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Archäologie der "Nouvelle Vague"

Der 1928 in Rouen geborene Filmemacher Jacques Rivette gilt als Mitbegründer der "Nouvelle Vague". Zu seinen bekanntesten Filmen gehören "Die schöne Querulantin" mit Emmanuelle Béart und Michel Piccoli oder "Die Geschichte von Marie & Julien". Diese beiden Filme sind auch Gegenstand der neuen DVD-Edition Jacques Rivette, die das kleine deutsche Label "Flaxfilm" gerade herausgebracht hat.

Von Josef Schnelle | 02.01.2007
    "Die einzige wahre Kritik an einem Film kann nur ein anderer Film sein." schrieb Jacques Rivette Mitte der 60-er Jahre. Da war er noch Redakteur der legendären "Cahiers du Cinema", hatte aber schon seine ersten Filme gedreht. Keiner verkörpert wie er die "Nouvelle Vague", die neue Welle des Französischen Kinos, mit der damals ehemalige Filmkritiker wie Francois Truffaut, Claude Chabrol und Jean-Luc Godard das europäische Kino revolutionierten.

    Jacques Rivette arbeitete sechs Jahre lang für das Zentralorgan des Autorenkinos. Der heute 78jährige wurde schließlich einer der wichtigsten Regisseure, manche sagen der wichtigste, der europäischen Kunstkinos. Nun kann man denken, Filmgeschichte? Die kriegt man doch komplett in jeder Videothek. Erst wenn man weiß, dass viele wichtige Werke der Geschichte der ein wenig mehr als hundert Jahre alten siebten Kunst, verschwunden, verschollen, jedenfalls keinesfalls allgemein zugänglich sind, kann man die verlegerische Großtat ermessen, die mit der Herausbringung einer kleinen Edition der Schlüsselwerke des Meisterregisseurs aus Rouen vollbracht worden ist. Im Zentrum Rivettes Film über das Geheimnis des künstlerischen Ausdrucks. Am Ende von die "Die schöne Querulantin" spricht daher der Maler Frenhofer somit auch im Namen des Filmkünstlers.

    "Frenhofer: "Es ist vielleicht nicht der angenehmste Augenblick für mich. Ich ertrage den Gedanken nur schwer, dass etwas zu Ende geht. Sie haben vielleicht etwas anderes erwartet Marianne. Ich auch in gewisser Hinsicht. Ein fertiges Bild, das ist ein bisschen wie ein Neugeborenes. Man braucht ein bisschen Zeit, zu verstehen, was es ist, was es sein wird. Hier ist es. Ich habe keine Zeit mehr""Die schöne Querulantin" - fast vier Stunden lang - war 1991 die Sensation des Filmfestivals von Cannes und auf dem Abspann tauchte eine ungewöhnliche Funktionsbezeichnung auf: Die Hand des Malers. Die gehört in dem Film über den Schaffensprozess eines Frauenaktes dem bekannten bildenden Künstler Bernard Dufour. Den besessenen Maler spielt im Film aber Michel Piccoli, der aus seinem Modell Emmanuelle Beart, die Wahrheit buchstäblich herausknetet. Sie muss sich verrenken, unbequeme Posen einnehmen, Licht auffangen und Schatten aushalten bis schließlich etwas auf der Leinwand zu sehen ist, das sie erschrecken lässt. Frenhofer präsentiert seinem Galeristen und Gästen ein anderes Bild, ein Bild in sanftem Blautönen. Das wahre Gemälde hat er eingemauert. Nur eine Ecke bekommen wir zu sehen, als die Abdeckung kurz verrutscht. Da leuchtet etwas in düsterem Höllenrot. Nur eine rund zweistündige Kurzfassung, die Rivette "Divertimento" bezeichnete und die zwar dieselbe Geschichte erzählt, doch keine der Einstellungen der Langversion noch einmal verwendet, kam damals regulär ins Kino.

    Beide Varianten - zwei eigenständige Filme lang und kurz - sind nun in dieser Edition in deutscher Fassung zugänglich, was allerlei Vergleiche herausfordert, die man im Kino nicht ziehen konnte. Auch die Frage: Was ist eigentlich eine schöne Querulantin wird gleich mehrfach beantwortet.

    ""Warum nennen Sie es: Die schöne Querulantin?" - "Einfach so. So nannte sich eine Kurtisane aus dem 17ten Jahrhundert. Catherine Lescaut. Sie führte ein verrücktes Leben. Ich las ihre Geschichte und bekam plötzlich Lust, das Bild zu malen. Ich hab's vor mir gesehen. Es war drei Uhr morgens. Ich konnte nicht schlafen."

    Eine schöne Querulantin ist natürlich auch Marianne, in deren Rolle Emmanuel Beart, nackt, verführerisch, verletzlich, dennoch mit abstrakter zurückgehaltener Erotik ihren Durchbruch feierte. Sie wurde mit diesem Film auch Teil der Rivette-Familie, der ständigen Mitarbeiter und Schauspieler, auf die der französische Regisseur immer wieder zurückgreift. Wie Bulle Ogier, die den Film Rivettes über die Schauspielkunst "La Bande des Quatre - Die Viererbande" prägt. Ausführlich mit Zusatzmaterial versehen ist "Marie und Julien", Rivettes Film über das Mysteriöse des Kinos und die Kraft der Liebe, die selbst Tote zum Leben erwecken kann. Emmanuel Beart ist Marie aus dem Zwischenreich zwischen Leben und Tod. Sie muss wach bleiben, um ins Leben zurückkehren zu können. Halt mich vom Schlaf ab, flüstert sie.

    "Empeche moi dormir"