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Architektur in Rotterdam
Wolkenkratzer statt Windmühlen

Hollands Schmuddelkind hat sich herausgeputzt. Wo einst Seeleute in Hafenspelunken ihre Heuer versoffen, wachsen bis zu 50 Stockwerke hohe Wohntürme in den Himmel. Rotterdam, Europas größter Hafen, zieht immer weiter die Neue Maas hinunter Richtung Meer - und die frei werdenden Flächen nutzen Architekten kreativ.

Von Robert B. Fishman | 30.10.2016
    Blick auf die Erasmusbrücke in Rotterdam
    Blick auf die Erasmusbrücke in Rotterdam (dpa / Marco De Swart)
    Sicherheitshinweise des Kapitäns vor dem Abflug? Wir sitzen in einem quietschgelben Amphibienbus der Splash Tours in Rotterdam. Gleich fährt der Bus in Zeitlupentempo über eine gemauerte Schräge hinunter in ein verlassenes Hafenbecken der Neuen Maas. Für diesen Moment sitzen die Fahrgäste rund eine dreiviertel Stunde im schwimmtauglichen Bus. Für die Fahrkarte haben sie 24,50 Euro bezahlt.
    Nach einer Minuten ist das Spektakel vorbei. Der Bus schwimmt. Ruhig tuckert er durch die träge dahinfließende Neue Maas. Auch so kann man den vielen Platz nutzen, den der fortgezogene Rotterdamer Hafen seiner Stadt hinterlassen hat.
    Weil der Fluss für de riesigen modernen Containerschiffe zu seicht und die alten Hafenbecken zu klein sind, ist Europas größter Hafen die Maas hinunter Richtung Nordsee gezogen. Zurück blieben mehr als 12.000 Hektar ungenutzter Hafenbecken, Industrieflächen, Lager- und Bürohäuser. Eine Erinnerung an die Zeit des großen Rotterdamer Stadthafen und des Schiffbaus liegt an der Halbinsel Katendrecht vor Anker.
    "Hier war das Zimmer von mir. Dieser Raum hier war die Maschinerei.
    Das ist das Zimmer, wo ich geschlafen habe, nachher. Wir haben aber alles weggeholt natürlich. Dort gehen die Fahrstühle nach oben."
    Albertus van't Slot hat 1959 als Hilfsheizer auf der SS Rotterdam angeheuert. Der Dampfer fuhr damals regelmäßig nach New York. Die Besatzung schlief in winzigen Kojen auf dem Zwischendeck. Kontakt zu den Passagieren war verboten.
    Heute führt Albertus Touristen über das letzte in Rotterdam gebaute Passagierschiff. Zwischen manndicken Rohren steht der 72-Jährige mit dem ausladenden weißen Backenbart im Maschinenraum. Er stellt den Steuerhebel auf volle Kraft voraus.
    "Hier wird das Ruder, die Steuerung über das Meer, um deinen Kurs zu machen. Das geht vollautomatisch. Meine Aufgabe war hier, für das erste Mal, hier zu arbeiten, was alles sauber, die Farben."
    1971 stellte die Reederei den Liniendienst nach Nordamerika ein. Die Kundschaft stieg in die nun billigeren Flugzeuge. Die SS Rotterdam wurde zum Kreuzfahrtschiff, bis auch diese Reederei pleite ging. Das Schiff sollte verschrottet werden. Fans der SS Rotterdam gründeten eine Initiative zur Rettung des alten Dampfers. Albertus fuhr mit ein paar Freunden nach Gibraltar, um das Schiff nach Hause zu holen.
    "Und dann kam ich nach Gibraltar. Und habe gesehen, es ist derselbe Platz. Ich war froh, nicht traurig, froh darüber, dass ich das Schiff an dieser Stelle anschauen konnte."
    Nun liegt die SS Rotterdam als Museumsschiff an einem Kai im ehemaligen Maashafen. Einige der rund 2000 Kabinen dienen als Hotel. Die Gäste in den originalgetreu restaurierten Speisesälen unter Relief-Bildern aus der Odyssee und aus den Fabeln Fontaines dinieren.
    In blauer Seemannsuniform führt Albertus Touristen an seinen ehemaligen Arbeitsplatz, über lange Decks, bis hinauf auf die Brücke, wo die Kapitänskajüte, der Funkerraum und das Quartier des ersten Offiziers so aussehen, wie sie die letzten Kommandanten verlassen haben.
    Katendrecht, wo die SS Rotterdam liegt, war einst das Rotlicht- und Seemannsviertel Rotterdams. In den 90er-Jahren verfielen die aus dunklem Backstein gemauerten Reihenhäuser. Inzwischen sind sie renoviert. Architekt Arjen Goojer hat den Umbau und die Sanierung mitgestaltet:
    "Ein Teil der Bewohner konnte während der Renovierung in ihren Häusern bleiben. Einige sind weggezogen. Es war eine Mischung. Jetzt fängt hier die Gentrifizierung an. Die Preise steigen deutlich. Vielleicht ist das sogar gut für die Gegend, weil sich die Bevölkerung mischt. Es gibt Sozialwohnungen und Eigentumswohnungen. Früher war es eine reine Sozialwohnungsbaugegend."
