Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Antikriegsroman
Avi Primor: "Süß und ehrenvoll"

Als Sachbuchautor ist Avi Primor ein alter Hase. Der ehemalige israelische Botschafter in Deutschland hat bereits Etliches über den Nahost-Konflikt geschrieben, nun debütiert er als Belletrist. Seine Roman über zwei junge jüdische Soldaten im Ersten Weltkrieg fußt auf der Lektüre Hunderter Briefe.

Tanya Lieske im Gespräch mit Avi Primor | 15.02.2014
    Tanya Lieske: Dulce et Decorum est pro patria mori – das schrieb einst der Dichter Horaz. Süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben. Im Laufe von gut 2000 Jahren hat dieser Satz eine erstaunliche Wandlung erfahren, wer ihn zitiert, der meint meistens das Gegenteil, es gibt im Leben eines jungen Mannes Besseres, als sein Blut für das Vaterland zu vergießen.
    "Süß und ehrenvoll", das ist ein verkürztes Zitat, der Titel eines Romans, den ich Ihnen heute vorstellen will, ein Roman mit einer erstaunlichen Geschichte. Geschrieben hat ihn Avi Primor, der ehemalige Botschafter Israels zu Berlin. Als Sachbuchautor, Herr Primor, kennt man Sie natürlich, Sie haben Etliches publiziert, zu Fragen des Friedens im Nahen Osten, zum Islam, zu Terror und Gewalt. Sie sind also kein Greenhorn mehr, wenn es ums Schreiben geht, haben aber mit diesem Buch, haben Sie in gewisser Weise trotzdem ein Debüt hingelegt, denn es ist Ihr erster Roman! Wie kamen Sie dazu, Belletristik zu schreiben?
    Avi Primor: Also ursprünglich wollte ich auch diesmal ein Sachbuch schreiben, ich wollte diese erstaunliche Geschichte der Juden im Ersten Weltkrieg erzählen. Eine unbekannte Geschichte, die damals sehr bekannt war, aber dann in Vergessenheit geraten ist, eine einmalige Erfahrung in der Geschichte der Juden, die keinen Präzedenzfall hatte. Die Juden haben sich in diesem Krieg ganz begeistert auf allen Seiten beteiligt, sie haben sich freiwillig engagiert, sie waren verrückte Patrioten, weil sie darin eine Chance gesehen haben. Es war ja so, dass im Laufe des 19. Jahrhunderts die Juden in Mittel-, und in Westeuropa allmählich die Gleichberechtigung erzielt haben. Diese Emanzipation ist aber juristisch geblieben, sie war nicht gesellschaftlich. Dann dachten die Juden eine Weile, das sei eine Art Kinderkrankheit, doch der Antisemitismus ist immer stärker geworden, und dann haben sie in diesem Krieg die Chance gesehen, ihren Patriotismus zu erweisen, ihr Blut für das Vaterland zu vergießen und dadurch in der Gesellschaft akzeptiert zu werden, anerkannt zu werden als ein Bestandteil der Nation. Das geschah vorher in der jüdischen Geschichte nie wieder. Das war also eine Begebenheit, die ich erzählen wollte. Je mehr ich dann geforscht habe, und je mehr Soldatenbriefe ich gelesen habe, bin ich zur Schlussfolgerung gekommen, dass das eher eine emotionale Geschichte ist, vielmehr als eine sachliche. Das heißt, man kann in einem Sachbuch alle Statistiken erklären, wo genau wie viele Juden gedient haben, wie viele gefallen sind, wie viele Verletzte es gab. Das war aber nicht die echte Geschichte. Die echte Geschichte waren die Gefühle der Menschen, und Gefühle und Emotionen kann man viel besser in einem Roman schildern als in einem Sachbuch. Ich war mir natürlich nicht sicher, ob ich dazu fähig war, ich habe große Zweifel gehabt, aber ich dachte mir, ich beginne damit, wenn es läuft, umso besser, wenn nicht habe ich immer noch Plan B, ein Sachbuch.
    Lieske: Im Zentrum Ihres Romans steht Ludwig Kronheim, ein junger Jude, er ist Frankfurter, etwa 19 Jahre alt. Was ist das für ein junger Mann, was treibt ihn um?
