Dienstag, 23. April 2024

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Aralsee in Kasachstan
Früher ein gewaltiges Meer

Der Aralsee zwischen Kasachstan und Usbekistan war mal so groß wie Bayern und gab vielen Fischern Arbeit. Durch Eingriffe des Menschen schrumpfte er auf ein Zehntel seiner Fläche und versalzte stark. Erst seit dem Bau des Kokaral-Damms kehrt das Wasser zurück - und mit ihm Hoffnung für die Menschen.

Von Franz Lerchenmüller | 23.09.2018
    Rostende brachliegende ehemalige Fischerboote am ausgetrockneten Aralsee, Moynaq, Usbekistan, Zentralasien, Asien
    Fischerboot im trockengefallenen Teil des Aralsees (imageBROKER)
    Ein eisiger, verstörender Wind weht heute aus Nordost. Er lässt das schüttere Gras erzittern, treibt ein paar lose Kameldornbüsche vorbei und friert jedem menschlichen Wesen nach zehn Minuten weiße Flecken ins Gesicht. Nazira, Dolmetscherin aus Almaty, liebt diese Landschaft.
    "Wenn wir uns umblicken, sehen wir endlose, wunderbare Steppe. Die Steppe unterscheidet sich von der Wüste, weil sie ein bisschen mehr Vegetation pro Quadratmeter aufweist – Pflanzen, die die Hitze aushalten und lange ohne Wasser auskommen, wie der Kameldorn. Auch ein paar Nagetiere leben hier, Wölfe und die Saigá-Antilope."
    Auf der mal weiß-, mal schwarzgrauen Erde wachsen Gräser, staubige Wermutbüsche und dornige Sträucher. Darüber wölbt sich eine flache, hellblaue Halbkugel, und ab und an zieht ein Adler seine Kreise.
    Wenn Nazira über die Steppe nachdenkt, kommt immer eine Liebeserklärung heraus – in Russisch.
    "Die Steppe ist wie unser Gemüt. Sie kann sehr heiter sein, aber auch traurig oder zornig. Im Frühling haben wir die fröhliche Steppe, mit viel Grün, und bunten Blumen. Mitten im Sommer wird sie braun, tief verbrannt von dieser stechenden Sonne. Und im Winter dann der Schnee, die eisigen Winde, die heftige Kälte."
    Rostendes Schiff in einem bereits ausgetrockneten Abschnitt des Aral-Sees, Aralsk, Kasachstan, Zentralasien, Asien
    Rostendes Schiff in einem ausgetrockneten Abschnitt des Sees (imageBROKER)
    Über diese weiten Ebenen sind die kriegerischen Horden Tamerlans und Dschingis Khans galoppiert. In dieser unwirtlichen Landschaft entstanden die kriegerischen Heldenlieder des Landes.
    Genau hier, wo der Fuß knirschend durch eine dünne Kruste aus Salz in den Sand bricht, pflügten Welse einst den Grund nach Muscheln um. Und Zander jagten kleine Brassen. Denn genau hier schwappte noch vor 50, 60 Jahren ein gewaltiges Meer, das leicht salzig schmeckte und etwa so groß war wie Bayern: der Aral-See.
    "Früher war der See riesig, heute ist er wkinzig"
    Ab den 1930er-Jahren wurde den beiden Flüssen, die ihn speisen, immer mehr Wasser entzogen und auf die neuen Baumwollplantagen umgeleitet. Das führte zum Desaster. Ab den 60er Jahren-begann der See zu schrumpfen und irgendwann blieben nur noch zwei Restflächen übrig. 2014 umfassten die beiden zusammen nur noch ein Zehntel der einstigen Größe.
    Direkt am Nordufer des Kleinen Aralsees liegen noch drei durchgerostete Schiffswracks mit klapprigen Aufbauten. Vogelkot sprenkelt die schrundigen Platten, am schwarzen Schornstein verblassen Hammer und Sichel.
    Ein grauer Kleinbus parkt gleich daneben, Männer in speckigen Overalls begrüßen die Fremden.
    "Ich heiße Voladlov, das ist Jirzac und der da Brigadenführer Bikaidir."
    Voladlov, Jircac, Sergej und Bikaidir wehren der beißenden Kälte mit einer Flasche Wodka und trauern alten Zeiten hinterher.
