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Arabische Welt
Abschied vom Islam?

Immer mehr Menschen in der arabischen Welt bezeichnen sich als „nicht religiös“. Das hat eine Studie der Universität Princeton im Auftrag der BBC ergeben. Auch das Vertrauen in religiöse Autoritäten und islamistische Bewegungen ist demnach drastisch gesunken.

Von Christian Röther | 23.07.2019
Blick auf die Koutoubia-Moschee in Marrakesch, vom Platz Djemaa el-Fna aus gesehen
Abkehr von religiösen Normen? Abenddämmerung vor der Koutoubia-Moschee in Marrakesch, Marokko (imago images / Richard Wareham)
Forscherinnen und Forscher der Universität Princeton sind in der arabischen Welt von Tür zu Tür gegangen. Im Auftrag des britischen Rundfunks BBC haben sie insgesamt 25.000 Menschen persönlich gefragt, wie religiös sie sind. 13 Prozent haben geantwortet: Ich bin gar nicht religiös. Das ist ein deutlicher Anstieg: Vor fünf Jahren haben das nur acht Prozent gesagt. Und von den jungen Menschen unter 30 sagen heute sogar 18 Prozent, sie seien nicht religiös.
Zahlen, die den Ethnologen Roman Loimeier nicht überraschen. Loimeier leitet an der Universität Göttingen das Forschungsprojekt "Private Pieties" - zu Deutsch: private Frömmigkeiten. Es befasst sich mit dem religiösen Wandel in der islamischen Welt:
"Unser Forschungsprojekt hat beispielsweise auch ergeben, dass wir in Marokko, in Tunesien, in Ägypten, im Libanon, im Iran solche Entwicklungen haben, die gerade bei den Jugendlichen sehr ausgeprägt sind. Es gibt Bewegungen, die sich zum Beispiel ganz deutlich und offiziell präsentieren als Vereinigung der marokkanischen oder der tunesischen Atheisten. Und auch im öffentlichen Erscheinungsbild merkt man in einer ganzen Reihe von Ländern, besonders auch wieder in Tunesien, dass sich die Jugendlichen von religiösen Normen abwenden. In Tunesien sind beispielsweise bei jungen Männern lange Haare inzwischen üblich, Tätowierungen und andere Zeichen, dass man sich nicht mehr religiös definiert."
Jeder dritte Tunesier ist "nicht religiös"
Tunesien fällt in der aktuellen Studie besonders auf – als das Land, in dem die meisten Menschen sagen, dass sie nicht religiös sind: über 30 Prozent. Damit hätte sich die Zahl der Religionsfreien in Tunesien in den vergangenen fünf Jahren verdoppelt. Der Soziologe Mounir Saidani schaut allerdings ein wenig skeptisch auf diese Zahlen. Saidani ist Professor an der El Manar Universität in der tunesischen Hauptstadt Tunis.
Die Frage sei falsch gestellt, meint Saidani. Das Wort "religiös" würden viele Menschen in der arabischen Welt mit Politik in Verbindung bringen. Und weil sie sich mit den politisch-religiösen Bewegungen nicht identifizieren, würden die Befragten sagen, sie seien nicht religiös. Aber würde man stattdessen fragen: Glauben Sie an Gott? Dann würden 99 Prozent "Ja" antworten, meint der Soziologe.
Dann wäre das in erster Linie eine Abwendung von der institutionalisierten Religion. Und das gelte nicht nur für Tunesien, sondern auch für die übrigen arabischen Länder.
"Keine Studie ist perfekt"
Befragt wurden in der aktuellen Studie Menschen aus insgesamt elf Ländern: neben Tunesien auch aus Marokko, Algerien, Libyen, Ägypten, Sudan, den Palästinensergebieten, Jordanien, Libanon und Irak bis hin zum Jemen. Nicht dabei sind Saudi-Arabien und die Golfstaaten. Diese Länder wollten keine unabhängigen Interviews ermöglichen, so die Forscher. Und auch das Kriegsland Syrien ist nicht Teil der Studie. Die Ergebnisse wären in diesen Ländern aber wohl ähnlich ausgefallen, vermutet der Ethnologe Roman Loimeier:
"Syrien beispielsweise war in der arabischen Welt immer schon ein Land, in dem es relativ große Bevölkerungsgruppen gegeben hat, die sich nicht als religiös definiert haben. Und auch in Saudi-Arabien haben sich in den letzten Jahren erstaunliche Entwicklungen ergeben. Es gibt eine ganze Reihe von Dissidenten, die sich auch öffentlich zur Religion äußern – und zwar kritisch. Und das ist in dieser Studie eben noch nicht berücksichtigt. Aber gut: Keine Studie ist perfekt."
