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Willi Wottreng: "Ein Irokese am Genfersee"
Der Teufelskreis der Entrechtung

Eine Schweizer Staatsanwältin ermittelt privat in einer alten Geschichte: Wieso reiste Irokesen-Häuptling Deskaheh 1923 in die Schweiz? Warum kam er kurz nach seiner Rückkehr ums Leben? Der Schweizer Autor Willi Wottreng demaskiert in seinem dokumentarischen Roman den kalten Zynismus der Realpolitik.

Von Christoph Vormweg | 07.05.2019
Der Schriftsteller Willi Wottreng und „Ein Irokese am Genfersee"
Willi Wottreng erzählt die Geschichte des Irokesenhäuptlings Deskaheh (Buchcover Bilgerverlag / Autorenportrait (c) Ayse Yavaz)
Auch die Staatsanwältin Ursula Haldimann war einmal jung. Einst raste sie mit Gleichgesinnten auf ihrem 750er Motorrad durch die Schweiz und fühlte sich als "Stadtindianerin". Freiheit und Selbstbestimmung waren ihre Ideale. Als sie während der Hausdurchsuchung bei einem Antiquitätenhändler auf ein altes Foto stößt, ist sie sofort gebannt. Es zeigt einen Irokesen-Häuptling in voller Montur:
"Das Überraschendste […] war die Szenerie: Der Mann stand nicht vor einem Zelt oder in einer imposanten amerikanischen Landschaft. Er saß in einer gutbürgerlichen Stube auf einem Stühlchen. Der Unterarm war auf eine gestickte weiße Tischdecke gestützt. Um ihn herum saßen und standen Leute, die sehr familiär wirkten. Gemäß einem Bleistifthinweis war das Foto in Zürich entstanden."
Ein "Privatfall" für die "Aktenfresserin"
Was suchte der Irokese mit Namen Deskaheh in der Schweiz? Zum Glück ist der Antiquitätenhändler unschuldig und gibt ein paar Auskünfte über seinen Großvater, der den Häuptling beherbergte. Nie gelöst wurde demnach das Rätsel von Deskahehs Tod im Jahr 1925, kurz nach der Rückkehr nach Nordamerika. So macht Haldimann, die gefürchtete "Aktenfresserin", das über 90 Jahre alte Rätsel zu ihrem "Privatfall". Ein gelungener Kunstgriff. Denn mit einer Staatsanwältin als Erzählerin gibt der Schweizer Schriftsteller Willi Wottreng seinen eigenen Recherchen den Anstrich einer offiziellen Ermittlung. Das erhöht den juristischen Kompetenzanspruch und die Spannung. In den Archiven von Genf nimmt Haldimann die Fährte auf. Gleichzeitig versucht sie sich auf Basis ihrer Funde, die Umstände im Land der Irokesen vorzustellen, die Deskaheh zu seiner Reise nach Europa veranlassten.
"Oh ja, die alten Zeiten waren vorbei. Deskaheh empfand es heftig. Wie wäre es sonst denkbar, dass weiße Polizisten […] sich überhaupt bis ins Herz des Indianerlandes wagten, während die Tiere, die einst hier grasten, verschwunden waren. Und mit den Weißen hielt das Geld Einzug. Manche Junge verstiegen sich im Suff zu Behauptungen wie zum Beispiel der, dass sie lieber von einer Behörde Sozialgeld bezögen, als mühsam ein Tier zu jagen […]. Schnapsideen."
Der Häuptling gleicht einem modernen Sisyphus
In seinem dokumentarischen Roman "Ein Irokese am Genfersee" beschreibt Willi Wottreng den Teufelskreis der Entrechtung. Das Land der Irokesen stand Anfang der 1920er Jahre unter kanadischer Verwaltung. Wählen durften sie nicht, aber ihre Krieger wurden für den Ersten Weltkrieg rekrutiert. Also versuchte Deskaheh, mit Hilfe eines Anwalts beim Völkerbund in Genf die einst vom britischen König zugesicherte nationale Unabhängigkeit zurückzuerlangen. Viele Gutwillige machten dem Häuptling Hoffnung. Doch machtbewusste Realpolitiker und ihre Lobbyisten stellten sich mit Hilfe ihrer Juristen quer.
"Immer wieder denkt Deskaheh darüber nach, was der große Prophet der Irokesen sie gelehrt hat. Dass alle Menschen in der Welt Geschwister sind. Dass man den Frieden anstreben soll. Dass man verzeihen soll. […] Manchmal sieht er keine Möglichkeit mehr, aus Feinden Freunde zu machen."
Der Häuptling gleicht einem modernen Sisyphus. Denn die Ansprüche von Minderheiten zählten beim Völkerbund nicht. Ironie des Schicksals: Gesellschaftspolitisch waren die Indigenen, wie Willi Wottreng nachzeichnet, viel fortschrittlicher als die weißen Nordamerikaner. So hatten die Irokesen das Frauenstimmrecht viel früher eingeführt. Auch gab es bei ihnen weder Eheschließungen aus ökonomischen Gründen noch Gefängnisse.
Eine illusionslose politische Parabel
Willi Wottrengs in einfacher, klarer Prosa geschriebener Roman "Ein Irokese am Genfersee" ist eine illusionslose politische Parabel jenseits aller realitätsfernen Karl-May- und Hollywood-Mythen. Empfehlenswert ist er deshalb auch für die Oberstufe. Die große Stärke ist das Spiel der Mutmaßungen und Wahrscheinlichkeiten, das Staatsanwältin Haldimann schließlich zu einer Reise ins Irokesenland verleitet. Es demaskiert, wie verlogen und zynisch Interessenpolitik meist funktioniert. Doch gibt es auch Lichtblicke: so die berührend zarte Liebesgeschichte des Häuptlings mit der Schweizerin Hedwige. Sie wollte ihm sogar in sein Restland nachfolgen, wo er aber nur als Leiche ankam.
Willi Wottreng: "Ein Irokese am Genfersee. Eine wahre Geschichte"
Bilgerverlag, Zürich. 200 Seiten, 24 Euro.