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Archäologie der Begriffe

Experten sind, nach einem bösen aber wahren Wort von Chesterton, Menschen, die immer mehr über immer weniger wissen. Meist klingen sie daher, sowie sie ihren Fachbereich verlassen, wie Stammtischphilosophen: Die Feuilletons selbst seriöser Zeitungen quellen über - in Krisenzeiten ganz besonders - von derlei priesterartigem Geschwätz. Ähnlich wie schlichtere Gemüter ihren Arzt um allgemeine Lebenshilfe bitten, obwohl der doch nur über Hals und Mund und Nase etwas weiß.

Von Eike Gebhardt | 27.05.2004
    Gerade unter Sozialwissenschaftlern ist die Versuchung groß, sich zum Trouble-Shooter der Gesellschaft küren zu lassen. Der weltweit hoch renommierte Ägyptologe Jan Assmann erfuhr das umgekehrte Schicksal: Seine vorsichtigen Andeutungen eines bis in unsere Tage, bis in unser Bewusstsein hinein weiter wirkenden archaischen Erbes hat ihm oft wütende, ja verächtliche Kommentare von Kollegen eingetragen. Da niemand Assmann unseriöse Argumentationsweisen, geschweige dubiose Methoden nachsagen kann, muss es wohl an den Schlussfolgerungen selber liegen, die einen Teil der Zunft erzürnt haben. Assmann präsentiert einige fairerweise im Anhang seines jüngsten Bandes, der noch einmal mehrere Stränge seines Lebenswerks zusammenfasst.

    Die mosaische Unterscheidung des Titels nun ist kein einmaliger Akt einer historischen Figur, "sondern eine regulative Idee, die ihre weltverändernde Wirkung über Jahrhunderte und Jahrtausende hin in Schüben entfaltet hat", schreibt Assmann. Sie beschreibt den Übergang von örtlichen polytheistischen Alltagsreligionen zu den (wie er sie nennt - schon das ein Tort) "sekundären", monotheistischen, möchtegern globalen Offenbarungsreligionen mit ihren kodifizierten Texten und Gesetzen und der strikten "Unterscheidung von wahrer und falscher Religion" - eine überflüssige, ja irrelevante Unterscheidung im Polytheismus.

    Gemessen an diesem Religionsbegriff, erscheinen dann die primären Religionen als defizient, sie kennen keine Orthodoxie, sie heben sich kaum ab gegenüber anderen kulturellen Feldern, und es bleibt in vielen Fällen unklar, wo eigentlich die Grenzen verlaufen zwischen Gottheiten und Naturerscheinungen, herausragenden Menschen oder normativen Prinzipien.


    "Sekundäre Religionen müssen [also] intolerant sein", folgert Assmann und wirft sogleich die logische Folge-Frage auf "wie sie mit dieser ihrer strukturellen Intoleranz umgehen - ein Begriff, der an den der "strukturellen Gewalt" erinnert. Das heißt, es ist keine Frage der humanen Haltung: nein, die Religion selber verbietet Toleranz, denn die Gläubigen "müssen einen klaren Begriff von dem haben, was sie als mit ihren "Wahrheiten unvereinbar empfinden".

    Das ist wohl der neuralgische Punkt, an dem sich Kritiker - natürlich aus dem Lager dieser Sekundärreligionen - mit Verbitterung und Schmäh abarbeiten. Das beginnt schon beim Gottesbegriff selber, polemisiert Assmann:

    Buchtitel wie (...) "Der Götterglaube im Alten Ägypten" sind im Grunde unsinnig, weil die Götter in primären Religionen nicht Gegenstand des Glaubens in dem neuen Sinne eines kontra-evidentiellen ("quia absurdum") Für-wahr-Haltens", sondern Sache einer schlichten und natürlichen Evidenz waren, einer Evidenz, wie sie der Monotheismus ins Reich der Idolatrie und der heidnischen Naturverehrung verwiesen hat.