    Primor: Er stammt aus einer uralten jüdischen Familie in Frankfurt. Ich habe Frankfurt gewählt, weil das die älteste jüdische Gemeinde in Deutschland ist. Ich habe in Frankreich Bordeaux gewählt, weil das dort die älteste jüdische Gemeinde ist. Ludwig stammt also aus einer bürgerlichen Familie, voller Wissenschaftler und gebildeter Leute, er geht auch in das beste Gymnasium in Frankfurt, er versucht, sich in die Gesellschaft zu integrieren, will dann in Heidelberg Jura studieren. Er will unbedingt mit dem Staat verbunden sein, weil er seinen Patriotismus beweisen will, weil er akzeptiert werden will. Er versteht, dass er keine Chance hat, Berufssoldat zu werden, weil Juden in der kaiserlichen Armee keine Offiziere werden konnten. Er ist in ein Mädchen verliebt, das er in der Universität in Heidelberg kennengelernt hat. Die stammt aber aus einem nicht-jüdischen Hause, und da gibt es Probleme.
    "Ludwigs Vater will preußischer als die Preußen sein"
    Lieske: Ludwigs Vater ist sehr kaisertreu, sehr staatstragend und wirkt in Ihrer Darstellung fast wie eine Karikatur. Angedeutet wird eine sehr komplexe Vater-Sohn Beziehung, und Sie spiegeln das noch einmal. Sie sagten ja bereits, dass ein weiterer Schauplatz Bordeaux ist, und in Bordeaux wächst der junge Bäckerssohn Louis Naquet auf, und der hat eine durchaus liebevolle Beziehung zu seinem Vater. Warum war es Ihnen wichtig, diese beiden Vater-Sohn Beziehungen zu spiegeln?
    Primor: Erstens sind sie sehr unterschiedlich. Ludwig hat mit seinem Vater psychologische Probleme, der Vater will preußischer als die Preußen sein. Irgendwann sagt Ludwig über seinen Vater, er habe jüdische Bescheidenheit und preußischen Charme. Dies war so in vielen jüdischen Familien. Die Juden, die Preußen sein wollten, versuchten einem Vorbild, das eigentlich eine Karikatur war, zu folgen. Das hat die Beziehungen in der Familie gestört. In Bordeaux war das anders, die Juden waren erheblich gelassener, weil sie viel besser integriert waren. Sie haben dort noch vor der Revolution die Gleichberechtigung erzielt, als einzige jüdische Gemeinde in ganz Frankreich. Daher waren die zwischenmenschlichen Beziehungen auch einfacher. Darüber hinaus ist meine jüdische Familie in Bordeaux eine einfache Familie. Es sind bescheidene Hintergründe, sie sind Bäcker, aber der Vater ist gleichzeitig sehr davon überzeugt, dass die Juden überhaupt nur eine Chance haben, wenn sie gebildet sind. Sie müssen lernen, sie müssen lesen. Also liest er unentwegt, und versucht, das dem Sohn weiter zu geben. Dadurch entwickelt sich eine sehr enge Freundschaft und Vertrautheit zwischen den Beiden, zwischen Vater und Sohn.
    "Ein Jahr lang habe ich nur Soldatenbriefe gelesen"
    Lieske: Ludwig und Louis begegnen sich in diesem Krieg als Kontrahenten, wir Leser mögen beide, bangen mit beiden mit, und so wird uns die Tragik dieses Krieges deutlich. Wie ist Ihnen diese Erzählkonstruktion gekommen?
    Primor: Was mich am meisten inspiriert hat, waren Soldatenbriefe. Ich habe mit jüdischen Briefen begonnen, das war im Leo Baeck Institut in Jerusalem, das sich der Geschichte der Juden in Deutschland widmet, es gibt auch ein Institut in Frankreich, das sich mit der Geschichte der Juden in Frankreich beschäftigt. Dort gibt es sehr viele jüdische Soldatenbriefe, aber darüber hinaus habe ich dann sehr viele Soldatenbriefe zu lesen begonnen. Von denen gibt es Millionen in verschieden Institutionen, in Museen und so weiter. Ich habe natürlich auch historische Bücher und Sachbücher gelesen, ich habe mit Historikern gesprochen und diskutiert, weil der historische Hintergrund ganz genau sein sollte. Die Soldatenbriefe haben mich am meisten inspiriert. Manchmal erzähle ich Geschichten von Louis Naquet, die ich eigentlich in deutschen Soldatenbriefen gelesen habe und umgekehrt. Man kann sich heute nicht mehr vorstellen wie die Soldaten jahrelang gelitten haben. Das ist selbst mit dem Zweiten Weltkrieg nicht vergleichbar. Die Lebensbedingungen haben ja auch einen sehr großen Einfluss gehabt auf die Beziehungen der Soldaten mit ihren Familien, zu ihren Freundinnen, die Liebesgeschichten, die Zweifel die sie hatten, all diese Gefühle habe ich in Teilen erfunden, aber inspiriert haben mich immer die Soldatenbriefe.