    Am Hafen viele Bauprojekte und kreative Unternehmen
    Am ehemaligen Rijnhaven auf Katendrecht hat Paul Posse in einer der vielen ehemaligen Lagerhallen sein Restaurant eröffnet. An der Wand hängt ein restauriertes schwarzes Fahrrad. Metalllampen spenden gedämpftes Licht. Der bärtige Inhaber mit dem stylischen Kurzhaarschnitt ist Fotograf. Er sammelt klassische Fahrräder, schraubt an einem uralten Minibus, der bald wieder fahren soll, kauft europaweit Fotokunst und serviert Leckereien aus frischen einheimischen Zutaten. Sein Opa war Hafenarbeiter. "Er hat für zehn Cent Tageslohn 25 Kilo schwere Säcke auf die Schiffe geschleppt. Zum Überleben brauchte er Erfindergeist." Das, meint Paul, sei typisch Rotterdam. Auf Katendrecht fühlt er sich wohl.
    "Es ist schön, hier zu leben, eine Stadt in der Stadt. Man bekommt hier alles, was man braucht. Ich fahre kaum noch in die Stadt."
    Eine neue Fußgängerbrücke verbindet den Rijnhaven mit der futuristischen Halbinsel Kop van Zuid. Bis weit ins 20. Jahrhundert gingen hier hunderttausende Auswanderer an Bord der Schiffe nach Amerika. "Holland-Amerika Lijn" steht noch in goldener Schrift über dem Eingang des Hotel New York. Der 1927 erbaute Sitz der Reederei, die die Auswanderer in die Neue Welt brachte, ist zum Hotel geworden.
    "Das Besondere hier ist die Geschichte. Das ist kein normales Hotel. Deshalb kommen die Gäste ins Hotel New York."
    Bringt die Rezeptionistin den Flair des Hauses auf den Punkt.
    "Ich denke, die Atmosphäre ist ganz anders als in anderen Hotels. Deshalb arbeite ich hier. Viele Hotels haben so etwas nicht. Das ganze Hotel wurde um diese Geschichte herum gebaut. Deshalb mag ich es."
    Nach dem Zweiten Weltkrieg lag Rotterdams Innenstadt auf der anderen Seite des Flusses in Schutt und Asche. Die deutsche Luftwaffe hatte Rotterdam 1940 bombardiert, während die Niederlande schon kapitulierten. Nach der Befreiung bauten die Rotterdamer eine neue Stadt, statt das Alte zu restaurieren.
    Gino van Veen blickt nachdenklich auf die Wolkenkratzerskyline von Kop van Zuid, die das Hotel New York wie einen winzigen, aus der Zeit gefallenen Würfel erscheinen lassen. Der junge Dichter sitzt gerne hier am Wasser und lässt sich vom Fluss, in dem sich die Wolkenkratzer spiegeln, zu seinen Kurzgeschichten und Gedichten inspirieren.
    "Diese Stadt ist nie fertig und immer in Bewegung, hier ist das neue Herz Rotterdams, auf den Baustellen. Sie floriert, überwindet Grenzen, immer stürmisch. Auf der Erasmusbrücke im Gegenwind hörst Du die Worte des anderen nicht. Genieße den Wind und den Blick auf die Skyline."
    Rotterdam, die Stadt im permanenten Aufbruch, gebiert ständig Neues: Ingenieur Peter von Wingerden will 2017 mitten in einem ehemaligen Hafenbecken den ersten schwimmenden Bauernhof errichten:
    "Wir sind bald bei neun Milliarden Menschen. Da frage ich mich, wie wir all diese Menschen satt bekommen. Unsere einzige Antwort sind immer größere Städte mit noch höheren Gebäude. Das Land betonieren wir immer weiter zu, obwohl wir wissen, dass 70 Prozent der Erdoberfläche aus Wasser besteht, dass die Meeresspiegel steigen. Jeden Tag gibt es irgendwo auf der Welt eine Überschwemmungen und es werden immer mehr. Deshalb haben wir angefangen, komplette schwimmende Städte zu entwickeln."
    40 Kühe werden sich in einem schwimmenden Stall frei bewegen. Ihr Futter wächst auf einem Substrat eine Etage tiefer, gedüngt nur mit der Gülle der Rinder. Ein geschlossener, umweltschonender Kreislauf.
    Auf dem gegenüberliegenden Ufer der neuen Maas hat ein Investor das pleite gegangene Schwimmbad Tropicana gekauft. Er siedelt dort Unternehmen an, die abfallfrei wirtschaften. Ein Recyclingunternehmen renoviert Schwimmhalle und Nebengebäuden mit wiederverwendeten Baumaterialien aus Abbruchhäusern.
    Gründer Siemen Cox züchtet im Keller Austernpilze auf Kaffeeprütt, den er in Cafés und Restaurants einsammelt. Das Kohlendioxid, das die Pilze abgeben, nutzt ein anderer, um essbare Bakterien zu gewinnen. Der Müll des einen dient dem anderen als Rohstoff. Die Zukunft hat in Rotterdam schon begonnen.