    Erste Tendenzen lassen sich schon im polytheistischen Ägypten nachweisen, zeigte Assmann in einem frühen Buch: Moses der Ägypter. Die kurze Phase Echnatons zum Beispiel war weithin monotheistisch, der Lichtreligion gewidmet. Und auch Freuds berühmte Moses-Studie suchte ja den Ursprung des Monotheismus in Ägypten - vermutlich genau um den Ursprung der daraus zwangsläufig folgenden Intoleranz nicht in Israel orten zu müssen

    Herrschaft und Heil nannte Assmann daher eines seiner Hauptwerke, und er zeichnet hierin der Tat die Entstehung jener
    "politischen Theologie" nach, die in dieser unserer verspäteten Nation einen bitteren Beigeschmack hat. Dem aufgeklärten Bewusstsein gilt der Begriff als Form der Volksverdummung, als höhere Weihe für niedere Machenschaften: Vom Gottesgnadentum über die unheilige Allianz von Kirche und Staat (Stichwort: Priestertrug) bis hin zum Versuch der Nazis, den Gesetzesbruch mit höheren, heiligeren Gesetzen zu legitimieren, reichen die Strategien. Auch jede Form von Sendungsbewusstsein und Schicksalsdenken, vom Auserwählten Volk bis hin zum Manifest Destiny, grenzt oft an politische Metaphysik. Und nicht nur bei den arabischen Theokraten ist die religiöse Legitimation noch heute üblich; auch westliche Nationen berufen sich, wo die politischen Axiome nicht mehr aus dem Wertkonsens hervorgehen, manchmal ganz unumwunden und verräterisch auf einen Gott, auch wenn jeder Bezug auf eine bestimmte Religion meist vermieden wird. Besonders unter Konservativen ist dieses Denkmodell noch immer weit verbreitet, und nicht nur die deutschen suchen Schützenhilfe bei Meisterdenkern wie Carl Schmitt, der ohnehin die heutigen Bilder und Begriffe vom Staatswesen auf religiöse Ursprünge zurückführt.

    Doch Assmann ging es in seinen früheren Werken, gleichsam spiegelbildlich zu Carl Schmitt, um den Nachweis, dass "einige zentrale Begriffe ... der Theologie ... theologisierte politische Begriffe [sind]", gleichsam um "die Geburt der Religion aus dem Geist des Politischen" - statt nur umgekehrt, wie Schmitt argumentiert. Macht, Schuld, Gerechtigkeit und Solidarität, ja der Begriff des Gesetzes selber, oft auf den primären Gesetzgeber, also Gott, zurückgeführt, waren allesamt politische Prinzipien bevor sie gleichsam religiös kodifiziert wurden - vermutlich zur ideologischen Absicherung. Auf sie beriefen sich noch in der Neuzeit die Herrscher "von Gottes Gnaden". Die wechselseitige Abhängigkeit prägte den Begriff "politische Theologie", die also nicht nur in Theokratien eine Rolle spielt, sondern im ganzen kultischen Bereich der hoheitlichen Rituale.

    Weder das Theologische noch das Säkulare seien etwas Ursprüngliches, vielmehr hätten immer wieder Umbuchungen zentraler Aspekte des Politischen von der Erde in den Himmel - so nennt der Autor diese Gegenbewegung zur Säkularisierung - stattgefunden; dieser scheinbar so natürlichen kulturellen Evolution, der Säkularisierung als Inbegriff des Fortschritts, seien nämlich seinerseits Prozesse der Theologisierung und Sakralisierung staatlichen Denkens vorausgegangen. "Diese Prozesse deuten sich zum Teil in Ägypten schon an und kommen dann in Israel zum Durchbruch, und zwar in polemischer Abgrenzung zu Ägypten. Alle Kapitel dieses Bandes beleuchten diese Wende von verschiedenen Seiten her", erläuterte Assmann damals seine Methode. Ägypten war die Hegemonialmacht wie heute US-Amerika, und auch damals versuchten sich kleinere Gemeinwesen abzugrenzen. Der Kult und Körper Gottes in Gestalt des Pharaoh fand seinen Gegenspieler im kleinen Israel, das den Gott gleichsam in die Transzendenz abschob samt dem Verbot, sich ein Bild von ihm zu machen. Dieser Gott schloss einen Bund mit seinem Volk - und schon haben wir das Urbild des Vertrags. Der war zwar primär religiös, doch aus genau diesem Grunde trennten die Juden das säkulare vom religiösen Gesetz. Dieses - das religiöse Gesetz - war damit nicht etwa ein Rückschritt, sondern geradezu modern, progressiv und emanzipatorisch. Denn während in weltlichen Belangen die Herrschaftsverhältnisse das Recht im Sinne der Herrschenden deuteten und anwendeten, waren vor dem religiösen Gesetz alle gleich, Könige und Minister inklusive. Die Religion als Vorbote der Aufklärung, das alte Israel bzw. Palästina als Wiege der Demokratie?

