichen Nachnamen wie der hessische Ministerpräsident, seine Sicht auf die Welt ist aber diametral entgegengesetzt. Koch reiht sich ein in die Phalanx von zwölf Wissenschaftlern, die Micha Brumlik darum gebeten hat, Kochs Forderung nach härteren Strafen für jugendliche Gewalttäter auf den Prüfstand zu stellen.

    Zunächst gibt Brumlik selbst den Tenor des Buches vor: Härterer Strafvollzug führe weder dazu, dass weniger Leute rückfällig würden, noch bessere er die jungen Leute moralisch. Dasselbe Urteil verhängt er über den von Koch propagierten Warnschussarrest.

    Brumlik: Der Warnschussarrest - im angelsächsischen Bereich ist vom short sharp shock die Rede - greift nach allen kriminologischen Erkenntnissen nur bei bisher nicht als delinquent aufgefallenen Jugendlichen aus bürgerlichen Elternhäusern. Längere Haftstrafen werden in Deutschland indes bereits seit etwa zehn Jahren bis zum Überquellen der Jugendhaftanstalten verhängt, die Rückfallquoten liegen - nicht trotz, sondern wegen dieser Praxis - bei 71 Prozent. Doch ging es nie um das kriminalpolitisch Notwendige, sondern um eine Strategie kaltblütig geschürter Erregung.

    Roland Kochs Strategie ging nicht auf: Eine Reihe von Journalisten hielt ihm nicht nur aktuelle kriminologische Befunde vor, nach denen die Zahl der Straffälligen eher sinkt, wenn statt auf Strafe auf Erziehung gesetzt wird, Strafe also das letzte Mittel ist. Koch stolperte aber auch über seine eigene Inkonsequenz.

    Hajo Funke: Koch fordert zwar härtere Gesetze, so in der "taz" vom 9. Januar, sorgt aber in der Praxis dafür, dass straffällig gewordene Jugendliche keine Betreuung erhalten und so leichter zu Intensivtätern würden.

    Der Politologe Hajo Funke fasst treffend zusammen, warum der hessische Ministerpräsident mit seinem populistischen Feldzug für härtere Jugendstrafen und schnellere Abschiebung Schiffbruch erlitt: Wechselwähler stießen seine radikalen Ideen ab, und seine magere eigene Bilanz in der Verbrechensbekämpfung ließ ihn unglaubwürdig erscheinen.

    Hajo Funke: Roland Koch hat damit offenkundig in den Augen der Wahlbevölkerung Hessens seine eigene Niederlage produziert und geradezu zementiert, da nicht zuletzt aus seiner Rolle als polarisierender Kämpfer das Gegenbild eines integrierenden Landesvaters resultiert.

    Der Sammelband lässt es aber nicht bei der politischen Abrechnung bewenden. Der Kriminologe Joachim Kersten steuert einen in Deutschland oft unterbelichteten Aspekt zur Frage bei, was manche Jugendliche so gewaltbereit macht. Gerade die ausgegrenzten unter ihnen legten oft extremen Wert darauf, dass ihnen Respekt entgegengebracht werde - folgert er aus einschlägigen US-amerikanischen Studien. Auch, wenn diese nicht 1:1 auf Deutschland übertragbar sind, verfängt die Quintessenz: Nach den Regeln der Straße werde jede Spur von Missachtung als Aggression interpretiert und unmittelbar beantwortet - damit, dass der "Angreifer" "gedisst", niedergemacht wird.

    Joachim Kersten: Respekt ist für den, der ihn gezollt haben will, ein äußerst hochwertiges und gegenständliches Objekt: schwer erkämpft, leicht verloren, und es muss ständig gehütet und gepflegt werden. Der Code der Straße gibt den Rahmen ab für diese ständige Inspektion von "Respekt". Das Erscheinungsbild einer Person: Kleidung, und `Auftritt' sollen verdeutlichen, dass ein Maß an 'Respekt' selbstverständlich aufzubringen ist: Man wird als Respektsperson nicht angemacht, nicht "gedisst". Für den Vorwurf und die Ahndung des "dissing" gibt es den Code mit seinen Straßenregeln, es gelten weder Grundgesetz noch die Menschenrechte oder das Bürgerliche Gesetzbuch.

    Härtere Strafen richteten hier wenig aus, folgert Kersten, im Gegenteil:

    Das Gefängnis ist keine Katastrophe, es zählt wie eine Promotion, es steigert meinen Status, meine Reputation auf der Straße. Außerdem sind meine Kumpels schon dort, und wir halten zusammen und kontrollieren die Knastökonomie.

    Der erhellendste Beitrag zur Jugendkriminalität steht zugleich wie ein Pflock in der Integrationsdebatte. Er stammt aus der Feder der Kriminologen Dirk Baier und Christian Pfeiffer: Sie fassen die Gruppe ins Auge, die in populistischen Diskussionen am häufigsten als gewaltbereit geschildert wird: Deutschtürken der zweiten oder dritten Generation. Die Schülerbefragungen von Baier und Pfeiffer belegen, dass junge türkische Männer tatsächlich ein höheres Risiko tragen, straffällig zu werden. Sie werden häufiger als andere von ihren Eltern körperlich oder verbal misshandelt, haben wenig deutsche Freunde und - eine nicht ganz unwesentlicher Nebenaspekt - selten ein eigenes Zimmer.