    Lieske: Diese Briefe sind oft herzzerreißend im Ton. Haben Sie diese Briefe nachgedichtet oder sind es Originalzeilen?
    Primor: Ich habe mir beim Lesen Stichworte gemacht, da ich nicht abschreiben wollte. Ein Jahr lang habe ich fast nur Soldatenbriefe gelesen. Ich wollte inspiriert werden und nicht von den Briefen abschreiben. Ich weiß gar nicht mehr, wo ich was gelesen habe, in einem französischen oder in einem deutschen, in einem belgischen Brief. Die Erfahrungen sind mir im Gedächtnis geblieben, und dann habe ich meine Fantasie in Anspruch genommen. Und so hab ich diese Briefe geschrieben.

    Französische Soldaten klettern während der Schlacht um die ostfranzösische Stadt Verdun zu einem Angriff aus ihren Schützengräben (Archivfoto von 1916). Bei der Schlacht um Verdun sind von Februar bis Dezember 1916 rund 700.000 Menschen umgekommen. Ausgelöst durch die tödlichen Schüsse auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand durch serbische Nationalisten am 28. Juni 1914 in Sarajevo brach im August 1914 der große Krieg (später als 1. Weltkrieg bezeichnet) aus. Es kämpften die Mittelmächte, bestehend aus Deutschland, Österreich-Ungarn sowie später auch das Osmanische Reich (Türkei) und Bulgarien gegen die Tripelentente, bestehend aus Großbritannien, Frankreich und Russland sowie zahlreichen Bündnispartnern. Die traurige Bilanz des mit der Niederlage der Mittelmächte 1918 beendeten Weltkriegs: rund 8,5 Millionen Gefallene, über 21 Millionen Verwundete und fast 8 Millionen Kriegsgefangene und Vermisste.
    "Die Erfahrungen waren auf beiden Seiten gleich": Französische Soldaten 1916 bei Verdun (picture alliance / AFP)
    Lieske: Stilbildend für das Genre des Romans zum Ersten Weltkrieg ist ja Erich Maria Remarques Roman "Im Westen nichts Neues". An diesem Roman kommt man letztendlich nicht vorbei. Sie Herr Primor, gehen einen anderen Weg: Ludwig wie Louis sind bis zum Ende bereit zu kämpfen, stehen ein für ihr jeweiliges Vaterland. Man kann sagen, Sie sind tapfer. Haben Sie einen Kriegs- oder einen Antikriegsroman geschrieben?
    Primor: Aber sicher einen Antikriegsroman. Sie haben recht, meine Soldaten bleiben treu, trotz allem. Als das Elend der französischen Soldaten zu Aufständen führt, ist mein französischer jüdischer Soldat nicht dabei. Als in Deutschland nach der verfehlten großen Offensive von 1918 die Deutschen sich zunehmend geschlagen fühlen, gibt es Deserteure. Mein jüdischer Soldat findet, dass das eine Schande ist, ein fürchterliches Verbrechen. Er bleibt der treue Patriot, obwohl er sieht, dass alles zerfällt, weil seine Hoffnung als Jude erhalten bleibt. Das Buch endet mit dem Krieg. Wir haben in diesem Buch ein „Happy-End“. Die Protagonisten und ihre Familien sind optimistisch, weil sie davon überzeugt sind, dass es jetzt aufwärtsgehen wird. Es wird keinen Krieg mehr geben und insgesamt aufwärts für die Juden gehen, da sie jetzt anerkannt sein werden. Wir als Leser wissen, was danach passiert ist, die Protagonisten wissen es nicht. Insofern nenne ich das Ende meines Buches ein falsches Happy-End.
    Lieske: Gehen wir noch einmal ein Stück nach vorne. Ludwigs Biografie bildet den ganzen Krieg ab. Ludwig kämpft sowohl an der West- als auch an der Ostfront, er ist bei allen großen Schlachten Verdun, Marne und Somme dabei. Wir wissen, dass Louis ihm oft gegenübersteht – wie wahrscheinlich ist diese Kriegsbiografie?
    Primor: Das war üblich so. Man hat die Divisionen hin und her verlegt, da man nicht wollte, dass sie zu sehr in dem Alltag versinken. Man hat sie in den Osten und dann wieder in den Westen geschickt. Nehmen Sie zum Beispiel die große Schlacht von Verdun, die zehn Monate andauerte. Da werden sie sehen, dass fast alle französischen Soldaten an dieser Schlacht teilgenommen haben, weil man sie dauernd ausgewechselt hat. Man hat keine Einheit zu lange in Verdun gelassen, sodass fast alle französischen Soldaten die Erfahrung von Verdun gemacht haben.