Weitgehend deckt sich die BBC-Studie aber mit den Beobachtungen von Roman Loimeier. Zum Beispiel, dass religiöse Führungspersonen in der arabischen Welt massiv an Einfluss verlieren. Laut der Studie sagt nur noch jeder fünfte Befragte, dass er oder sie religiösen Autoritäten vertraut. In vielen Staaten hat sich dieser Wert in den vergangenen Jahren halbiert.
Nur der Jemen wird religiöser
Und auch islamistische Bewegungen und Parteien haben deutlich an Zustimmung eingebüßt - wie die Hamas, die Hisbollah oder die Muslimbruderschaft. Auch ihnen vertraut laut der Studie etwa nur noch jeder Fünfte - auch das ist in etwa eine Halbierung.
Einzige Ausnahme in der Studie ist der Jemen. Gegen den allgemein arabischen Trend steigt hier die Zustimmung für religiöse Autoritäten und islamistische Bewegungen. Und die Menschen geben auch an, dass sie in den vergangenen Jahren religiöser geworden sind. Wie die Studie sieht auch Roman Loimeier die Erklärung dafür im Krieg, der in dem Land seit einigen Jahren herrscht – und in dem Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten:
"Was im Jemen festzustellen ist, ist natürlich eine religiöse Polarisierung oder eine religiöse Radikalisierung auf unterschiedlichen Ebenen, weil es nicht nur eine verstärke Mobilisierung im Nord-Jemen für die sogenannten Huthi-Rebellen gegeben hat, sondern weil es auch in anderen Teilen des Jemen eine vergleichsweise starke Mobilisierung für ganz radikale islamistische Bewegungen gibt, die gegen die Huthi kämpfen. Von daher findet im Jemen die Auseinandersetzung um die Zukunft des Staates eben auch sehr stark auf einer religiösen Ebene statt. Und deswegen ist es nicht erstaunlich, dass religiöse Fragestellungen sich anders entwickelt haben als in anderen Ländern der Region."
Die entwickeln sich derzeit offenbar weg von der Religion. Doch diese Entwicklung muss in den kommenden Jahren nicht zwangsläufig so weitergehen, meint der Göttinger Ethnologe Roman Loimeier:
"Das Religiöse nimmt derzeit in gewissen Formen an Gewicht ab, und kann aber in einer paar Jahren in anderen Formen, in anderen Gestaltungen wieder zurückkommen. Das müssen nicht die gleichen sein wie heute. Was im Moment beispielsweise zu beobachten ist, dass es einen deutlichen Trend hin zu einer Individualisierung der Gesellschaften gibt in dieser Region, und dass Individualisierung aber auch bedeutet, dass sich die Menschen nicht nur ins Private zurückziehen, sondern auch ins Spirituelle."
"Hinwendung zu Yoga und Buddhismus"
Entwicklungen, mit denen sich Roman Loimeier und sein Team in ihrem Forschungsprojekt befassen – zum religiösen Wandel in der islamischen Welt:
"Es gibt ganz erstaunliche Entwicklungen in diesem Bereich, die in der westlichen Analyse noch kaum erfasst werden. Beispielsweise eine Hinwendung zu Yoga-Kursen. Eine Hinwendung zu Buddhismus. Auch eine Hinwendung zu New-Age-Bewegungen in vielen Ländern der Region, die zum Teil zehn, 20 Prozent der Bevölkerungen - insbesondere in den Mittelschichten in den urbanen Zentren - erfassen."
Dass immer mehr Menschen in der arabischen Welt sagen: Ich bin nicht religiös – das muss also nicht bedeuten, dass Religion aus der Region verschwindet. Auch der tunesische Soziologe Mounir Saidani glaubt, dass die Menschen schon bald wieder ganz anders antworten könnten, wenn sie nach ihrer Religion gefragt werden.
Was sich aber sicher sagen lässt: Es gibt einen Trend weg vom politisierten Islam, hin zur mehr Individualität. In der arabischen Welt ist in Sachen Religion einiges in Bewegung.