    Baier - Pfeiffer: Türkische Jugendliche erweisen sich als sozial-strukturell benachteiligt, sie sind am stärksten gewaltorientierten Männlichkeitskultur verhaftet und ihre sozialen Netzwerke sind besonders häufig von delinquenten Kontakten geprägt.

    Die soziale Prägung der Deutschtürken ist hausgemacht - familiär und gesellschaftlich - und vieles daran lässt sich ins Positive wenden, wenn den jungen Türken Mentoren oder Konfliktlotsen zur Seite gestellt werden. Das veranschaulichen die Autoren am Beispiel eines Hannoveraner Projektes. Viele Jugendliche, so Promi-Kriminologe Pfeiffer, gerieten überhaupt nicht in Versuchung, straffällig zu werden, wenn man sie nachmittags sinnvoll beschäftige und sie nicht weiter auf die stigmatisierte Hauptschule stecke. Nachmittagsangebote statt härterer Strafen: Das ist ein vehementes Plädoyer für eine durchdachte Ganztagsschule.

    Tiefer ins Privatleben reichen die Empfehlungen des Psychologen Claus Koch: Gestützt auf Bindungstheorie und Psychoneurologie führt er mithilfe der Säuglingsforschung den Nachweis, dass misslingende elterliche Zuwendung bei den Kindern mangelnde Empathie hervorrufen kann. Dieser Baustein hilft, eine Tendenz in der jugendlichen Gewaltszene zu erklären, die in den vergangenen Jahren immer mehr zugenommen hat. Claus Koch:

    Wenn aber ideologische Einflüsse, soziale Deklassierung, Kinderarmut, Arbeitslosigkeit, der fehlende Schulabschluss und Bildungsfern ein hinreichender Grund für Jugendkriminalität wären, dann hätten wir sie massenhaft, was aber nicht der Fall ist. Deswegen gehe ich davon aus, dass etwas dazukommen muss, was besonders bei den schweren Gewalttaten von Jugendlichen, und um die geht es in diesem Beitrag, eine besondere Rolle spielt. Empathie ist also ebenso wenig angeboren wie die Bereitschaft zu Gewalt, sondern muss, von Generation zu Generation, immer wieder neu erlernt werden.

    Trotz aller Anti-Roland-Koch-Rhetorik: Brumlik und seine Mitstreiter erliegen hier keineswegs der Versuchung, jugendliche Gewalttäter in Schutz zu nehmen. Mit Kuschelpädagogik für harte Jungs hat ihre Ursachenforschung zu jugendlicher Delinquenz wenig zu tun. Die Autoren sind durchaus der Meinung, dass auch Jugendliche mit schwerer Kindheit schuldfähig sind - und in vielen Fällen hinter Gitter gehören. Ihnen geht es aber um Prävention - und eine Pädagogik, die insbesondere jungen Männern neue Männlichkeitsbilder vermittelt - jenseits alter Formeln von Ehre und Respekt. Claus Koch fasst das treffend zusammen.

    In den Gefängnissen wiederholen sich für viele der Jugendlichen jene Erfahrungen, die die meisten von ihnen in ihrer frühen Kindheit bereits zur Genüge kennen gelernt haben: bedingungslos geforderter Gehorsam, eine permanente Bedrohung durch Gewalt durch Zellennachbarn, autoritäre Amtspersonen, die sich für ihr Tun nicht rechtfertigen müssen; hinzu kommt der weitgehende Verlust "echten" verbalen Austauschs. Das heißt nicht, dass man die jugendlichen Gewalttäter nicht aus dem Verkehr ziehen darf und sie im extremen Fall wegsperren muss. Die Gesellschaft hat ein Anrecht auf Schutz vor solchen Tätern. Nur soll man sich nicht vormachen, dass längere Gefängnisaufenthalte der Täter das Problem jugendlicher Gewalt lösen.

    Sprachlich sind die Einzelbeiträge teilweise sehr im wissenschaftlichen Fachjargon gehalten, Insbesondere der leserunfreundlich gestaltete Beitrag von Karin Amos leidet darunter. Dabei wäre er einer der interessantesten gewesen, geht es doch um die Boot Camps und wie sie wirklich funktionieren. Auch der an sich aufschlussreiche Beitrag eines vierköpfigen Autorenteams über die angebliche "Unerziehbarkeit" bestimmter Jugendlicher verliert sich in Details für ein Fachpublikum. Gleichwohl ist dieser Band ein lesenswerter - erst recht, da demnächst wieder ein hessischer Wahlkampf vor der Tür steht.
    Micha Brumlik (Hrsg.): Ab nach Sibirien? Wie gefährlich ist unsere Jugend?
    Beltz Verlag, Weinheim 2008, Euro 14.90.