    "Dieser jüdische Offizier betreut Hitler, weil er ihm leid tut"
    Lieske: Ihr Roman hat manchmal auch etwas Anekdotisches. Viele historische Zeitgenossen, auch der Gefreite Hitler und Otto Frank und der jüdische Offizier Alfred Dreyfus laufen durch das Bild. Man kennt die Geschichte: Hitler wird von dem jüdischen Leutnant Gutmann ausgezeichnet, bekommt das Eiserne Kreuz Zweiter Klasse!
    Primor: Ich habe diese ganze Geschichte von Hitler in einem Buch von einem deutschen Historiker namens Thomas Weber gefunden: "Hitlers erster Krieg". Er zeigt, dass Hitler gar kein echter Soldat war, dass er eigentlich ein armer Kerl war. Dieser jüdische Offizier betreut ihn, weil Hitler ihm leid tut. Er sorgt dafür, dass Hitler das Eiserne Kreuz zweiter Klasse, und später auch erster Klasse bekommt. Diese Geschichte ist unheimlich interessant, weil der jüdische Offizier, Gutmann heißt er, unmittelbar nach der Machtergreifung von den Nazis verhaftet wurde. Seine Freunde bemühen sich darum, ihn aus dem Gefängnis zu befreien, sagen ihm, er müsse mit seiner Familie verschwinden. Es gelingt ihm, nach New York zu kommen, er bekommt aber weiter Briefe von seinen ehemaligen Kameraden. Sie raten ihm, aus New York zu verschwinden, da die Nazis ihn unbedingt umbringen wollen. Warum? Weil Gutmann die wahre Geschichte von Hitler kannte, während die Nazipropaganda aus Hitler einen Helden gemacht hat. Er geht daraufhin nach St. Louis, wechselt seinen Namen, er nennt sich Grant. Die Familie lebt immer noch in St. Louis, hat alle Unterlagen. Ich verbinde diese Geschichte mit meinem Soldaten Ludwig und mache daraus einen Roman.
    Lieske: Es ist ein an Fakten gesättigter Roman. Haben sie beim Recherchieren noch etwas Neues erfahren?
    Primor: Unheimlich viel! Ich habe mit Historikern gearbeitet, Thomas Weber habe ich schon genannt, Gerd Krumeich, ein großer Spezialist des Ersten Weltkrieges in Deutschland, ein französischer und israelischer Historiker, ein Spezialist der jüdischen Geschichte, mit all denen habe ich mich beraten. Ich habe ihnen auch immer die Texte unterbreitet, damit sie nachprüfen können, ob ich historische Fehler mache.
    "Der Erste Weltkrieg war die große Tragödie in Europa"
    Lieske: Der Erste Weltkrieg prägt im Moment sehr das Mediengeschehen in Deutschland. Haben Sie eine Erklärung für die Faszination, die von diesem Krieg ausgeht?
    Primor: Als ich vor vier Jahren die Idee hegte, ein Buch über den Ersten Weltkrieg zu schreiben, sagte mir ein Verleger in Deutschland er würde mich gar nicht verstehen: Wen interessiere denn der Erste Weltkrieg? Als ich sagte, in vier Jahren wird sich die Welt an den Ersten Weltkrieg erinnern, weil das bei einem Jubiläum immer so ist, hat man abgewinkt. Aber der Erste Weltkrieg war die große Tragödie, die große Wende im Leben der Menschen damals in Europa.
    Lieske: Sie haben den Roman auf Hebräisch geschrieben. In der deutschen Übertragung von Beate Esther von Schwarze kommt die Sprache manchmal wilhelminisch daher, vor allem in den Dialogen. Ist das ein Verdienst der Übersetzerin?
    Primor: Das ist ein Verdienst meiner Übersetzerin. Es ist aber umstritten, ich habe auch Kritik bekommen, diese Sprache sei zu altmodisch, ein bisschen überholt. Mein Verleger sagte immer nur, im Gegenteil, das passt ganz genau zu dieser Zeit vor hundert Jahren. Da gibt es Meinungsverschiedenheiten. Ich bin mit der Übersetzung sehr zufrieden.
    Lieske: Vielen Dank für das Gespräch!
    Avi Primor: "Süß und ehrenvoll"
    Quadriga Verlag, 384 Seiten, 19,99 EUR