Freitag, 19. April 2024

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Antonio Negri: Rückkehr. Alphabet eines bewegten Lebens

Das Buch "Empire, Über die neue Weltordnung", gemeinsam vom italienischen Philosophen Negri und dem US-amerikanischen Literaturwissenschaftler Michael Hardt verfasst, machte vor drei Jahren weltweit von sich reden. Der linke Philosophieprofessor Antonio Negri war 1997 nach 14 Jahren Exil in Frankreich, wo er an der Sorbonne Philosophie lehrte, in sein Heimatland Italien zurückgekehrt, wohl wissend, dass ihn dort eine Haftstrafe im Gefängnis erwartete. Ende der 60er Jahre war Negri der Kopf der politischen Gruppe Potere Operaio, außerdem Unterstützer von Streikbewegungen in den Fabriken des italienischen Nordens, und er hatte Kontakte zu Mitgliedern der Roten Brigaden. Kurzum: Man erklärte ihn in den 70er Jahren zum Staatsfeind Nr. 1. Negri schreibt:

Regine Igel | 18.08.2003
    "1977 gab es eine Welle von beispiellosen Kämpfen in ganz Italien. Denen folgte eine unglaublich gewalttätige Repression. (...) Am 7. April 1979 hat man uns verhaftet, mich und ungefähr sechzig weitere, fast alle waren Professoren und Universitätsdozenten. Es war ein Schlag gegen die Intellektuellen im Innern der "Bewegung". Und die Anschuldigungen waren unglaublich: So lautete ein Anklagepunkt "Bewaffnete Insurrektion gegen den Staat." Also lebenslänglich. Das war ungeheuerlich und beängstigend. Wir lachten darüber, konnten es nicht glauben, doch in Wirklichkeit war es grauenvoll. Ich war angeklagt, 17 Menschen getötet zu haben, Unternehmer, Journalisten, Polizisten, ja selbst einen Staatsanwalt, mit dem ich zudem befreundet war, ein wunderbarer Mensch, der einige Stunden, bevor er ermordet wurde, zum Abendessen zu mir nach Hause gekommen war. Im Fall Aldo Moro wurde ich von Zeugen belastet. Man behauptete, meine Stimme sei die des Mannes, der telefonisch mit der Familie Aldo Moros verhandelte. Horror war das."

    Über seine Erfahrungen gibt Negri nun in dem Buch "Rückkehr" Auskunft und buchstabiert darin gegenüber einer französischen Journalistin das Alphabet seines bewegten Lebens.

    Der Verhaftung Antonio Negris 1979 folgten vier Jahre Untersuchungshaft, in der er ein Buch über seinen Lieblingsphilosophen Baruch Spinoza schrieb. 6.000 Linksradikale saßen in jenen Jahren in italienischen Gefängnissen, in Deutschland dagegen waren es 60. Als es der Radikalen Partei 1983 gelang, den Inhaftierten auf ihrer Liste ins Parlament wählen zu lassen, öffneten sich für den durch die Immunität geschützten Abgeordneten Negri die Gefängnistore. Doch nach zwei Monaten drohte eine Parlamentsabstimmung, ihn wegen der Schwere der zur Last gelegten Delikte zurück ins Gefängnis zu schicken.

    "Wegen vier Stimmen sollte ich zurück ins Gefängnis. Die Situation damals war derart angespannt, dass ich um mein Leben fürchtete. Ich zog es deshalb vor, nach Frankreich zu fliehen."

    Im Prozess, der nun in seiner Abwesenheit geführt wurde, mussten die schwerwiegendsten Anklagen fallengelassen werden. Antonio Negri wurde dennoch wegen 'militanter Aktionen’ zu insgesamt siebzehn Jahren Haft verurteilt. Bei seiner freiwilligen Rückkehr aus dem französischen Exil hoffte er, für sich und 200 weitere Exilanten eine Amnestie zu erreichen. Doch die Justiz hatte kein Einsehen. Nach einem Jahr Gefängnis wurde Negri Freigänger, dann in den Hausarrest entlassen, und im Juli 2003 erhielt er endlich den ersehnten Pass. Heute lebt der 70-Jährige in Rom.