    Die Tatsache, dass Gott mit seinem Volk einen Bund schloss, also ein Vertragsverhältnis einging, sei einmalig in der Geschichte der Religionen wie der Politik - kopiert, ganz unverkennbar, vom "politischen Modell des Staatsvertrags", argumentierte Assmann seinerzeit. Diese 'Theologisierung des Politischen' habe die damalige Welt ebenso fundamental revolutioniert wie in der Neuzeit die Säkularisierung des Theologischen - und einen bestimmten Religionstypus begründet.

    Im alten Israel wurde daher "ein Denkraum erschlossen, der alternative Optionen politischer Ordnung zur Diskussion stellt" - laut Assmann das Markenzeichen politischen Denkens überhaupt. Und das gilt auch für den ethischen Bereich - schließlich bildete sich schon damals eine Art "Schuldkultur" heraus - sie fügt der herrschenden Gegenwartsorientierung Vergangenheit und Zukunft an, begünstigt das Gedächtnis und damit das Gewissen und damit die ersten individualistischen Tendenzen. Hinfort war unser Bild von Ägypten nicht mehr dasselbe - und auch nicht unser Selbstverständnis über die Entstehung des modernen Individualismus.

    Assmann schreibt keine Action-Geschichte, kein Alltagsgeschichte, keine Genealogien und auch keine Mentalitätsgeschichte: Vielmehr eine Art Sinngeschichte, die gleichsam aus den Sinnzusammenhängen, ja den kulturellen Axiomen unserer Gegenwart zu den Ursprüngen dieser Vorstellungswelten und Begriffswelten vorzudringen sucht. Assmann selbst nennt sein Verfahren Mnemohistorie - sie erforscht, wie Manfred Schneider es beschreibt, "das Diskursgedächtnis der Kulturen" - und dazu gehören alle Orientierungsmarken, von Ikonen zu Begriffen - und viele davon überleben als Mutanten der Ideengeschichte, erscheinen als hochmoderne Produkte der Aufklärung oder einer angeblich kühnen konservativen Revolution - und sind doch meist nichts als archaische Schnipsel politischer Theologie. Sie daraufhin zu hinterfragen, ist ein Leitmotiv in Assmanns Lebenswerk: Er demaskiert politische Schein-Axiome, und deren Missionare reagieren, man kann's verstehen, empört ob ihrer Nacktheit. "Wenn man nach den psychohistorischen Konsequenzen des Monotheismus fragt, zählt nicht, wie es eigentlich gewesen ist, sondern wie es erinnert und warum es erzählt wurde," entgegnet Assmann ruhig.

    Letztes Jahr wurde Assmann, der weltweit bekannteste Ägyptologe überhaupt, dem es gelang, aus seinem Orchideenfach eine führende Kulturwissenschaft zu machen, glanzvoll emeritiert. Zu unserem politischen Selbstverständnis hat er wohl mehr als mancher Soziologe, Politiker und Psychologe beigetragen.

    Jan Assmann
    Die mosaische Unterscheidung
    Hanser, 286 S., EUR 19,90