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Antiken-Schwerpunkt im Bochumer Schauspiel

In dreieinhalb Stunden erzählt der neue Bochumer Hausregisseur Roger Vontobel die Geschichte der Labdakiden. Das Besondere: Dabei verbindet er gleich vier antike Dramen miteinander.

Von Christiane Enkeler | 11.10.2010
    In Theben tobt die Pest. König Ödipus tritt zwischen weißen, hohen Säulen hervor und hinter ein gläsernes Stehpult. Seine Frau und Mutter, Iokaste, führt First-Lady-like die vier kleinen Kinder der beiden, Antigone und Ismene, Polyneikes und Eteokles, vom Spielen auf dem Teppich ins Haus, bevor der Papa ans Mikrofon tritt und verspricht, den Schuldigen zu finden, der er selbst ist. Ödipus bricht vor Journalisten zusammen, Iokaste komplimentiert die Herrschaften freundlich bestimmt hinaus, aber jeder bekommt noch ein kleines Präsentchen. Um PR-Strategie ist man bemüht bei den Labdakiden, deren Geschichte der neue Bochumer Hausregisseur Roger Vontobel in dreieinhalb Stunden erzählt, indem er gleich vier antike Dramen verbindet, zur großen "Politsaga". Die erinnert zu Anfang an Medien-Auftritte von US-Präsidenten, wird aber immer mehr zu einer Inszenierung, in der Privates und Politisches im Innern der Figuren miteinander ringen. Dabei zeigt sich, was so ein Mammut-Projekt bringen kann: indem Kreon zur Hauptfigur wird.

    Der kantige Kreon von Michael Schütz passt nicht in die Medien-Schablonen, er kann sich nicht "verkaufen", hat kein Gespür für die Stimmung im Volk, und das Gespräch, in dem sein Sohn Haimon ihm das näher bringen will, ist eine der am besten inszenierten und gespielten Szenen des Abends. Dimitrij Schaad zeigt die ganze Intelligenz des Jungen, Michael Schütz die ganze Verbitterung des Alten, die vor dem Hintergrund der großen Geschichte so sinnfällig wird: Er hat einen Sohn verloren im Krieg um die Stadt, als Opfer, dem er nicht zugestimmt hatte. Nun aber zieht Kreon die Stadt der Familie vor und bestraft also Antigone für ein Vergehen, das er selbst begangen hatte. Womit das Private seinen Eingang ins Politische durch die Hintertür findet. "Die Labdakiden" in Bochum sind ein "Theater-Blockbuster" mit Längen und intelligent aufscheinenden Zusammenhängen.

    Aber so groß das Projekt ist, es kommt nicht heran an den Immigrationskrimi "Medea", mit dessen neuem Text der tunesische Regisseur Fadhel Jaibi und seine Frau Jalila Baccar einen Blick auf unsere Kultur werfen. In ihrem souveränen Werk steht der Umgang mit Religion und Kultur zur Debatte, nicht aber der Respekt vor dem Menschen.

    Medea kommt aus Anatolien. Ihr Bruder liebt sie und versteht ihre Sehnsucht nach Freiheit. Aber sie ist einem anatolischen Mann versprochen, der nun wütet. Auch der Bruder wird genötigt, sie zu verfolgen. Medea und Jason töten in einem monströsen Akt diesen sie liebenden Bruder und fliehen weiter bis Duisburg; dort leben beide illegal. Jason sucht Kontakt zu einem großen Hehler, um ihm die heilige Handschrift zu verkaufen, die er Medeas Vater mit ihrer Hilfe gestohlen hat. Die Tochter des Hehlers wird schließlich Jasons neue Geliebte.
    Regisseur Jaibi bedient sich souverän bei verschiedenen Genres: Krimi, Märchen, Tragödie, Burleske. Voller Strenge gleiten die Figuren durch den bunkerartigen Bühnenraum, voller Leichtigkeit entschwinden sie durch Öffnungen in den Wänden oder betreten Lichtquadrate. Zeit und Ort geraten ins Flirren und damit auch der Begriff von "Fremdheit".

    Medea ist einsam. Ihre einzigen "Freunde" werden zwei Islamisten, einer davon ein Deutscher. Als die beiden Medeas Söhne in den Koranunterricht schicken, zeigt sie sich befremdet. Aber als Jason mit ihr schimpft, verteidigt sie diesen Unterricht. Sie kann nicht verraten, was ihr Halt gibt. Entfaltungsmöglichkeiten findet sie nicht. Die Figuren beleuchten Kultur und Religion aus unterschiedlichen Perspektiven: Was Medea heilig ist, die Handschrift, ist für Jason nur "ein Haufen Altpapier". Der deutsche Hehler erkennt den Wert, erschnüffelt ihn geradezu, Geld stinkt nicht.

    In Jasons Haus sind die Islamisten fremd, aber der deutsche Islamist bezeichnet den Griechen Jason als Fremden. Zeitweise nehmen die Zuweisungen groteske Züge an. Nadja Robiné wird man als Medea nicht so schnell vergessen: Sie spielt Mensch und Monster, Liebende und Gequälte, eingebettet in ein hoch konzentriertes Ensemble. Im Kern geht es hier um die Suche nach Akzeptanz und die Verantwortung der Gesellschaft. Das Monströse und die Wucht der Tragödie mit unserem Alltag zu verbinden – das gelingt. Dass in Bochum die Mythen so frisch daherkommen, hat auch etwas Gruseliges.