    Das Buch "Rückkehr" erzählt das von dramatischen Wenden gekennzeichnete Leben nicht auf traditionelle Art chronologisch. In den Gesprächen mit der Journalistin Anne Dufourmantelle, die alphabetisch geordneten Wortvorgaben folgen, taucht Persönliches nur punktuell auf. Schwerpunkt sind das politisch-philosophische Denken Negris sowie Bezüge zur Geschichte der Philosophie und zum Denken dreier französischer Intellektueller: Gilles Deleuze, Michel Foucault und Jacques Lacan. Das Spektrum der angesprochenen politischen Themen ist breit: von der weitreichenden Wirkung der 68er Bewegung zur Ideologie der Bush-Regierung, vom Katholizismus zur Globalisierung und zur politischen Rolle des Netzwerks Attac. Sicher, Negri bezeichnet sich als Marxist und Kommunist. Doch die klassischen marxistischen Begriffe findet man weder hier noch in seinem vor einigen Jahren erschienenen Buch "Empire", das unter Globalisierungskritikern weltweit große Beachtung gefunden hat.

    Auch in "Rückkehr" verwendet Negri seine neuen, nicht gerade leicht zugänglichen Termini für die Analyse einer weltweit sich etablierenden politischen und ökonomischen Herrschaft. Das macht das Lesen nicht einfach. Doch wer beharrlich beim Text bleibt, entdeckt stimulierende Einschätzungen. So zur Bedeutung der 68er Bewegung:

    "Ich gehöre zu denen, die denken, dass 1968 das Verhältnis von Handeln und Leben verändert hat, dass ein historischer Paradigmenwechsel stattfand, eine Neuerung im Verhältnis zum Leben und zur Geschichte. 1968 war keine Revolution, es war die Neuerfindung der Produktion des Lebens. Seit damals wird das Leben anders gelebt."

    Entscheidend für eine handlungsorientierte Gesellschaftsanalyse ist für Negri, die Fixierung auf die Nation hinter sich zu lassen und die Globalisierung auch als eine positive Entwicklung zu nutzen. In seiner "Empire" genannten Weltordnung herrsche eine Weltelite, die über nationale Grenzen in Politik und Wirtschaft miteinander verwoben sei und von den USA dominiert werde. In diesem Empire herrsche immer stärker ein vereinigendes und von den Menschen verinnerlichtes Kontrollsystem. Subjekt für ein Handeln, das Veränderung bewirke, sei nicht mehr die Arbeiterklasse, sondern die "Multitude". Das sind alle Subjekte, die sich gegen die international immer ähnlicher werdenden Bedingungen der totalen Vereinnahmung und Unterdrückung wehren. Für sie gelte es, ihr Gemeinsames zu finden.

    "Es scheint schwierig geworden zu sein, Unterdrückung auszumachen. In einer normalisierten Gesellschaft wie der unseren hat man allzu häufig davon geredet, überall hat man Unterdrückung wahrgenommen, und so findet man sich gegenwärtig blockiert, Unterdrückung überhaupt definieren zu können. Ganz offensichtlich gibt es neue Formen der Unterdrückung, so beispielsweise die neuen Formen immaterieller Unterdrückung, die sich gegen die Arbeitenden in den Bereichen der neuen Technologien und der Dienstleistungen richten, oder jene, die sich aus der Flexibilisierung und der erzwungenen Mobilität auf dem Arbeitsmarkt ergeben."

    Das Buch ist ein Zeugnis des regen geistigen Lebens eines ungebrochenen, radikalen linken Theoretikers. Es lässt die turbulente Zeit der Studentenbewegung in Italien aufleben und richtet neue Blicke auf heutige gesellschaftliche Wirklichkeit. Da Negris theoretische Grundannahmen in diesem Buch nicht weiter entwickelt werden und die alphabetisch geordneten Wortvorgaben für das Gespräch eher Unordnung als Ordnung schaffen, lässt es den Leser allerdings auch in einer gewissen Verwirrung zurück.

    "Rückkehr. Alphabet eines bewegten Lebens" von Antonio Negri. Es ist im Campus-Verlag erschienen, hat 231 Seiten und kostet 17.90 Euro.