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Appell für ein friedliches Zusammenleben

Galsan Tschinags jüngster Roman "Die neun Träume des Dschingis Khan" ist ein in jeder Hinsicht fantastisches Buch. Tschinag versetzt sich so überzeugend und souverän in den Herrscher hinein, dass man seinem Werdegang mit staunender Atemlosigkeit folgt.

Von Johannes Kaiser | 08.05.2007
    1943 in einer Jurte im Altai-Gebirge in der Westmongolei geboren, als Kind der kleinen Volksgruppe der Tuwa in der Schamanen-Kunst unterwiesen, wurde aus Irgit Schynykbaj-oglu Dshurukuwaa auf der Schule Galsan Tschinag. Er war so begabt, dass er 1962 nach Leipzig zum Germanistik-Studium geschickt wurde. Nach sechs Jahren beherrschte er die deutsche Sprache so exzellent, dass er anfing, in ihr zu schreiben. Seitdem sind zwei Dutzend Romane und Erzählbände in Deutsch und Mongolisch erschienen.

    "Als ich so vier oder fünf Jahre alt war, da wurde ich zum Schamanenschüler gemacht. Also habe ich singen gelernt oder fantasieren gelernt, erzählen oder angeben gelernt. So kleine Kinder, wenn sie von einer so kleinen Portion Macht was gekostet haben, können die unaufhörlich weiterspinnen als Kinderschamane. Ich hatte, bevor ich lesen und schreiben konnte, gelernt gehabt dichten, spinnen und als ich in der zweiten Schulklasse war, da gab es schon die ersten Gedichte in der Schulwandzeitung. Man sieht von der Wand herunter seinen eigenen Namen, und dann hat man eine heilige Ehrfurcht vor der eigenen Person. Also ich habe ja in der Schule viele 100 Gedichte geschrieben, aber dann wollte ich gar nichts mehr schreiben, weil ich meine Gedichte so schwach fand. Ich habe alles vernichtet und mir selber gegenüber geschworen, nie wieder Lebenszeit mit Poesie und so was Ähnlichem zu vergeuden. Ich wollte Wissenschaftler werden."

    Doch dann kam Leipzig und alle Vorsätze schmolzen dahin. Der junge mongolische Germanistik-Student Galsan Tschinag fing wieder an zu schreiben. Die Schamanen hätten es so vorbestimmt, gibt er als Erklärung an. Vor fünf Jahren ist der erste Teil der damals entstandenen Texte erschienen. Jetzt hat der Schweizer Unionsverlag unter dem Titel "Auf der großen blauen Straße" einen zweiten Teil veröffentlicht, amüsant-verblüffte Beobachtungen über die Bürokratie des DDR Sozialismus, freundliche, witzig-kritische Bemerkungen über dogmatische Denkverbote, absurde Philosophiediskussionen, Erinnerungen an seine Ferienaufenthalte zu Hause im Tuwa-Land, Tuwa-Lebensweisheiten, das gesammelte Staunen eines Zugereisten, der mit einem Sack voller Vorurteile eintraf und lernte, vieles über Bord zu werfen, Freunde und Förderer fand wie zum Beispiel den Schriftsteller Erwin Strittmatter.

    Galsan Tschinag hat seine Geschichten nie wieder gelesen. Er schaut auch nicht zurück, denn:

    "Ich schreibe ja jedes Buch anders. Von Roman zu Roman, von Buch zu Buch bin ich anders geworden. Man muss ja weitergehen, um sich nicht zu wiederholen. Im Kopf sind ja jetzt andere Gedanken gekommen, und man wird langsam reif, man wird langsam weise. Und oft da und dort ist man auch enttäuscht, entmutigt, und man glaubte, die Welt, die Menschen erkannt zu haben."

    All dies trifft sicherlich auf Galsan Tschinags jüngsten Roman "Die neun Träume des Dschingis Khan" zu. Nachdem er in gut zwei Dutzend Büchern von Naturerlebnissen, Schamanentum, Heranwachsen im Sozialismus und Nomadenleben erzählt hat, mal in autobiografischer Erinnerung, mal in fiktiver Romanform, hat er sich jetzt zum ersten Mal an ein Thema gewagt, das nur indirekt mit seinen Erfahrungen als Kind einer Nomadensippe der Tuwa im Altai-Gebirge zu tun hat. Wir wissen wenig von Dschingis Khan, der im 13. Jahrhundert halb Asien, Russland und einen Teil Europas eroberte. An Vorurteilen fehlt es nicht, und das ist kein Zufall.

    "Dschingis Khan ist ganz bestimmt eine sehr schillernde Gestalt aus der Geschichte der Menschheit. Also solche Gestalten sind sehr selten, und er ist ja nicht zufällig zum Mann des Jahrtausends ausgewählt worden, und er war sehr intelligent. Anfangs war er genauso arm, wie wir alle sind. Er war ein ganz kleiner Sippenhäuptling. Mehr war er nicht hin. Erst dann wurde er nach und nach Fürst, Kahn, schließlich Dschingis Khan, also was bedeutet, er wurde zum Mongolenkaiser. Gut, er war grausam, denkt man, schreibt man, aber grausamer als alle anderen Diktatoren war er nicht. Also wenn es um Grausamkeit geht, sind alle die Machthaber grausam gewesen. Dass Dschingis Khan so schlecht angeschrieben ist im Westen, im Osten, kommt daher, dass die Geschichtsschreiber alle von den Verlierernationen herstammen. Die mongolischen Unterlagen fehlen ja völlig. Das haben die russischen Gelehrten, Historiker und die chinesischen Historiker alle bewusst Stück für Stück gesäubert, alles vernichtet."

