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Antoine oder die Idiotie

Ein chinesisches Sprichwort besagt in etwa, dass ein Fisch niemals weiß, wann er pinkelt. Das ist eins zu eins auf die Intellektuellen übertragbar.

Christoph Vormweg | 23.08.2002
    Genauer gesagt: auf die Pariser Intellektuellen, die ihren einstigen Weltruhm durch penetrante Fernsehpräsenz längst selbst untergraben haben. So sieht es jedenfalls Student Antoine, der skurrile Held des Erstlings von Martin Page.

    Wenn ich gewissenhaft wäre, müsste ich jetzt in der Universität sein. Ich gehe schon seit einiger Zeit nicht mehr zu den Vorlesungen - und ich weiß nicht, ob es da noch mal ein Zurück gibt. Das Studium ist für mich - anders als für Antoine, der ein glänzender Student ist - nie eine, sagen wir, Horizonterweiterung gewesen. Das hat mich immer gelangweilt.

    Also bleibt Martin Page in seinem Ein-Zimmer-Appartement im Pariser Multi-Kulti-Quartier Belleville und feilt am Schluss seines mittlerweile dritten Romans. Seit dem Erfolg seines Erstlings "Antoine oder die Idiotie", erschienen - wie die Erzählungen Anna Gavaldas - in der Talentschmiede "Le Dilletante", hofft der 27jährige auf eine Zukunft als Schriftsteller. In der luziden Hilflosigkeit seines Protagonisten Antoine, der Hilflosigkeit eines Hochbegabten, der leidet, weil er zu viel auf einmal wahrnimmt, dürften sich vor allem Twens wiedererkennen, denen die Rituale der Anpassung schwerfallen:

    Die gesamte Wirklichkeit [war] von der Gewalttätigkeit der Kriege überlagert, von Arbeitslosigkeit und schlimmen Krankheiten, vom täglichen Unglück des Großteils der Menschen. [Antoine] konnte die Sonne nicht genießen, ohne an die Menschen in Afrika zu denken, für die diese flammende Majestät ein Synonym für verbrannte Ernten und Hunger war. Er konnte den Regen nicht wertschätzen, weil er um die Toten und die Zerstörungen wusste, die der Monsun in Asien mit sich brachte. [...] Die Schlagzeilen der Zeitungen mit ihren Litaneien von Katastrophen, Morden und Ungerechtigkeiten waren es, die seinen Himmel kolorierten. Dazu Page:

    Angriffslustig ist er deshalb aber nicht. Antoine ist zunächst einmal jemand, der ungeheuer leidet und sich unglücklich fühlt, eben weil er über die anderen nicht richtet. Denn wer andere beurteilt, wer Schlechtes über sie sagt, positioniert sich sozial. Und das tut Antoine am Anfang des Romans nicht. Da versucht er nur zu verstehen. Erst mit der Zeit bezieht er Position im linken studentischen Spektrum. Da kritisiert er logischerweise das Fernsehen, die Normalität, all das. Doch er begreift diese Normalität als Klischee. Er sieht in ihr die Voraussetzung, um glücklich zu werden. Deshalb taucht er in dieses Klischee ab, das er eigentlich verabscheut. Für mich ist das vor allem die Beschreibung eines Werdegangs und mehr als nur ein Roman, der die heutige Gesellschaft kritisieren will.

    Antoine empfindet seine Intelligenz als Fluch, ja als Krankheit. Sein Traum ist es, "ein banales Gespenst" zu werden und sich nicht länger an der Wirklichkeit zu stören. Als der Versuch, Alkoholiker zu werden, wegen "einer physiologischen Überempfindlichkeit" scheitert, will er sich zunächst umbringen. Doch der Besuch eines Suizid-Anleitungskurses bringt ihn davon ab. Erst das Psychopharmakon "Heurozack" bringt die erhoffte Wirkung.

    Seitdem er seine kleinen roten Pillen schluckte, war eine erlösende Undurchdringlichkeit zwischen der Welt und ihren tiefgreifenden Folgen entstanden.

    Endlich scheint Antoine am Ziel: Ungehemmt, also ohne schlechtes Gewissen überlässt er sich Fernseh-, Fast-Food- und Konsumräuschen. Auch die Geldprobleme sind bald Schnee von gestern. Die Umschulung zum Börsenmakler macht´s möglich. Martin Page:

    Was die sarkastische Seite angeht, die Ironie, den Humor, das Groteske, so sind das Mittel, um die Härten des Lebens verdaulich zu machen. Wenn mir Leute sagen, sie hätten beim Lesen meines Romans viel gelacht, dann finde ich das immer ein bißchen verwunderlich. Da passieren doch einige schwerwiegende, schmerzvolle Dinge. Schließlich ist der Held doch sehr unglücklich - und die anderen Figuren um ihn herum auch. Das ist eine Tragikomödie.

    In wenigen Monaten schafft Antoine den Sprung vom gequält-sensiblen Außenseiter zum modebewussten, perfekt angepassten Mitläufer. Das schlägt sich auch in der Prosa von Martin Pages Roman "Antoine oder die Idiotie" nieder. Anfangs reflexions- und fremdwörterüberladen verliert sie ihre analytische Schwere, ihre Kanten und Widerhaken. Sie entledigt sich buchstäblich ihrer Gewissenslast - wenn auch nur vorübergehend. Denn sobald Antoine die Heurozack-Pillen ausgehen, beginnt er wieder zu moralisieren. So kommt es zum leider früh absehbaren Happy-End. Denn für den Fall, dass Antoine vollends zum "Idioten und Raffer" degenerieren sollte, hatten ihm seine Freunde aus Studententagen versprochen, ihn zurückzuholen, zurück in eine psychopharmakafreie Existenz. Durch diese - wie es heißt - "Entzombifizierung" bekommt der Roman einen dezent moralinsauren Beigeschmack. Der allerdings verfliegt rasch wieder, wenn man zurückblättert zu Antoines süffisant-schrägen Seitenhieben auf die Welt der Pseudo-Intelligenzler, zurück zu seinen Überzeichnungen der grassierenden Verblödung.