Donnerstag, 25. April 2024

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Antonín Reicha: “Leonore”

* Musikbeispiel: Antonín Reicha: aus "Leonore" Kriegsschluss als ambivalente Situation: den Frieden begrüßen bestenfalls die, die noch leben. Besiegte wie Sieger fragen, wer fiel, wer kehrt vom Schlachtfeld nicht mehr zurück. Historischer Hintergrund: Prag am Ende des siebenjährigen Kriegs, das Söldner Wilhelm, die männliche Hauptfigur, vermutlich nicht mehr erlebt. Zumindest reitet er nicht in den Bataillonen, die - plötzlich friedlich - zurück in ihre Dörfer und Kleinstädte ziehen, heim zu ihren Familien und Höfen.

Frank Kämpfer | 08.06.2003
    Vier Zeilen benötigt Textautor Gottfried August Bürger, um klarzustellen, dass er den Kriegsschluss 1763 nicht aus der Perspektive der Herrscher, auch nicht als Chronist, sondern mit dem Blick auf die kleinen Leute besieht. "Leonore", sein 32-Strophen-Gedicht fragt nach zwei Einzelnen, denen infolge des sanktionierten Mordens privates Unheil geschieht. Wilhelm, des Königs Soldat, stirbt in der Schlacht - Leonore, die Braut, ist nahe dem Wahn, verliert den Glauben an Gott. Um 1770 bedeutet dies: jeglichen Halt.

    Die sinnliche Anschaulichkeit beider Zusammenbruchs mag eigenem Erleben geschuldet sein. Die Biographie Gottfried August Bürgers, des Dichter des Sturm und Drang, gibt einiges an Schicksalsschlägen her und endet trostlos und früh. Hier interessiert eher der literaturgeschichtliche Teil. Denn "Leonore", 1773 notiert, ist ein Erstlingswerk, das am Anfang einer ganzen Epoche deutschsprachiger Schauerballadendichtung steht. Bürgers "Leonore", übrigens nicht identisch mit Beethovens Opernsujet, trägt zudem erste Züge romantischer Weltsicht. Das seit der Antike bekannte Motiv vom Verlust des Geliebten durch äußere Zwänge findet sich hier, gleichfalls die Liebesopfer-Thematik, das Getriebensein des Verfluchten, die christlich fundierte Erlösungsvision.

    Bald nach dem Entree verlässt Bürgers Ballade die Realität und biegt ab ins Fiktionale: Wilhelm kehrt heim zu seiner Braut - jedoch nicht als ruhmreicher Söldner, vielmehr als ein Gefallener, der zuletzt die Frau ins Soldatengrab heimzuholen gedenkt. * Musikbeispiel: Antonín Reicha: aus "Leonore" Camilla Nylund (Sopran) und Vladimir Chmelo (Bass) als Leonore und Wilhelm - begleitet von den Virtuosi di Praga mit Frieder Bernius am Pult. Komponist Antonín Reicha (1770-1836) hat den Dialog der zwei Figuren zu einer erschütternden musikalischen Szene geformt. Der Drehpunkt des ersten Teils von Bürgers Ballade, der die Wiederbegegnung der Liebenden, das Einverständnis der Frau in den gemeinsamen Tod und den Beginn des gespenstischen Grabritts umfasst, wird so zum Ausweis der musikdramatischen Neigung des gebürtigen Böhmen. Antonín Reicha, ein Schüler Albrechtsbergers, Salieris und Haydns hat Bürgers achtzeilige jambische Strophen zu beinah opernhaften Szenen geformt, diese in Rezitative, Ariosi und Chöre sortiert, vier Solopartien eingeführt und Chor wie Orchester zum musikalischen Partnern bestimmt, die das Geschehen sehr wirksam zuspitzen, forcieren, kommentieren. Zweifellos kommen ihm dabei seine Kenntnisse der italienischen seria, des deutschen Singspiels und der sich eben entwickelnden großen französischen Oper zugute, deren Elemente er in "Leonore" eindrucksvoll mischt. Eine Aufführung der 1805 komponierten Kantate, ist trotz namhafter Fürsprache unmöglich. Zensur, erneute Kriegswirren und Kriegsvorbereitung in den einander feindlichen Hauptstädten Wien und Paris, in denen Reicha agiert, schließen einen Aufstieg als Musikdramatiker ohnehin aus.

    Musikhistorisch betrachtet, stellt die zu Lebzeiten Reichas unaufgeführte "Leonore" ein wichtiges Bindeglied dar. Wie Mattis Dänhardt im aufschlussreichen CD-Booklet erklärt, rangiert sie zwischen Mozarts dramma gioccoso "Don Giovanni" von 1787, das in der Höllenfahrt seiner Titelfigur endet, und Webers 1821 uraufgeführter Romantischer Oper "Der Freischütz", in der entfesselte Natur Gespenster des 30jährigen Krieges erwachen lässt. Vorliegende Ersteinspielung, die im Frühjahr beim Münchener Label Orfeo erschienen ist, bringt das musikdramatische Potential des Komponisten Reicha auf opulente Weise zur Geltung. Zum einen, weil Camilla Nylund (Sopran), Pavla Vykopalová (Mezzo), Erzähler Corby Welch (Tenor) und Vladímir Chmelo (Bass) sich stimmlich-gestisch sehr treffend in die darzustellenden Figuren hineinzuversetzen vermögen - zum anderen, weil Dirigent Frieder Bernius am Pult des präzis artikulierenden Prager Kammerchors und der farbreichen Virtuosi di Praga noch den kleinsten Instrumentalpart als gewichtige Klangrede nimmt und Reichas Kantate als eine vitale, äußerst vielgestaltige Theatermusik versteht und dirigiert.

    Letztes Musikbeispiel für heute: das zweite Finale. In wildem nächtlichen Ritt hat Wilhelm mit Leonore den Soldatenfriedhof erreicht, sein Rappe entschwindet ins Nichts, er selbst degeneriert zum Gerippe, Gespenster drehn sich in beinah heiterem Tanz - allein Leonore schwankt noch zwischen Leben und Tod. Wie ein barocker "deus ex machina" erscheint an dieser Stelle noch einmal der Chor und verweist auf das christliche Seelenheil als schließlich doch noch mögliche Rettung. Ob sie eintritt, bleibt in der Möglichkeitsform. Als wilde orchestrale Höllenfahrt endet das Stück. * Musikbeispiel: Antonín Reicha: aus "Leonore" Die Schlussmusik aus Antonín Reichas Dramatische Kantate "Leonore" nach der gleichnamigen Ballade von Gottfried August Bürger; von Frieder Bernius und Solisten und Klangkörpern aus Prag neu eingespielt und kürzlich erschienen beim Münchener Label Orfeo.