    "Früher war der See riesig, heute ist er winzig. Wir sind hinausgefahren mit großen Schiffen wie dem hier, das da vor sich hinrostet. Und dann war das Netz voll bis obenhin – man brauchte den Kran, um es hochzuziehen. Heute ist der See nur noch eine Pfütze."
    Karten des Aralsees, einst des viertgrößten Sees der Welt, für die Jahre 1960 und 2015
    Karten des einst viertgrößten Sees der Welt für 1960 und 2015 (picture alliance / Xinhua/Sadat)
    Leicht brackig war der See schon immer gewesen. In den 80er-Jahren aber nahm der Salzgehalt dramatisch zu. Die meisten Fischarten starben aus. Die Fischerei, die Zehntausenden Lohn und Brot gegeben hatte, kollabierte.
    Aber die Zeiten haben sich wieder geändert – und ganz so schlecht sieht es wohl nicht aus.
    "Wir hatten große Schiffe und große Fabriken. Heute fahren zwei, drei Leute zusammen hinaus, in kleinen Booten wie dem Royal Mariner. Und wir fangen Zander, Karpfen, Flunder."
    Es gibt also Fisch. Wird er dann auch hier vor Ort verarbeitet?
    "Wir leben in Kasachstan, Mann – da gibt es so was doch nicht! Wir verkaufen den Fisch nach Russland, die packen ihn dann in Dosen. Wir sind auch nur Hobbyfischer, leben sonst von dem, was so anfällt: Jobs auf dem Bau, Taxifahren und so."
    Der Schriftsteller Tschingis Aitmatow schrieb einmal über einen Goldenen Fisch, den es im Aral-See geben soll. Haben sie je davon gehört?
    "Der goldene Fisch ist so tot wie Tschingis Aitmatow. Weißt du, was unser Goldener Fisch ist? Der Zander. Den fangen wir und verkaufen ihn nach Europa. Italien, Frankreich, Dollars, Dollars..."
    "Es gibt wieder Fisch – dank dem Staudamm"
    Es geht weiter durch die Steppe. Hin und wieder stehen braune, zottige Kamele in der Gegend herum, als hätte ein Händler sie schon vor Jahrhunderten am Rand der Seidenstraße vergessen. Aber sie alle haben einen Besitzer, erklärt Busfahrer Baha.
    "Bei uns hält man die Kamele entweder direkt beim Haus oder frei auf der Steppe, dann muss man allerdings einen Hirten bezahlen. Man nutzt ihre Wolle, die Milch und das Fleisch. Aus der Milch machen wir Schubat, ein frisches, leicht alkoholisches Getränk. Kürzlich haben wir ein Kamel geschlachtet – das ergab 380 Kilo schieres Fleisch. Das meiste behalten wir selbst, einen Teil aber verkaufen wir auf dem Markt. Das Kilo bringt 1.200 Tenge, etwa 3,40 Euro."
    Neu-Akespe liegt direkt am See, eine Reihe wie mit dem Lineal ausgerichteter Häuser mit Blechdächern. Malina, die Englischlehrerin der Schule, lädt zum Imbiss. Es gibt Bratfisch. Malinas Mann ist Fischer. Eine gute Wahl, findet sie.
    "Die Fischer verdienen jetzt gutes Geld, denn es gibt wieder Fisch – dank dem Staudamm. Alle Männer hier im Dorf sind Fischer. Im Sommer frieren sie den Fisch ein, im Winter wird er gleich weitertransportiert. Hierher zu ziehen, war eine gute Entscheidung – die meisten haben jetzt neue Häuser gebaut."
    Der Kokaral-Damm wurde 2005 fertiggestellt. Er verhindert, dass Wasser, das sich in den Kleinen Aralsee ergießt, gleich an anderer Stelle wieder abfließt. Nach der Fertigstellung stieg der Wasserspiegel schneller als gedacht und hat jetzt die Dammkrone erreicht. Der Salzgehalt normalisierte sich, Fische kehrten zurück.
    Aralsk lag einmal direkt am Aralsee. Nach Eingriffen durch den Menschen zog sich das Wasser kilometerweit von der Hafenstadt zurück und kehrt erst langsam zurück.
