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Architektur-Festival in Brüssel
Speisezimmer groß wie ein Haus

Während in Deutschland in diesem Jahr der hundertste Geburtstag des Bauhaus gefeiert wird, besinnt sich Belgien auf Art Nouveau und Art Déco. In Brüssel stehen unzählige Gebäude dieser Stilrichtungen. Das BANAD - Festival macht viele davon erstmals der Öffentlichkeit zugänglich.

Von Alexander Moritz | 19.03.2019
Art Nouveau - Architektur im Brüsseler Stadtteil Ixelles
Art Nouveau - Architektur im Brüsseler Stadtteil Ixelles (Alexander Moritz)
Wer mit Beatrice Bertrand ihr Treppenhaus betritt, muss unwillkürlich nach oben schauen. Buntes Licht fällt durch das farbenprächtige Glasdach – dutzende Scheiben aus türkisem, gelben und blassrotem Glas formen ein blütenförmiges Motiv. Vor wenigen Jahren erst hat Bertrand das Kunstwerk renovieren lassen.
Beatrice Bertrand: "In einem Winter ist wohl das Schutzglas darüber unter der Schneelast eingebrochen. Als wir das Haus gekauft haben, waren in den farbigen Schmuckgläsern lauter kleine Löcher von den Scherben."
Griffe und Gitter wie Blätter und Äste
Inzwischen sieht das Glasdach der Maison Vizzanova wieder wie neu aus – bereit für die neugierigen Blicke der Besucher des BANAD-Festivals. Erbaut wurde das dreistöckige Gebäude 1907 vom Art Nouveau-Architekten Paul Vizzanova. Wie viele Häuser in Brüssel nur sehr schmal, fallen an der steinernen Fassade doch sofort die typischen Art Noveau-Elemente auf: Fenstersimse, Balkongitter und auch der Griff der Haustür erinnern mit ihren geschwungenen Linien an Blätter und gebogene Äste.
Glasdach in der Villa Vizzanova in Brüssel
Kunst am Bau: Das Glasdach in der Villa Vizzanova (Alexander Moritz)
Solche Details sieht man an vielen Häusern hier im Stadteil Ixelles – bekannt für seine zahlreichen Art Nouveau-Bauten. Noch immer ist der Luxus der damaligen Zeit spürbar. Ihr Speisezimmer ist wohl so groß wie andernorts in Brüssel das ganze Haus, scherzt Bertrand.
Beatrice Bertrand: "Das Speisezimmer ist größer als die meisten Häuser in Brüssel"
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Brüssel die Hauptstadt einer der größten europäischen Industrienationen. Die Kohle- und Stahlwerke in Wallonien machte die belgischen Industriellen reich - ebenso wie die brutale Ausplünderung der damaligen Kolonie Kongo.
Radikal neue Formensprache
"Das heißt auch, dass viele Neureiche nach Brüssel gekommen sind. Das waren keine Adligen, sondern Bürger und die wollten natürlich etwas anders machen, nicht das Gleiche wie die Adligen bauen lassen. Die brauchten ihren eigenen Stil, Art Nouveau und Art Déco später dann." Erklärt Maika Janssens, eine der Organisatorinnen des Festivals.
Um die Jahrhundertwende experimentierten Architekten mit neuen Baustoffen: Stahlgerüste erlaubten es, bisher unvorstellbar große, lichtdurchflutete Räume zu konstruieren. Gleichzeitig griffen sie die Sehnsucht vielr wohlhabender Stadtbewohner nach der Natur auf, indem sie florale Muster und scheinbar natürlich fließende Formen entwarfen.
Dass der Art Nouveau mit seiner radikal neuen Formsprache gerade in Brüssel auf so große Begeisterung stieß, dafür hat der Kunsthistoriker Gaspard Giersé noch eine andere Erklärung: Es fehlte der damals noch jungen belgischen Nation schlicht an architektonischen Vorbildern.
Gaspard Giersé: "Man war sehr offen für neue, alternative Formen in der Architektur, weil Belgien ein etwas merkwürdiges Land war, das keine einheitliche Identität hatte, sondern mehrere, die nebeneinander bestanden. Das schafft künstlerischen Freiraum, auch heute noch."
Wintergarten im "Maison Pelgrims"
Zurück zur Natur: Wintergarten im "Maison Pelgrims" (Alexander Moritz)
Zurück zur Natur
Während der Weltkriege kaum zerstört, lässt sich in Brüssel an den Gebäuden besonders gut ablesen, wie sich der Zeitgeist in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wandelte.
Maika Janssens: "Die Idee von Art nouveau ist, dass man zurück zur Natur geht und einen ruhigen Platz findet. Nach dem ersten Weltkrieg denkt man, diesen Platz steht nicht mehr und kann nicht mehr gebaut werden. Deswegen hat der Art Déco-Stil sehr viele Rechtecke und sehr geometrische Formen."
Bis Ende März öffnen rund 40 Gebäude an den Wochenenden ihre Türen – eindrucksvolle Privatvillen, wie das Hôtel Solvay mit seinem imposanten Treppenaufgang im Inneren, erbaut von Victor Horta, dem wohl bekanntesten belgischen Architekten dieser Zeit. Aber auch öffentliche Gebäude, wie die Art-Déco-Kirche Sainte-Suzanne.
Ein Rundgang beschäftigt sich allein mit Aufzügen, meist prächtig verzierte Stahlkäfige, die in den 20ern erstmals in großem Stil verbaut wurden. Wegen neuer Sicherheitsvorschriften bedroht, hat sich inzwischen eine Initiative gegründet, um die Brüsseler Aufzüge zu retten. So ein Bewusstsein für das architektonische Erbe – in Brüssel war es nicht immer so ausgeprägt. Besonders in den 60er und 70er Jahren wurden viele alte Gebäude abgerissen.
Die Wunden der "Brüsselation"
Maika Janssens: "Das ist etwas, was man "Brüsselation" nennt. Das heißt, dass ein sehr modernes Gebäude neben einem Gebäude der Siebziger neben einem Art Nouveau-Gebäude, neben einem neoklassizistischen Gebäude gebaut wurde."
Gaspard Giersé: "Man hat unfassbare Dinge zerstört, etwa das Gewerkschaftshaus "Maison du Peuple" von Victor Horta. Heute ist der Art Noveau aber aus der Schusslinie. Und inzwischen macht die Stadt Werbung damit."
Die scheint zu fruchten: Der Andrang beim BANAD-Festival ist jedenfalls groß, eine Reservierung sehr empfohlen. Ganz billig sind die Führungen nicht: 10 Euro kostet ein Einzelbesuch, ein Ticket für alle Häuser stolze 70 Euro. Einige Führungen gibt es auch auf Deutsch.
Madame Bertrand freut sich, ihr Haus für Besucher zu öffnen. Denn trotz der regelmäßigen Reparaturarbeiten: Hier zu wohnen sei eine Freude.