    Entgegen vielen Behauptungen kannten die Mongolen durchaus die Schriftsprache, doch nur ein einziges Buch, von einem deutschen Gelehrten in China entdeckt, ist übrig geblieben, und das erzählt ihre geheime Geschichte. Galsan Tschinag hat sich bei seiner Dschingis-Khan-Biografie weitgehend daran gehalten. Der historische Rahmen stimmt also. Ansonsten jedoch hat sich der Schriftsteller all jene Freiheiten genommen, die die Literatur gewährt.

    "Ein Wirbelsturm kam, erfasste und riss einen vom Sattel, einen deuchte, der Himmelsturm steckte in einer halbwegs irdischen Gestalt. [...] Bis dahin hätte man, wenn Zeit zu irgendwelchen Überlegungen gewesen wäre, an einen Hengst zu denken vermocht, den man da vor sich hatte, vielleicht so: Der Himmelskönig habe seinen Sohn Sturm zu flammendem Ross auf die Erde geschickt, um einem Günstling aus der Herde läusekleiner, mäusedummer Menschen den Übermut auszutreiben."

    Ein verwundeter Wildesel stößt Dschingis Khan bei der Jagd vom Pferd - ein unentschuldbares Missgeschick für einen Reiterfürsten. Der liegt sich dafür verfluchend sterbend auf weiches Fell gebettet in seiner Herrscherjurte. Neun Tage wird er noch leben, vor sich hin dämmern, in Träume versinken. Neun Träume, eine heilige Zahl, führen ihn zurück an die Orte seiner Triumphe und Niederlagen, seiner Schmach und Schande, seiner Lieben und seiner Verluste.

    Wortgewandt, sprachschöpferisch, fantasievoll führt Galsan Tschinag in die längst vergangene Welt des Dschingis Khan. Er versetzt sich so überzeugend und souverän in den Herrscher hinein, dass man seinem Werdegang mit staunender Atemlosigkeit folgt. Keine seiner Grausamkeiten wird verschwiegen. Brüder, Freunde, Weggefährten fallen seinem Misstrauen ebenso zum Opfer wie widerspenstige Gegner. Er ist heimtückisch, rachsüchtig und verschlagen, traut nur sehr wenigen, fürchtet ständig Verrat. Niemandem wagt er sich anzuvertrauen, schottet sein Herz gegen Mitgefühl und Milde ab, gesteht sich keinerlei Schwäche zu. Selbst in den schlimmsten, den traurigsten Momenten bleiben seine Augen trocken.

    "Sie kennen Goethe. Er ist ja die letzten 20 Jahre ganz, ganz, ganz allein gewesen. Schiller ist 1805 gestorben. Goethe erst '32. In diesen 27 Jahren hat es in ganz Deutschland, in ganz Europa keinen Ebenbürtigen gegeben. Er war auf dem Gipfel des Ruhmes, und ich wünsche keinem Menschen den Gipfel. Wissen Sie, was es auf dem Gipfel gibt: Kälte und Einsamkeit, egal wie der Mensch heißt: Friedrich der Große, George Bush, Dschingis Khan, Newton und Einstein. Wenn sie ganz oben stehen, dann werden sie entweder von allen gefürchtet oder gehasst, und dann können sie zu keinem Menschen Vertrauen fühlen. Dann steht man allein. Das ist jetzt Dschingis Khan gewesen."

    Der Mongolenherrscher begreift schließlich auf dem Totenbett, wie er Furcht und Angst selbst unter seinen Getreuen verbreitete.

    "Seine Stärke ist gewesen, jeder der möglichen Verfehlungen einen Namen gegeben, die dafür passenden Strafen vorweg festgelegt und auf der Kehrseite dieses blutigen und tränigen Schuldteppichs eine strickt begrenzte und streng bewachte Freiheit auf Grundlage eines gewissen Vertrauens, gestützt von vielfachen Belohnungen, entwickelt zu haben. Und damit hatte er geglaubt, den Stein der Weisen im Gefilde der Machtführung gefunden und somit jeden hinderlichen Stein aus dem Weg geräumt zu haben. Nun aber sah er ein, dass er einem Irrtum erlegen war, denn Angst im Haupt des Staatskörpers untereinander hat seine Rechnung nicht enthalten."

    Gebannt folgt man seiner Einsicht, dass der Krieg nur Krieg heckt und Leid sät, keinem nutzt, allen schadet, selbst den Siegern. So wird Galsan Tschinags Roman unter der Hand zum furiosen Appell für ein friedliches Zusammenleben der Völker, auch wenn der Wunsch des Dschingis Khan, sein eher sanftmütiger, drittgeborener Sohn möge eben diesen Frieden bringen, nicht in Erfüllung geht. Im Epilog heißt es:

    "Das große, durchgedrillte Mongolenheer überschwemmte den asiatischen Erdteil in alle Himmelsrichtungen. Das Kriegsgerät betätigte sich, einmal zusammen- und in Bewegung gesetzt, tatsächlich von selbst."

    Dem Wein verfallen starb der Nachfolger früh. So wurde Europa nach der Niederlage bei Liegnitz nicht überrannt, blieb vor mongolischer Herrschaft bewahrt. Andere Herrscher kamen, nicht weniger grausam und gewalttätig. In Dschingis Khan erkennen wir sie alle wieder. So wird der lebenssatte Roman bei aller Exotik zur Parabel der Macht und ihres Missbrauchs. Solch spannende Geschichtsstunden haben Seltenheitscharakter: ein in jeder Hinsicht fantastischer Roman.

    Galsan Tschinag: Die neun Träume des Dschingis Khan
    Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2007
    252 Seiten, 18,30 Euro

    Galsan Tschinag: Auf der großen blauen Straße
    Union Verlag, Zürich 2007
    157 Seiten, 14,90 Euro