    Die Hafenstadt Aralsk lag einmal direkt am See (picture alliance / dpa / Ulrich Baumgarten)
    Dank des Damms hat auch Aralsk wieder Hoffnung. Die Stadt im Nordosten war einst das Oberzentrum des Sees. Es gab eine Seefahrtsschule, ein Theater, eine Reparaturwerft und Fischfabriken. 60.000 Menschen aus der ganzen Sowjetunion fanden Arbeit. Im kleinen Museum leben die großen Zeiten noch einmal auf. Ein Wandbild zeigt Fischer im Ölzeug, die ihr Boot bis zur Oberkante mit Stör und Lachsen füllen. Der Museumswärter holt alte Fotos heraus.
    "Hier, dieses große Schiff kam aus der Werft in Artalsk. Jetzt ist alles kaputt, die Leute holen das Eisen aus der Steppe und verkaufen es als Schrott."
    Dann erklärt er einen klobigen Schreibtisch und die Bilderreihen darüber.
    "1925 wurde die Fischfabrik eröffnet. Dieser Schreibtisch hier hat von 1925 bis 1989 16 Direktoren kommen und gehen sehen.
    Und die Fotos darüber – das sind die Helden der Arbeit aus all diesen Jahren."
    Der Hafen direkt vor der Tür ist ein trauriger Schatten seiner einstigen Bedeutung. Rund um ein weites, schlammiges Becken reihen sich verfallende Hallen, die stählernen Gerippe zweier Ladekräne ragen in den grauen Himmel wie die sterbenden Zeugen einer untergegangenen Zeit.
    Bald soll Aralsk wieder am Aralsee liegen
    Doch dieses Heute ist jetzt eigentlich schon wieder ein Gestern, verkündet Aina Baymahanova in fröhlichem Optimismus. Die Mittvierzigerin ist Vorsitzende von "Aral Tenizi", einer Hilfsorganisation aus Europa und Japan.
    "1986 kam eine dänische Delegation hierher an den Aralsee. Es war die Zeit, als der See sich zurückzog und das Leben der Leute total auf den Kopf gestellt wurde. Alle Jobs, die irgendwie mit dem See verbunden waren, fielen weg: Auf den Fähren, in der Werft, den Fischfabriken und den Reparaturwerkstätten. 1996 wurde das Wasser dann so salzig, dass nur noch Flundern überlebten. Um die zu fangen, braucht es aber eine besondere Ausrüstung. Die hatten die Leute hier nicht. Und deshalb kümmerten sich die Dänen darum."
    2006 führte Japan die Arbeit von Aral Tenizi weiter und engagierte sich beim Bau des Damms – mit Erfolg.
    "Das Leben der Leute hat sich deutlich verbessert. Der Kleine Aralsee ist heute in 18 Segmente aufgeteilt und dafür werden Konzessionen vergeben. 2.000 Männer arbeiten wieder als Fischer. In nahegelegenen Seen wurden Fischzuchtanlagen angelegt, die Fischer finden wieder 23 verschiedene Arten in den Netzen. Der Fisch, vor allem Zander, wird gefangen und filetiert und heute sogar bis nach Europa und anderswo exportiert, nach Dänemark, Deutschland, Kirgisien, Georgien..."
    Dabei soll es nicht bleiben. Etwa 110 Mal 80 Kilometer misst der See heute an der längsten bzw. breitesten Stelle. Aber er soll noch wachsen.
    "Sie haben es mit dem Damm geschafft, den Wasserspiegel wieder auf 49 Meter zu heben, das Wasser steht ganz oben. Jetzt muss man entweder den Damm erhöhen oder einen neuen bauen."
    Also werden die Besucher, wenn sie in drei, vier, fünf Jahren zurückkommen, diese Stadt nicht wiedererkennen, Frau Baymahanova?
    "2019, 2020 soll der See zurück nach Aralsk kommen. Noch ist er 35 Kilometer weit weg – aber das ändert sich. Auf dem See werden wir dann Aquakultur betreiben und Fisch in großem Stil züchten – nichts ist unmöglich."
    Sagt sie, und blickt auf die verrosteten Kräne, als wären diese bereits nostalgische Denkmäler einer abgeschlossenen Vergangenheit.